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Zeitgeist - Mehr Wokeness - mehr Hass

  • titanja1504
  • 14. Juni
  • 15 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Juni

(DE) Unser Lehrer im English Conversation Kurs im Alten-Service-Zentrum ist definitiv eine phänomenale Persönlichkeit. Er ist nicht nur Musiker, sondern auch Kinderbuchautor, was ihn aber nicht daran hindert, im Umgang mit älteren bis alten Menschen im Rahmen der Kurse den richtigen Ton zu treffen. Sein Äußeres hat der für uns Kursteilnehmer junge Mann - er ist wohl in den 40ern - aber nicht an den Standardgeschmack der Schülerinnen und Schüler zwischen 65 und 92 Jahren angepasst. Er trägt Dreadlocks seit seinem 18. Lebensjahr. 

Und siehe da, es funktioniert ausgezeichnet. Es ist nicht nur so, dass ihn alle Kursteilnehmer mögen, nein, er hat auch so viel Autorität, wie sie sich so mancher Lehrer an einer Regelschule erträumt. 


Wer würde da noch von Generationenkonflikten schwadronieren wollen!? - Wir, die betagtere Schülerschaft, auf jeden Fall nicht! 

Er, der fast noch junge Mann, Angehöriger der nächsten Generation nach uns, hat allerdings in seinen Seniorenkursen und wohl auch im familiären Umfeld durchaus Strittiges ausfindig gemacht. 

„Woke“ - Aufgeweckt, Aufgewacht

Wie es sich für Viele seiner Generation gehört, ist nämlich Wokeness für ihn wichtig. 


Der englische Begriff „woke“ bedeutet aufgewacht oder aufgeweckt. Es geht also bei Wokeness um Wachsamkeit in Bezug auf Diskriminierung und Missstände. Daher bemüht er sich seit langer Zeit, die Menschen in seinem Umfeld für Achtsamkeit in der Wahl des sprachlichen Ausdrucks zu sensibilisieren. Aber er stieß wohl des öfteren auf Ablehnung, ja auf stures Beharren auf problematischen Ausdrücken bei der älteren Generation. 


Aus diesem Grund entschloss er sich in einem ersten Schritt, Vorträge unter dem Titel „Das wird man doch noch sagen dürfen!“ zu halten und veröffentlichte schließlich 2025 ein Buch mit eben diesem Titel. (Literaturhinweis im Anschluss an den Artikel) 

(Foto: Genehmigung durch Andy Kuhn)
Foto/Titel: Quentin Strohmeier; Genehmigung zur Verwendung durch Autor und Herausgeber Andy Kuhn

Worum geht es in diesem Büchlein? Worum geht es dem Autor?


Vordergründig geht es darum, unangemessene Bezeichnungen für ethnische Gruppen zu identifizieren, zu erklären, warum sie unangemessen sind und von den Betroffenen als beleidigend empfunden werden. Es werden aber auch Alternativen des sprachlichen Ausdrucks vorgestellt. 

Ausgesprochen wichtig und verdienstvoll erscheint mir jedoch der an verschiedenen Stellen geäußerte Wunsch des Autors, zu einer besseren Kommunikation beizutragen. Moralinsaurer Bevormundung erteilt er ebenso eine Absage wie sturem Beharren auf Althergebrachtem. 


Der Schlusssatz des Vorwortes lässt aufhorchen, denn er weicht von der oft überhitzten Diskussion über korrekte Bezeichnungen und über Begriffsänderungen in literarischen Werken, die als Zensur gebrandmarkt werden, ab: 


„Ich hoffe, dieses Buch gibt Ihnen einige interessante Einblicke und neue Perspektiven - nicht, um Vergangenes zu verteufeln, sondern um gemeinsam an einer respektvollen Sprache für die Zukunft zu arbeiten.“ (S. 9) 


Er appelliert an die Vertreter von Wokeness und konsequentem Gendern, sich nicht moralisch überlegen denjenigen gegenüber zu geben, die Begriffe wie Zigeuner, Eskimo, Indianer oder Schwarze völlig in Ordnung finden und die das generische Maskulinum nicht durch …*Innen oder …:Innen ersetzen wollen.  


