Pandemiejahre 2020/21 - Teil 2: Vom Schock zur Gewohnheit
- titanja1504
- 8. Dez. 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Juni 2023
Frühling bis Frühsommer 2020
Am Nachmittag des 16. Juni 2021, also 15 Monate nachdem der bayerische Ministerpräsident den Katastrophenfall aufgrund der Pandemie ausgerufen hat, sitze ich zum ersten Mal wieder wirklich entspannt in der Sonne auf der Terrasse eines Cafés. Die Infektionszahlen sind niedrig, wie mein allmorgendlicher Check der 7-Tage-Inzidenzwerte in Bayern und in meinem Landkreis zeigte. Ich bin außerdem geimpft. Das will ich mit einem großen Stück Torte gebührend feiern.
Dass der Kellner eine Maske trägt, ich meine Maske erst am Tisch ablegen darf, wo ich einen Meldezettel ausfüllen muss, und ein anderer Gast, ebenfalls mit Maske, schüchtern fragt, ob er sich mit 1,50 m Abstand mit an meinen Tisch setzen dürfte, was ihm von mir gestattet, aber vom Betreiber des Cafés abschlägig beschieden wird, tut meiner Euphorie keinen Abbruch. Endlich wieder ein normales Leben! Wirklich? Ist das jetzt normal?! Vor diesem 16. März 2020 wäre das alles lächerlich und absurd gewesen. Einfach undenkbar.
Auf Anfang!
In den Medien konnte man zu Beginn des Jahres 2020 durchaus von dieser neuen Lungenkrankheit in China lesen, die wohl auf einem Tiermarkt in Wuhan vom Tier auf den Menschen übergesprungen sei.
Naja, soll ja vorkommen! Passiert auch nicht das erste Mal! Wird auch nicht das letzte Mal sein!
SARS-Erreger aus der Familie der Coronaviren kennt man ja schon seit 2003. Ärgerlich, pandemieträchtig, aber eine zu bewältigende Bedrohung, mit der die Menschheit wohl leben muss.
Als Ende Januar 2020 in Oberbayern in einem Unternehmen durch eine chinesische Mitarbeiterin erste einzelne Infektionen stattfinden, ist das eine Nachricht, aber noch keine Alarmstufe rot.
Unschuldig wie ein Kleinkind tappte auch ich durch meine scheinbar sichere Welt. Ja, ja, da gibt es ein Virus in China. Hatten wir schon mal. Sars oder so der Name. War da was?
Ich nahm Anfang Februar ohne Arg an einer großen Geburtstagsfeier teil, besuchte meine alte Mutter im Pflegeheim und diskutierte noch am 08. März während eines zweitägigen Aufenthalts bei meiner Freundin, ob wohl im Juni oder im Juli ein Urlaub in Griechenland möglich sein werde. Selbstverständlich fuhr ich zu diesem Zeitpunkt unverdrossen und ungeschützt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, ohne Maske, ohne Desinfektionsmittel und das auch noch stundenlang. Als im Gemüseladen ein älterer Mann die Türklinke nicht anfassen wollte, weil er gehört habe, dass man sich mit diesem Virus aus China infizieren könne, griff ich spöttisch nach der Klinke und hielt ihm demonstrativ die Tür auf. Man kann’s ja wirklich übertreiben!
Wie ich empfanden viele andere auch. Man fuhr Anfang Februar in die Winterferien, entweder in exotische Länder oder zum Schifahren in die bayerischen Alpen oder nach Österreich. Der Wintersportort Ischgl in Österreich wird später zum Synonym für ein Superspreading-Event wie es seinesgleichen sucht. Aber noch glaubt kaum jemand in Gefahr zu sein oder dass sich das alltägliche Leben grundlegend ändern könnte.
Und dann kam dieser besagte 16. März und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mit dem Katastrophenfall und den Ge- und Verboten und meine Welt veränderte sich wie auch meine Haltung. Die Angst, zuerst unbestimmt und diffus, kontrollierte allmählich mein Handeln und ich entwickelte ein ungeheueres Informationsbedürfnis. Je mehr Erkenntnisse ich erlangte, umso größer wurde die Angst und umso größer mein Informationsbedarf. „Ich will nicht ersticken!“, hämmerte es in meinem Kopf. „Wie kann ich das verhindern?“ Mich beruhigte dann allen Ernstes die Aussicht, dass mein durch einen Herzinfarkt geschwächtes Herz vermutlich zuallererst versagen würde und mir das Ersticken erspart bliebe. Ich entspannte mich und beobachtete neugierig das Geschehen um mich herum.
