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Weihnachtshelfer am falschen Ort

  • lisaluger
  • 20. Nov. 2022
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 2. Juni 2023


Weihnachten 2017 am Bahnhof Euston in London


UK: Weihnachten ist eine besondere Zeit, in der viele Menschen mit ihrer Familie feiern wollen. Nachdem unsere alten Eltern verstorben waren, versuchten mein Mann und ich dem Fest einen neuen Sinn zu geben. Wir wollten anderen Menschen, die es weniger gut hatten als wir, eine Freude zu machen.


Dieses Jahr hatten wir uns vorgenommen, einige der vielen obdachlosen Menschen in London beim Feiern des Weihnachtsfestes zu unterstützen. Wir fanden heraus, dass Network Rail, eine der großen Bahngesellschaften im Vereinigten Königreich, eine Weihnachtsveranstaltung für Obdachlose an einem ihrer großen Londoner Bahnhöfe, dem Bahnhof Euston, plante. Der Hintergrund ist folgender:

Frohe Weihnachten Kärtchen
Frohe Weihnachten Kärtchen

Am Weihnachtstag (25.12.) verkehren im Vereinigten Königreich keine öffentlichen Verkehrsmittel, keine U-Bahn, keine Busse, keine Züge. Die dahinter liegende Idee ist, dass auch Fahrer und andere Angestellte im Transportwesen die Möglichkeit haben sollten, Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern. Wer würde diesem Argument nicht zustimmen? - Naja, wohl all diejenigen, die Weihnachten nicht feiern, entweder weil sie keiner oder einer anderen Religion angehören oder keine familienähnliche Beziehungen haben! Aber auch diejenigen, die sehr wohl mit ihrer Familie feiern wollen, diese aber über ganz London oder das Land verstreut ist, sind nicht ganz glücklich damit. Fällt der öffentliche Nahverkehr aus, bleibt nur das Auto und je nach Witterung und Entfernung ein Fußmarsch.

Network Rail jedoch fühlte sich durch die Vorstellung, einen völlig leerstehenden Bahnhof ausgerechnet an Weihnachten mit Leben zu füllen, inspiriert. Was lag da näher, als ihn für eine Weihnachtsfeier der Obdachlosen zu nutzen?


Wir hielten das für eine gute Idee und boten unsere ehrenamtliche Hilfe als Weihnachtshelfer an.

Wir wohnen nicht weit von der Euston Station entfernt (nur fünf Haltestellen mit der U-Bahn - wenn sie denn fahren würde) und könnten daher zu Fuß zu unserer Wirkungsstätte gehen. Das sollte kein Problem sein.

War es aber leider doch!


Voller Tatendrang sprang ich am Morgen des Heiligen Abends aus dem Bett, blieb am Türrahmen hängen und brach mir den kleinen Zeh. Au! Das tat weh! Mein Fuß schwoll sofort an, sodass ich für meinen Gang zur Notaufnahme des Royal Free Hospital bei uns um die Ecke nur in die Pantoffeln meines Mannes passte. Eine Röntgenaufnahme bestätigte meinen Verdacht und ein freundlicher Pfleger band meine Zehen fest zusammen, damit der Bruch stabil bliebe.


Ich liess mich von diesem Zwischenfall jedoch nicht kleinkriegen und wir hielten trotzem an unserem ehrenamtlichen Weihnachtseinsatz fest. Wir mussten halt etwas umplanen.

Zu dem Zeitpunkt ahnten wir aber noch nicht im Entferntesten, was noch auf uns zukommen würde.


Das Mobilitätsproblem mit meiner aktuellen Gehbehinderung konnte leicht gelöst werden. Wir fuhren mit dem Auto und parkten so nah wie irgend möglich am Bahnhof Euston.

Wir läuteten am Seiteneingang, um uns zum Freiwilligendienst zu melden und waren guter Dinge, in freudiger Erwartung Teil einer erfolgreichen und nützlichen Veranstaltung sein zu können.

Halt, lasst sie nicht rein!

Aber gerade als sich die Tür öffnete, um uns einzulassen, kam ein aufgeregter Mann auf uns zugerannt und brüllte: "Halt, lasst sie nicht rein! Haltet sie auf!"