Auf der anderen Seite möchte er diejenigen, die sprachliche Veränderungen misstrauisch beäugen und sich durch das Verbot von Begriffen, die sie nicht beleidigend meinen, gegängelt und zensiert fühlen, darauf aufmerksam machen, dass sich Sprache sowieso verändert. Ob wir das wollen oder nicht, spiele keine Rolle.


Es heißt daher im Kapitel „Ausblick“ am Ende des Buches: „…anstatt in Extremen zu denken - entweder „alles bleibt wie es war“ oder „alles muss geändert werden“ - sollten wir das Miteinander suchen, durch offene Gespräche, die am besten mündlich geführt werden und nicht anonym in irgendwelchen Social-Media-Kommentarspalten.“ (S.74) 


Ich kann dem Autor nur zustimmen und wünschte, es gäbe mehr Menschen, die so denken und sich auch so offen, selbstkritisch, von Grund auf menschlich und tolerant in kontroverse Diskussionen einbringen. 


Daher denke ich auch, dass er sich offen dafür zeigt, wenn ich meine Kritik und Zweifel an den hohen Erwartungen an Wokeness und meine Fragen zur Umsetzung in unserer Zeit anhand seines Buches darlege. 


Etwas, das mir an einigen Stellen merkwürdig vorkam, ist die Annahme, dass es ein Generationsproblem sei, ob Wokeness akzeptiert oder abgelehnt werde. Die Zeitgeschichte widerspricht dieser Sicht. 

Woke - neues Wort für alte Ideen

Bereits in den 1970er und 80er Jahren, als die heutige woke Generation noch nicht geboren war oder höchstens in den Windeln lag, begannen linke Gruppierungen, der political correctness in den USA größere Aufmerksamkeit zu schenken. Sprachliche Ausdrücke sollten Verletzungen und Diskriminierungen ausschließen. 

In den 90er Jahren, als ich im Alter der heutigen woken Generation war, wurde dieser Denkansatz auch in Deutschland als „politisch korrekte“ Ausdrucksweise diskutiert und gefördert. 

Wissenschaftliche Grundlage war die These, dass der Veränderung der Sprache die Veränderung des Denkens und der Einstellung und schließlich des Verhaltens folgen würde. Sprache - ein gesellschaftliches Steuerungselement?! 


In den 90ern und später sollte hier in Deutschland die Steuerung durch Sprache hin zum Guten, zu Respekt und Achtsamkeit zu Akzeptanz und Toleranz führen. 

Ich erinnere mich noch gut daran, dass das Wort Zigeuner durch Sinti und Roma ersetzt wurde wie auch Eskimos nun Inuit hießen und dass man die weibliche und männliche Form so oft wie irgend möglich in offiziellen Texten benutzen sollte. 

Es war ein gängiger Witz von Vortragenden, dies zum Gaudium der Zuhörer zu übertreiben. So sprach dann jemand von „Blättern und Blätterinnen“ oder von „Wäldern und Wälderinnen“ usw.. 


2025, also nach über 30 Jahren Bemühungen um politische Korrektheit in Deutschland, wird diese Diskussion aber immer noch geführt und das lässt aufhorchen. Sind diese gut gemeinten sprachlichen Veränderungen vielleicht kein bisschen vom Hirn zum Herzen gerutscht? Bildhaft ausgedrückt! Braucht es viele Generationen und viele Gründe für einen natürlichen Sprachwandel? Lässt der sich sowieso nicht künstlich beschleunigen oder gar herbeiführen? Das wird sich noch zeigen. 

  

Eine andere Frage ist aber noch interessanter und kann heute, in unserer Zeit, durchaus abgeklärt werden.


Ist die These, dass eine Veränderung im Gerechtigkeitsempfinden der Menschen stattfindet, wenn man negativ konnotierte Begriffe durch „unschuldige“ Begriffe ersetzt, nicht so zutreffend wie erhofft? 

Folgen neuen Begriffen neue Einstellungen? 

Ich möchte an dieser Stelle einige Erfahrungen und Überlegungen einbringen, die nachdenklich machen. 