Runterfahren, Drinbleiben, Alleinsein
„Shutdown“, „Lockdown“! Neue Anglizismen, neue Eingriffe in die persönliche Freiheit, eine neue Situation, wie sie die meisten Menschen in Deutschland niemals zuvor erlebt hatten. „Bleiben Sie zu Hause!“, „Treffen Sie niemanden!“, „Halten Sie 2 m Abstand!“ Und „Waschen Sie sich drei Minuten lang die Hände, wenn Sie Kontakt haben mussten!“
Diese Empfehlungen der Virologen wurden in Gesetze gegossen und schränkten nun tatsächlich Grundrechte ein. Aber bei mir, wie auch bei vielen anderen war das Sicherheitsbedürfnis stärker als das Freiheitsbedürfnis und sogar mein sonst übliches Misstrauen trat erst einmal hinter die Angst und die Unsicherheit zurück. Eigentlich eine gefährliche Entwicklung, denn so geht Manipulation. Ich war mir dessen bewusst, wollte auch wachsam sein, kam aber trotzdem immer zu dem Schluss, dass die Maßnahmen notwendig seien und kein politisches Kalkül dahinter stecken würde.
Der Regierung, aber hauptsächlich der Vernunft gehorchen
In meinem persönlichen Umfeld veränderten sich schlagartig Stimmung und Verhalten. Keiner ahnte, wie es weitergehen könnte. Also fuhr mein Ex-Mann und bester Freund, der erst am 15. März von Hamburg nach Naila in Oberfranken gefahren war, um in meiner Zweitwohnung im Haus meines Sohnes zu weißeln, zwei Tage später sofort wieder nach Hause zu seiner Frau. Niemand ahnte, wie sehr unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt würde. Wir hatten Angst, dass es eine Ausgangssperre geben würde, sodass er vielleicht Bayern nicht mehr verlassen könnte, dass die Autobahnen aufgrund von Grenzschließungen in Richtung Polen komplett verstopft und kein Durchkommen mehr sein würde. Da wir alle derartige Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit durch den Staat ja noch nie erlebt hatten, war die Verunsicherung riesengroß.
Im Gegenzug verließ mein Sohn mit seiner Frau am Freitag, den 20. März fluchtartig meine Münchner Wohnung, wo die beiden ein Zimmer während der Arbeitswoche bewohnten. Homeoffice im eigenen Haus in Oberfranken war für ihn eine sehr willkommene Option. Auch sie fürchteten, womöglich München nicht mehr verlassen zu dürfen. So lebten wir nun Tür an Tür in den beiden Wohnungen seines Hauses in Naila. Mein Sohn und meine Schwiegertochter kauften nun zwar für mich ein, hielten sich aber in den kommenden zwei Wochen fern von mir. Man weiß ja nicht, ob im Bus auf dem Weg zur Arbeit oder im Büro nicht eine Infektion stattgefunden hatte, als sie noch in München ahnungslos und ungeschützt herumgelaufen waren.
Der Rest der Deutschen neigte nun zu Panikkäufen. Merkwürdigerweise sah man Menschen mit Unmengen Klopapier in ihren Einkaufswägen, was zu allerlei Witzen in den sozialen Medien führte. Meinem Sohn, der in diesen ersten Tagen der Pandemie Geburtstag hatte, schenkte ich daher auch eine Rolle Toilettenpapier, schön in Geschenkpapier verpackt. Ihn hat’s gefreut und ein Geschenk konnte man eh nirgends kaufen, da die einschlägigen Läden für Geschenke geschlossen waren. Meine Schwiegertochter stellte mir ein Stück von der selbst gebackenen Geburtstagstorte vor die Tür und das war’s dann an Feierlichkeiten in dieser Zeit.
Obwohl ich nun im selben Haus mit meiner Familie lebte, traf ich absolut niemanden. War also völlig allein. Stundenlang las ich jeden Tag die Nachrichten, Einschätzungen und Wissenschaftsberichte. Ich fürchtete, dass ich das Haus meines Sohnes verlassen müsste, weil ich hier nur meinen Zweitwohnsitz angemeldet hatte. Wären die beiden Wohnsitze in unterschiedlichen Bundesländern wie beispielsweise in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern gewesen, hätte ich zu meinem Erstwohnsitz in München zurückkehren müssen, obwohl mich dort im Fall einer Quarantäne oder Erkrankung niemand hätte unterstützen können. Gottseidank gab es innerhalb Bayerns keine Wohnsitzfestlegungen.
Jedes Bundesland machte seine eigenen Gesetze. Das Regelwerk der Pandemie-Maßnahmen wurde recht unübersichtlich in unserer föderalen Republik und sollte es auch lange Zeit bleiben.
Aber die Menschen hatten zu Beginn ein Einsehen. Die Mehrheit akzeptierte die Maßnahmen und hielt sich an Ge- und Verbote. Aus Angst? Aus Solidarität? Aus Unsicherheit? Schwer zu sagen.
Fest steht, dass dieses kollektive „Runterfahren“ auch etwas für sich hatte. Es war beruhigend, ja geradezu entspannend für mich. Keiner verpasste irgendetwas!
Wenig Kontakt – mehr Kommunikation
Der Kommunikationsbedarf stieg natürlich exponentiell mit den Kontaktbeschränkungen und den Infektionszahlen. Ich sammelte Informationen und Meinungen in den online-Ausgaben der Printmedien und in den Nachrichten, Dokumentationen und Experten-Gesprächsrunden der Sender. Mit wem sollte ich meine Erkenntnisse auf welchem Weg teilen?