Der Mitarbeiter von Network Rail und wir sahen ihn erschrocken und verwirrt an. Er schrie völlig außer sich: "Sie wollen eine kostenlose Mahlzeit und ich habe sie gerade aus einem Auto aussteigen sehen. Das ist Betrug! Sie haben keinen Anspruch auf diese kostenlose Mahlzeit!“


Es dauerte einen Moment, bis uns das Missverständnis klar wurde. Der Network Rail Mitarbeiter rettete die Situation. Er erklärte dem erzürnten Bürger, der glaubte, einem gigantischen Sozialbetrug auf die Schlichte gekommen zu sein, dass wir ehrenamtliche Helfer bei der Weihnachtsfeier für Obdachlose seien. Nun war es an ihm verwirrt zu sein. Aber er änderte rasch seine Haltung, schüttelte meinem Mann die Hand und sagte: “Vielen Dank, Sir. Das ist sehr nett von Ihnen, Sir." Und damit verschwand er, wahrscheinlich zurück zu seinem Spionageposten in den Straßen um den Bahnhof, um weitere verdächtige Autobesitzer auf der Suche nach einer kostenlosen Weihnachtsmahlzeit zu stellen.


Wir jedoch wurden in die Bahnhofshalle geführt, wo bereits etwa 120 weitere Personen darauf warteten, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen. Die Veranstalter hatten nicht mit so vielen Helfern gerechnet und brauchten jede Menge Phantasie, um uns alle zu beschäftigen. Es gab Gruppen, die z. B. die Besucher begrüßten, sie zu den verschiedenen Orten führten, Essen oder Getränke verteilten, Weihnachtslieder sangen usw.

Willkommen bei den Toiletten der Euston Station

Leider zogen wir beide den kürzeren Strohhalm. Unsere Aufgabe war der Toilettendienst. Das hieß, wir mussten den Besuchern den Weg zu den Toiletten weisen. "Willkommen bei den Toiletten der Euston Station. Hier sind die Damentoiletten... Hier sind die Herrentoiletten ….“.

Wir mussten auch darauf achten, dass kein Besucher zu lange in den Kabinen verweilte, um sich vielleicht Heroin zu spritzen. Die Organisatoren hatten Angst, dass jemand unter ihrer Aufsicht eine Überdosis nehmen könnte (als ob alle Obdachlosen Junkies wären).


Was für eine erhebende Aufgabe! Wir langweilten uns bald. So früh am Tag musstenanscheinend noch nicht viele Menschen zur Toilette. Das Versprechen, dass rotiert würde und man auch eine Weile eine ansprechendere Aufgabe ausführen könne, wurde nicht eingehalten. Niemand ging freiwillig zum Toilettendienst!

Zum Glück waren wir 12 Toilettenwärterinnen und -wärter und wir versprachen einander uns abzuwechseln. Nach etwa zwei Stunden des Anleitens und Beobachtens wurden Dave und ich von anderen unserer Gruppe abgelöst.


Dem Bahnhofsklo entkommen, gingen wir zuerst zu den Network Rail-Büros, um unsere versprochene Tasse Tee und Kekse in Empfang zu nehmen. Dann mischten wir uns unter die Bahnhofsbesucher und sahen uns etwas um.


Weihnachtsgruss Kärtchen
Weihnachtsgruss Kärtchen

Eine Weile lauschten wir den beschwingten Melodien eines Weihnachtsmannes auf seiner E-Gitarre. Um die Ecke servierte jemand Mince Pies (ein typisch englisches Weihnachtsgebäck) und alkoholfreien Glühwein und drängte uns, etwas davon zu nehmen, weil es viel zu viel davon gab. Kein Problem! Da konnten wir wirklich helfen. Danach schlossen wir uns einem Chor an und sangen ein paar Weihnachtslieder. Einige der beteiligten Wohltätigkeitsorganisationen boten an ihren Ständen nützliche Dinge wie beispielsweise nagelneue, kostenlose Decken und Schlafsäcke für die kalten Nächte auf der Straße an. Andere verschenkten gebrauchte Pullover und Hosen.

Wo sind denn die Obdachlosen?

Das war ja alles wirklich nett und gut gemeint, aber wo waren die Obdachlosen, die Nutznießer dieses Angebots sein sollten?

Wir konnten nur ein paar einsame Gestalten verstreut an den vielen Tischen ausmachen. Sie saßen da, mit einer Weihnachtsmütze auf dem Kopf, knabberten eingeschüchtert an ihren Keksen und fühlten sich offensichtlich äußerst unwohl. Das angekündigte Weihnachtsessen war noch nicht fertig. Möglicherweise wollten die Organisatoren warten, bis mehr Obdachlose eintrafen. Was für ein trauriger Anblick! Was für ein trostloses Szenario!


Mein Mann und ich fühlten uns peinlich berührt ob dieses Fehlschlags einer gut gemeinten Idee. Was uns aber zornig machte, war das Verhalten der reichlich vorhandenen Medienvertreter.