Ich unterrichtete Anfang der 2020er Jahre ehrenamtlich Asylbewerber in einem kleinen Allzweckraum in ihrer Unterkunft in Deutsch. Wenn ich im Familienkreis davon sprach, so nannte ich diese Unterkunft sozusagen umgangssprachlich „Asylantenheim“ und die Menschen „Asylanten“. 

Freunde machten mich freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam, dass diese Bezeichnung nicht akzeptabel sei. Tatsächlich wurden diese Heime seit geraumer Zeit offiziell „Gemeinschaftsunterkunft“ genannt und die Menschen, die darin lebten, „Migranten“ oder „Asylbewerber“. 

Diese Unterkünfte waren aber immer noch sehr unangenehm und hatten mit Gemeinschaft nichts zu tun. An der Wohnsituation änderte der neue Begriff nichts. 


Die Einstellung zu Migranten und Asylbewerbern hat sich in all den Jahren sogar noch verschlechtert und gipfelt im Jahr 2025 in einer regelrechten Migrantenhetze. 

Die Abschaffung der negativ konnotierten Begriffe „Asylanten“ und „Asylantenheim“ hatte keinerlei Auswirkungen auf die Einstellung vieler Deutscher zu Flüchtlingen und Einwanderern. 


Es gibt noch ein weiteres Beispiel, das die Einflusslosigkeit des sprachlichen Ausdrucks zumindest auf den ersten Blick belegt. 

Hält beispielsweise jemand, der „Sinti“ oder „Roma“ sagt statt „Zigeuner“, nicht mehr automatisch seine Geldbörse fest, wenn er Vertretern dieser Ethnie in einer belebten Straße begegnet? Würde derjenige seine Wohnung an eine Roma-Familie vermieten oder wenigstens nicht ängstlich auf Roma-Nachbarn blicken? Ließe so jemand ohne zögern seine Kinder Freundschaft mit Roma-Kindern schließen? 

All diese Fragen müssen ganz klar mit nein beantwortet werden.


Auch im Jahr 2025, obwohl bereits seit Jahrzehnten die Bezeichnung Zigeuner tabu ist, sind die negativen Vorurteile nicht verschwunden, ja nicht einmal schwächer geworden. Das althergebrachte Verhalten nach dem Motto, „Holt’s die Wäsche rein, die Zigeuner sind da!“, gilt noch mehr oder weniger genauso, wenn man das Wort Zigeuner durch Sinti oder Roma ersetzt. 


Den neuen, von den Betroffenen akzeptierten Bezeichnungen, folgten also kaum oder gar nicht neue Einstellungen oder Verhaltensweisen. Mich beschleicht der Verdacht, dass die „guten Menschen“ des Kampfes gegen Vorurteile müde geworden waren und sich daher auf den Sprachwandel kaprizierten. 

Der Kampf gegen Vorurteile ist nämlich einer der frustrierendsten überhaupt, denn nicht nur diejenigen, denen man die Vorurteile „austreiben“ will, sondern oft auch diejenigen, die Ziel von Vorurteilen sind, unterstützen einen dabei wenig. Die einen stellen sich stur und die anderen gehen manches Mal in die Self-fullfilling-prophecy-Falle und liefern Ersteren wieder die Bestätigung für ihre Vorurteile. Ein Teufelskreis!  

"Schwarz" und "Weiß" 

Ein sehr altes und noch immer schwieriges Thema ist die Hautfarbe eines Menschen, ganz besonders wenn sie dunkler ist. Hinter dieser Diskussion stecken Jahrhunderte von Geschichte, Jahrhunderte von Unterdrückung und Unterwerfung und der Entwicklung rassistischer Theorien zu wirtschaftlichen und politischen Zwecken. 


Schwierig und ungeklärt ist daher auch die politisch korrekte, die woke Bezeichnung für Menschen mit dunkler Hautfarbe. Auch in dem Buch „Das wird man doch noch sagen dürfen“ sind die unverfänglichen Vorschläge, die sich wohl allgemeiner Akzeptanz erfreuen, nicht besonders eingängig. 