Auf digitalem Weg – whatsapp und Facebook – konnte ich mich nur kurz austauschen. Das reichte nicht. Telefonieren war schon viel besser und skypen war fast wie persönliche Treffen, nur ohne Infektionsgefahr. Nun hatten eigentlich viel mehr Leute Zeit für lange Gespräch und mit einer Freundin verabredete ich mich sogar zum täglichen morgendlichen Gedanken- und Informationsaustausch.
Wir stellten fest, dass es uns mit dieser Situation ganz gut ging. Wir saßen alle plötzlich im gleichen Boot, hielten uns an einfache Regeln, die uns Sicherheit und Schutz versprachen, und blickten mit Neugier auf die Dinge, die da kommen würden. Als Rentnerinnen gehörten wir zwar altersmäßig und aufgrund von Vorerkrankungen zur Risikogruppe, aber andererseits waren wir ja eh schon raus aus dem Alltagsgeschäft und hatten uns längst an weniger Kontakte gewöhnt.
So staunten wir gemeinsam über so manche gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland.
Denunziantentum und Aggressionen
Meine Freundin erzählte erbost von einem heftigen Streit mit einer benachbarten Familie, weil diese von ihrem Garten aus den öffentlichen Spielplatz beobachten konnten, dort verbotenerweise Eltern mit ihren Kindern spielen sahen und ernsthaft erwogen, die Polizei zu rufen, obwohl es sich bei den Gesetzesübertretern nur um eine einzelne Familie handelte, die wahrscheinlich nicht mit einem eigenen Garten aufwarten konnte.
Die Polizei ließ in der Presse verlauten, dass nun tatsächlich des öfteren Nachbarn denunziert würden, die angeblich gegen eine Regel des Infektionsschutzgesetzes verstoßen hätten.
Fassungslos las ich auch von einer Frau, die mutterseelenallein lesend auf einer Parkbank im englischen Garten saß und von der Polizei verscheucht wurde. Der Grund? Der Aufenthalt an öffentlichen Plätzen war zu dieser Zeit nur aus dringend notwendigen Gründen erlaubt. Spazierengehen ist notwendig, lesend auf einer Bank sitzen nicht, kurzes Ausruhen während eines Spazierganges hinwiederum schon. Aber Letzteres musste vom bayerischen Innenminister dann schon ausdrücklich erlaubt werden.
Wenn man bedenkt, dass die Infektionsgefahr einer Einzelperson, die ganz allein in der Öffentlichkeit an der frischen Luft sitzt, gleich null ist, muss man sich über solche Verbote schon wundern und auch über die Menschen, die solche Verbote eingehalten wissen wollen.
Es wollte mir einfach nicht in den Sinn, dass Ge- und Verbote so ganz ohne sinnvolles Abwägen, ohne eigene Maßstäbe, als Grundlage für Denunziation herhalten konnten. Wieso glaubten die Menschen mehr an den Buchstaben eines schnell zusammengeschusterten Gesetzes, als an ihren klaren Menschenverstand. Wenn ich allein bin, dann kann ich weder mich noch sonst jemanden anstecken. Also besteht erst einmal kein Handlungsbedarf. Aber offensichtlich dominierten zu dieser Zeit Panik und Autoritätshörigkeit und nicht Eigenverantwortung und selbständiges Denken.
An der deutschen Ostseeküste, also in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, galten ganz eigene Gesetze. Die Zweitwohnungsbesitzer aus Hamburg und Berlin durften zeitweise nicht in ihre Wohnungen reisen, um zu vermeiden, dass die Menschen aus den engen Städten flohen und das Gesundheitssystem vor Ort überlasteten. Einige Einheimische achteten akribisch darauf, ob da ein Fremder im Lebensmittelladen einkaufen wollte oder ein bekanntes einheimisches Gesicht vor der Theke stand. So konnte es passieren, dass man nicht bedient wurde, man nichts zu essen kaufen konnte. Besonders erboste Ansässige ließen ihre Wut und Angst an den Autos aus, die ein auswärtiges Kennzeichen aufwiesen.
Mir machten diese Presseberichte Angst. Ich fürchtete, dass sich vorauseilender Gehorsam, Angstbeißen und schließlich der Verlust der Mitmenschlichkeit in der Krise tatsächlich aufbauen würden.
Ich begann tatsächlich meine Nachbarschaft gedanklich zu checken, ob sie das Potenzial für Denunziantentum hätten oder nicht.
Entspannung, aber nicht das Ende
Anfang April 2020 erreichte die erste Welle ihren Höhepunkt und flaute dann langsam ab.
Über den Nutzeffekt von Masken wird gestritten und es gibt sowieso kaum welche zu kaufen.

Ab Mitte April wurde schrittweise wieder geöffnet und am 17. Juni 2020 wurde der Katastrophenfall wieder aufgehoben.
Aber es musste jedem klar sein, dass die Pandemie noch nicht vorbei war, dass das Virus im Sommer mit all den Reisenden auf dem ganzen Globus unterwegs sein und selbstverständlich auch wieder zurückkommen würde. Und dennoch war mein Land wieder nicht auf die absehbare Katastrophe vorbereitet. (TA)
Links zum Thema Pandemiejahre 2020/21:
Pandemiejahre 2020/21 - Teil 2
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