Auf der Suche nach sentimentalen Weihnachtsgeschichten

Wir zählten etwa sieben Fernsehteams, die sich auf die wenigen Obdachlosen stürzten und versuchten, Interviews zu bekommen, um deren Dankbarkeit festzuhalten und vielleicht ein paar pikante Geschichten über das Leben auf den Londoner Straßen abzustauben. Aus der Weihnachtsfeier für Not leidende Obdachlose konnte man doch einige sentimentale Weihnachtsgeschichten für die Zuschauer in ihren weihnachtlich geschmückten Wohnzimmern machen!


Wir und auch die anwesenden Vertreter der Wohltätigkeitsorganisationen konnten nicht glauben, was die Pressevertreter da taten! Sie versuchten massiv in die Privatsphäre der anwesenden Obdachlosen einzudringen. Von Persönlichkeitsschutz und Wahrung ihrer Würde keine Spur!

Keiner dieser Journalisten, die den Menschen rücksichtslos die Kamera und das Mikrophon vor die Nase hielten, dachte wohl daran, dass vielleicht Familien, Bezugspersonen, und Geheimnisse hinter den auf der Straße lebenden Menschen standen. Vielleicht war jemand vor seiner Familie oder vor einem gewalttätigen Partner geflüchtet. Vielleicht hatte jemand seiner weit entfernt lebenden Familie erzählt, es gehe einem gut, man habe Arbeit, Wohnung und ein normales Leben in London. Es wäre doch grauenhaft, wenn die Realität im Rahmen einer Weihnachtssendung aufgedeckt würde.

Egal, ob sie ein Geheimnis zu wahren hatten oder einfach ihre Würde schützen wollten, keiner der wenigen anwesenden Obdachlosen wollte mit der Presse sprechen oder sich filmen bzw. fotografieren lassen.


Kein Wunder also, dass die meisten ungemütlich und nervös auf ihren Stühlen herumrutschten, während andere die Veranstaltung ganz verließen. Das war es nicht wert, nur um eine billige kostenlose Mahlzeit, einen Keks oder ein alkoholfreies Getränk zu bekommen!


Dave und mir wurde langsam klar, dass diese Veranstaltung die Erwartungen weder der freiwilligen Helfer, etwas Sinnvolles zu tun, noch der Obdachlosen, einen schöneren Weihnachtstag als üblich zu erleben, erfüllen konnte.

Wir verließen den Bahnhof, gingen an den Fahrradständern vorbei auf die Straße. Und da waren sie. Die Obdachlosen! Auf der Straße wimmelte es von obdachlosen Männern und Frauen - und ihren Hunden.

Ja natürlich, das war es!

Frohe Weihnachten - aber Hunde müssen draussen bleiben

Network Rail erlaubte den Obdachlosen nicht, ihre Hunde ins Innere des Bahnhofs oder wenigstens auf das Gelände mitzubringen. Wer eine kostenlos Weihnachtsmahlzeit haben wollte, musste seinen Hund auf der Straße lassen. Was für eine Weihnachtsstimmung! Ist es nicht allgemein bekannt, dass viele Obdachlose, wie andere Hundeliebhaber im übrigen auch, sehr an ihren Hunden hängen und sie nicht allein auf der Straße lassen würden, nicht einmal für eine kostenlose Weihnachtsmahlzeit?!


Aber eine Gruppe von Tierärzten fühlte sich dem wahren Gedanken von Weihnachten verpflichtet und opferte ihren Weihnachtstag, um die Hunde der Obdachlosen zu untersuchen. Im Gegenzug gab es aber von Seiten der Veranstalter kein Entgegenkommen. Der freie Bereich am Seiteneingang des Bahnhofs Euston, der ideal für eine komfortablere Untersuchung und Behandlung der Hunde gewesen wäre, durfte nicht benutzt werden. Daher mussten die freiwilligen Tierärzte auf dem Bürgersteig neben der stark befahrenen Straße arbeiten. Sie untersuchten die Hunde, reinigten Ohren und Abszesse, behandelten Verletzungen, säuberten und verbanden verletzte Pfoten und vieles mehr. Sie verteilten Spielzeug, Hundefutter und Hundemedikamente.

Kurzum - sie boten dringend benötigte Hilfe an. Natürlich blieben die Obdachlosen bei ihren Hunden. Sie waren den Tierärzten so dankbar, dass sie auf die kostenlose Mahlzeit locker verzichteten und lieber in der Gesellschaft ihrer Hunde und der Tierärzte blieben.


Der weihnachtliche Geist der Veranstaltung

Wohlwollen gegenüber allen Menschen, aber nicht deren Hunden. Die müssen draussen bleiben.

Die Organisatoren haben diese Veranstaltung im folgenden Jahr nicht wiederholt. Warum wohl? (LL und DL)




(LL und DL)

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