Ich möchte an dieser Stelle aus dem Buch Andy Kuhns zitieren: 

„… ist auch die von der Bevölkerungsgruppe bevorzugte Alternative „Person of Colour“ bzw. „People of Colour“ (POC). Dieser Begriff betont Vielfalt und Würde und vermeidet die abwertenden und historischen Lasten, die mit „Neger“ und ähnlichen Begriffen verbunden sind.“ (S. 24) Als Faustregel gibt der Autor Andy Kuhn an: Das Adjektiv „schwarz“ sei nur in der Substantivierten Form (Großschreibung) als Bezeichnung einer Bewegung akzeptabel, aber nicht als Adjektiv. Ansonsten wären die englischen Bezeichnungen zeitgemäßer, also woke. (S.21 ff)  


Ich muss sagen, diese Ausdrucksweise fügt sich meiner Meinung nach nicht besonders geschmeidig in die deutsche Sprache ein. Mir käme es nicht spontan über die Lippen beispielsweise bei der Suche nach einem kleinen Kind im Park nach einer „kleinen Person of Colour“ zu fragen. Das sind doch die klassischen Situationen, in denen man jemanden beschreiben muss. Man sucht eine Person, man fragt nach einer Person oder man gibt der Polizei eine Personenbeschreibung. Natürlich würde mir auch nicht einfallen, „Neger“* oder „Mohr“* zu sagen. Niemandem, der kein Rassist ist, würde das einfallen. 


Diese alten Bezeichnungen für echte Menschen dunkler Hautfarbe waren für meine Generation, die in den 50er Jahren geboren wurde, eigentlich noch nie neutral, geschweige denn positiv. 

Wir benutzten sie gedankenlos für Süßigkeiten wie „Mohrenkopf“ oder „Negerkuss“ und Kinderreime wie „10 kleine Negerlein…“. Das ja. Allerdings assoziierte ich bei dem Spiel „Fürchtet ihr den schwarzen Mann?…“ nie einen dunkelhäutigen, sondern immer einen dunkel gekleideten Furcht einflößenden Menschen. 


Wir lasen „Onkel Toms Hütte“ und fühlten mit den Opfergestalten, mit den schwarzen Sklaven, die wir gern beschützt und gerettet hätten. Aber wir lernten so natürlich nicht, dass wir als Menschen grundsätzlich gleich sind. 

Und selbstverständlich wurde die Vorstellung von Rassen mit dieser Lektüre weitergegeben und damit auch das Gefühl von Andersartigkeit und Fremdheit. 


Wie man aus wissenschaftlichen Untersuchungen weiß, kann das Empfinden von Andersartigkeit und Fremdheit beim Menschen ganz üble archaische Urinstinkte von Misstrauen und Abwehr triggern. 


Hilft es nun, wenn ich, wie im Büchlein empfohlen, „people of colour“ sage, wenn ich von dunkelhäutigen Menschen spreche? Sehe ich dann nur den Menschen und nicht den Angehörigen einer Ethnie oder, schlimmer noch, einer Rasse, die es ja laut wissenschaftlicher Erkenntnisse gar nicht gibt? 


In einem Vortrag zu diesem Thema, bei dem eine dunkelhäutige Frau - zeitgemäß woke ausgedrückt eine Person of colour - anwesend war, bat man sie um ihre Meinung zur  korrekten Bezeichnung.  


Schwarz gehe nicht, da sie ja so wenig schwarz wie wir anderen weiß sei. Was natürlich stimmt und ich muss sagen, ich mag auch nicht mehr weiß genannt werden. Ich hatte vorher noch nie darüber nachgedacht, aber aufgrund dieser Erwiderung wurde mir klar, dass der Begriff „Weiße“ für Menschen sowohl negativ konnotiert wie auch für hellhäutige Europäer oftmals nicht erstrebenswert ist. Man denke nur daran, wie verzweifelt viele „weiße“ Menschen versuchen, im Sommer ihre als hässlich empfundene Hautfarbe zu vertuschen, ganz abgesehen davon, dass besonders „die Weißen“ in der Geschichte häufig als arrogant, selbstgerecht, grausam, gewaltbereit und ignorant bezeichnet werden können.    


„Farbig“, schlug ich dann vor, denn das Argument hatte mir ja eingeleuchtet. 


Das gehe auch nicht, meinte sie, denn sie sei ja nicht bunt. Farbig bedeute bunt. 


Aha, für mich heißt bunt aber vielfarbig und farbig heißt „nicht weiß“. Außerdem bedeutet der englische Begriff „people of colour“ ja auch nur „farbige Menschen“, wenn man ihn übersetzt. Warum, so frage ich mich, ist der Begriff auf Englisch weniger verletzend als auf Deutsch? Und wieso liegt die Deutungshoheit über einen sprachlichen Begriff wie farbig bei ihr allein und nicht bei uns beiden gleichermaßen? 


Ich persönlich würde dunkel- und hellhäutig für eine unbelastete Ausdrucksweise halten, weil es beispielsweise mit völlig neutralen Begriffen wie hell- und dunkelhaarig vergleichbar ist.  

Als Weiße, die nicht mehr als Weiße bezeichnet werden möchte, weil ich mich dadurch aufgrund der Geschichte diskreditiert fühle, fühle ich mich wohl mit diesem Adjektiv. 

Ist das woke, so zu fühlen und zu denken? Ist das gerecht? Respektvoll? Achtsam? 

Habe ich damit einen Schritt gemacht, der persons of colour nun in Zugzwang bringt, sich auch dazu zu positionieren? Oder ist das übergriffig? 


Angesichts dieser Verunsicherung ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen den Schalter umlegen und auf Abwehr gehen, dass sie nichts mehr davon hören wollen und die ganze Diskussion für übertrieben oder sogar überflüssig halten. Der Ruf „Sprach-Zensur!“ erschallt und der Ausdruck, „Das wird man doch noch sagen dürfen!“, taucht in Diskussionen immer wieder auf und würgt jede echte Auseinandersetzung ab.

Der „Empfänger“ entscheidet und nicht der „Sender“! 

Wie löst man so ein Problem in einer Zeit des respektvollen Umgangs miteinander?

Dafür gibt es wohl eine schon recht alte Grundregel:


Der Empfänger, gemeint sind hier Individuen wie auch ethnische Gruppen, einer Botschaft entscheidet, was verletzend oder unangemessen ist, und nicht der Sender!


Das hinwiederum verkompliziert die Sache ungemein. Denn wenn ich eine Person, aus welchem Grund auch immer, beschreiben will oder muss, kann ich sie ja nicht nach ihrer bevorzugten Bezeichnung für ihre Hautfarbe oder Ethnie fragen. Hinzu kommt, dass die Regeln für woke Bezeichnungen nicht weltweit gleich sind. 


Im Buch werden beispielsweise zeitgemäße selbstbestimmte Begriffe für Indianer genannt: „Indigene Völker, Amerikanische Ureinwohner, Native Americans oder Natives (USA), First Nations (Kanada), Stammesnamen z.B. Lakota, Apachen, Sioux etc.“ (S. 30) 


Angesichts der Fülle all dieser selbstbestimmten, nicht negativ konnotierten Begriffe für ethnische Gruppen stellt sich mir doch auch die Frage, wie denn so ein Konsens hergestellt worden ist. 


Da kommt mir eine Bevölkerungsgruppe in den Sinn, die auf der ganzen Welt ansässig ist, die überall gleich benannt wird und die allen Grund hätte, ihre Benennung als negativ konnotiert abzulehnen und abzuändern: Juden! Jews! Juif! Yehud!…


Über Jahrhunderte wurden Juden beschimpft, verfolgt, diskriminiert und brutal getötet. Die Bezeichnung Jude oder Jüdin wurde immer wieder wie ein Schimpfwort benutzt. Dennoch hielten und halten Juden an diesem Ausdruck ihrer Identität fest. Warum? Weil ihnen diese Bezeichnung nicht fremdbestimmt übergestülpt wurde? Weil sie stolz auf ihre Identität sind und sich diese nicht von außen zerstören lassen? Weil es keine alternativen Bezeichnungen gibt, die unbelastet wären? 


Auch heute, da der Antisemitismus wieder erwacht ist, versucht niemand Juden durch sprachliche Veränderungen vor Beleidigungen zu schützen. Und Juden fordern das auch nicht ein, obwohl sie sich durchaus zur Wehr setzen. 


In diesem Fall hat wohl „der Empfänger“ entschieden, dass er darauf achtet, wes Geistes Kind „der Sender“ ist. Das wäre auch eine Möglichkeit, miteinander umzugehen, denke ich. Ein bisschen Offenheit für die innere Einstellung des Gegenüber jenseits des sprachlichen Ausdrucks wäre hilfreich im friedvollen und wohlwollenden Miteinander. 


Dies führt zur nächsten offenen Frage.  

Zeigen 30 bis 50 Jahre Achtsamkeit in der Sprache Wirkung? 

Spüren wir auch nur einen kleinen Abbau von Vorurteilen, von Rassismus und dafür im Gegenzug den Aufbau von mehr Achtsamkeit und Respekt in der Gesellschaft der 2020er Jahre? 


Das kommt darauf an, würde ich sagen. Das kommt auf die Kreise an, in denen man sich bewegt, auf die Blasen in denen man lebt und kommuniziert. 


Tatsache ist nämlich, dass es im Deutschland des Jahres 2025 tiefe Gräben zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Regionen gibt. 


So sehr die einen achtsam miteinander umgehen, so sehr hassen die anderen in einer Zügellosigkeit, die mir in meinem Erwachsenenleben nicht untergekommen ist. Und meine Generation hatte diesen Hass auf Fremde, auf Andersdenkende und Minderheiten tot geglaubt. 


Bauern lauern einem Politiker der Grünen Partei auf und drohen ihm Gewalt an. Es werden Steine zum Werfen bei Wahlkampfveranstaltungen bereitgestellt, angeblich als symbolische Geste.  

Kommunalpolitiker treten aus Angst um ihre Familien von ihrem Amt zurück, weil sie aufgrund einer konstruktiven Migrationspolitik in Hassmails beschimpft und auf Facebook und in anderen Sozialen Medien bedroht werden. In Nürnberg wird der OB-Kandidat, ein Kind syrischer Einwanderer und daher dunkelhäutiger als der klassische Franke, mit tausenden Hassmails und Netz-Beiträgen überzogen. Nur weil er eine Person of colour ist. 


Wie kann das sein?! Warum wurden diese Menschen nicht erreicht, als jahrzehntelang Werte wie Toleranz, Achtsamkeit, Respekt, Menschenwürde in Schulen und kulturellen Einrichtungen, in Filmen und in der Literatur aufgezeigt, gefordert, ja gepredigt wurden? 

Während auf der einen Seite um politisch korrekte Ausdrucksweise und um das Gendern und um Achtsamkeit gerungen wird, tauchen auf der anderen Seite längst überwunden geglaubte Einstellungen und Vorurteile wieder auf und es erweist sich, dass diese unselige Klaviatur von politischen Parteien wie Union und AfD erfolgreich bespielt werden kann.Tabus waren wohl nur Tabus per Ansage, fanden aber den Weg in die Herzen und Hirne vieler Menschen nicht.Vielleicht haben wir, und ich zähle mich durchaus zu denjenigen, die die Würde eines jeden Menschen achtet und diesen Wert auch Zeit ihres Lebens weiterzugeben versucht hat,  zu früh aufgehört, uns mit den Widerwilligen wirklich zu beschäftigen, uns mit Zweifeln und Fragen ehrlich und unverdrossen auseinanderzusetzen, unsere Einstellungen immer und immer wieder zu erklären.

Wie haben wir stattdessen reagiert? Mit “Igitt” gegenüber diesen unwilligen Menschen und deren Aussagen. Wir haben Tabus geschaffen. Wir haben Menschen in Schubladen gesteckt. 


Wir hätten vermutlich von Anfang an ohne Berührungsängste in den “Ring steigen” müssen und auf Augenhöhe die Auseinandersetzung suchen sollen, statt uns über die „tumpen Tölpel“ zu erheben und uns mit Schaudern abzuwenden.

Nun tauchen diese “Untoten der Gedankenwelt” - Rassismus, Antisemitismus, Fremdenhass, Hass und Gewalt gegenüber Andersdenkenden… - wieder auf, weil einige in der Politik erkannt haben, dass sie im Verborgenen noch da und lebensfähig sind. Man sie also erwecken kann.

Die Frage, warum die Menschen das Unsägliche in ihrer Psyche bewahrt hatten, wurde nicht wirklich gestellt. Warum wurde ihr Innerstes nie erreicht? Warum sahen sie als Bevormundung, was wir für gesellschaftlichen Konsens hielten?

 

Ganz besonders das Wiedererstarken des Antisemitismus ist kaum zu erklären. 

Der Antisemitismus wurde auf vielen Ebenen seit Kriegsende in Deutschland offiziell bekämpft, mit Hilfe von Aufklärung und Verboten. 


Übergriffe auf Menschen, die durch das Tragen einer Kippa oder durch andere Merkmale erkennbar Juden sind, weisen heutzutage in der Statistik starke Tendenz nach oben. 

Wie kann das sein?


In einer Welt, in der Achtsamkeit und Respekt schon in der Sprache so starken Niederschlag finden, erstarken gleichzeitig uralte Vorurteile und Gewalt in ungeahntem Ausmaß. 


Wenn man sich einerseits im Kreis der "politisch Korrekten“, der „woken Menschen“ bewegt, hat man das Gefühl, man lebe in einer hoch sensiblen, respektvollen Gesellschaft. Wenn man aber andererseits diesen Kreis verlässt, betritt man oft genug die Welt alter Vorstellungen, des Trotzes und der Aggression. 


Die Gesellschaft ist gespalten, keine Frage. Und während die einen sich mit gerümpften Nasen und Kopfschütteln von den so genannten Dummen abwenden, reagieren die anderen mit Wut, Aggression und womöglich Gewalt auf alles und jeden, der anders ist und denkt. 


Im Jahr 2025 geht die Kommunikation, der Austausch zwischen diesen Gruppierungen gegen Null.  

Politisch erstarken die Propagandisten und die rechten bis rechtsextremen Parteien nicht nur in Deutschland. 

Ich sehe historisches Versagen auf beiden Seiten. 

Während die ach so achtsamen Linken und Grünen ihrer moralischen Überlegenheit frönen, übersehen sie ganz, dass sie andere Menschen abqualifizieren und ausgrenzen. 

Während die Sympathisanten der Rechten glauben, der Realität ins Auge zu blicken, übersehen sie ganz, dass sie aufgrund ihres Hanges zu einfachen Lösungen belogen und benutzt werden. 


Miteinander zu reden, einander wirklich zuzuhören, offen für Argumente zu sein und einander zu respektieren wäre ein neuer Weg in die Zukunft. 

Anonymität - ein Brandbeschleuniger für Hass und Gleichgültigkeit 

Andy Kuhns Forderung nach dem direkten Gespräch jenseits der Anonymität in sozialen Medien ist fundamental, denn es ist die Anonymität, die oft genug enthemmt. 


In den Sozialen Medien, in denen die Menschen anonym ihren schrecklichsten und widerlichsten Instinkten folgen können, sieht man, was wohl in vielen Köpfen und Seelen lauert. 

Aber es sind nicht nur die Hassbotschaften, die Menschen aus der Anonymität heraus absondern. Auch vergleichsweise harmlose Rücksichtslosigkeiten im Alltag kann man zunehmend beobachten. Gleichgültigkeit ist in der Anonymität hervorragend zu verstecken. 

Jeder Autofahrer ist aufgrund seines Nummernschildes identifizierbar, wenn er sich als rücksichtslos oder als Verkehrsrowdy entpuppt. Auf Rad- und E-Roller-Fahrer trifft das nicht zu. Sie müssen kaum fürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. 


Ist das der Grund, dass deren Verhalten im Straßenverkehr so regel- und rücksichtslos ist, dass sich eine alte Dame wie ich nicht mehr mit dem Rad auf die Straße traut? 

Was haben sich diejenigen, die den E-Roller geparkt haben, wohl gedacht? - Nix!
Was haben sich diejenigen, die den E-Roller geparkt haben, wohl gedacht? - Nix!

Auch das Abstellen von E-Rollern und schicken Lastenfahrrädern geschieht oft so, dass Fußgänger gefährliche Umwege über Fahrbahnen und Fahrradwege nehmen müssen. Die Verantwortlichen sind nicht feststellbar. Ein Fahrrad oder ein E-Roller hat kein Nummernschild! 


Die Klimaschutz bewegten Radler fühlen sich offensichtlich nicht immer auch „Menschenschutz bewegt“. 


Und selbst Naturfreunde, die in den Bergen wandern, nutzen laut Alpenverein zunehmend die Anonymität, um im Winter Schutzräume in Hütten zu vermüllen, die Inneneinrichtung zu verheizen oder mutwillig zu zerstören. 


Der Achtsamkeit folgt offensichtlich die Gleichgültigkeit, ja eine gewisse Verrohung auf dem Fuße! 


(Aktuelle Anmerkung: Im Juni 2025 behauptet der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, dass er für Israels völkerrechtswidrigen Angriff des Iran dankbar sei. Israel mache "die Drecksarbeit" für uns, womit wohl die westlichen Staaten, darunter auch Deutschland, gemeint sind. So wagt der Kanzler zu sprechen und wohl auch zu denken! Diese Aussage wäre eines Mafiabosses würdig. Und das in einer Gesellschaft, in der sich große Teile um Achtsamkeit in der Sprache bemühen!)


In fünf, zehn oder fünfzehn Jahren wird sich zeigen, wohin dieser Zeitgeist die Gesellschaft geführt hat. (TA)  


  • Diese Begriffe zu benutzen ist in diesem Zusammenhang notwendig, weil es ja um die sprachliche Ausdrucksweise geht. Selbstverständlich - und das wird im Text auch klar zum Ausdruck gebracht - soll niemand dadurch beleidigt werden und es ist mir noch nie eingefallen, Menschen so zu bezeichnen. 


Literaturhinweis: 


Andy Kuhn: „Das wird man wohl noch sagen dürfen! Ein Buch über die Achtsamkeit in der Sprache“. 1. Auflage 2025

(Wer dieses Buch erwerben möchte, wende sich an andy_kuhn@gmx.net)


Der Autor setzt sich in neun Kapiteln systematisch mit den problematischen Bezeichnungen für unterschiedliche Ethnien auseinander, erklärt die Entstehungsgeschichte veralteter und verletzender Benennungen und zeigt Alternativen auf. 


Es ist ein ehrliches undogmatisches Buch über Wokeness und ein Paradebeispiel für Offenheit und Toleranz, besonders wenn er sich über seine nicht befriedigenden Versuche zu gendern äußert. 


Wirklich beeindruckt hat mich auch die Schilderung seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der „kulturellen Aneignung“ durch seine Frisur, die Dreadlocks, die er aufgrund dieser Recherche nur noch Locks nennt. 

Er widmet dem Thema, dass verfilzte Locken insbesondere mit der Rastafari-Bewegung in Jamaika verbunden sind, ein ganzes Kapitel. In dieser Kultur sei diese Haartracht ein tiefer Ausdruck von Ehrfurcht vor Gott. Es stehe also eigentlich einem Europäer nicht zu, sich das äußere Merkmal dieses Glaubens, dieser Kultur zu eigen zu machen und sie dadurch zu verfremden und ihres Sinnes zu berauben. 

Hätte seine Recherche ergeben, dass es verfilzte Locken nur in dieser Kultur gibt, hätte er sich die Haare schneiden lassen. Sehr konsequent! 

Ich möchte an dieser Stelle nur so viel verraten, dass er seine Locks noch trägt und das aus gutem Grund. 

Das Verständnis dafür, was man unter kultureller Aneignung versteht und inwiefern das problematisch ist, wird durch diese Auseinandersetzung auch für die Leserschaft wirklich nachvollziehbar. 


Die Inhalte dieses Buches können der Anfang von interessanten und auch kontroversen Gesprächen sein, was Andy Kuhn sehr wichtig zu sein scheint.


„Reden wir ohne Vorurteile und Vorverurteilung miteinander über Achtsamkeit!“, so würde ich seine Botschaft mit meinen eigenen Worten zusammenfassen.

(TA) 

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