Mein Friseur - ein guter Mensch
- titanja1504
- 19. Juni
- 8 Min. Lesezeit
(DE) Als ich nach einigen Jahren der Abwesenheit wieder in meine Heimatstadt, in meine Wohnung, in mein Viertel und zu meinen Stammläden zurückkehrte, war trotz der überstandenen Pandemie fast alles noch wie früher. Lediglich meine Friseurin war in Rente gegangen.
Ob das auch für einen Mann ein Problem ist, vermag ich nicht zu sagen, aber für eine Frau, noch dazu in meinem Alter, ist es das definitiv.
Ein Friseurbesuch ist Vertrauenssache.
Man freut sich darauf, weil man vom verstörenden Anblick im Spiegel befreit wird.
Man freut sich darauf, verjüngt und verschönert ein oder zwei Stunden später mit neuem Selbstbewusstsein wieder auf die Straße zu treten.
Man freut sich darauf, dass jemand trotz Falten, Schlupflidern und Doppelkinn glaubt, dass da doch noch etwas zu machen sei.
Aber die Vorstellung, dass man sich grauenhaft entstellt fühlt, weil der Schnitt misslungen und die Haarfärbung mit dem Teint nicht harmoniert, erfüllt einen mit Schrecken. So ein Erlebnis vergisst man nie. Weswegen jede Frau froh ist, wenn sie ihren Friseur oder ihre Friseurin gefunden hat, der oder die es versteht, einen ein gutes Gefühl zu vermitteln. Verliert man nun seinen Friseur oder seine Friseurin, aus welchen Gründen auch immer, steht man vor der schier unlösbaren Frage: Welchem Salon kann ich mich anvertrauen?
Ich machte mich also auf die Suche und blickte durch viele Schaufenster in viele Salons. Dabei fiel mir auf, dass heutzutage mehr junge Männer als alte Frauen beim Friseur sitzen. Die meisten Salons sind eher elegant als gemütlich. Die gestylten Friseurinnen und Friseure scheinen in der Ausbildung gelernt zu haben, dass ein eher hochnäsiger Blick besser zum Berufsethos passt als ein Lächeln im Gesicht.
Teilweise wagte ich nicht, den Laden zu betreten, denn ich fürchtete, dass diese Friseure mit meinem Kopf nichts anzufangen wüssten und mir lediglich mit einem tiefen Seufzer einen Termin gewähren würden.
Doch eines Tages zog es mich zu einen Salon, der nicht mit Eleganz glänzte, sondern mit Lebendigkeit. Auf dem Firmenschild stand dann auch noch etwas von relaxen und so trat ich ein.
Hinter dem kleinen Tresen stand ein junger dunkelhaariger Mann, der, als er aufblickte, ein strahlendes Lächeln in den Augen hatte. Vollkommen verdattert brachte ich vor, dass ich dringend einen Friseur bräuchte und deutete dabei Verständnis heischend auf meine Haare. Im Gesicht des jungen Mannes war kein Erschrecken zu erkennen. Ungerührt beugte er sich über seinen Terminkalender und schlug mir einen passenden Termin vor. Beim Verlassen begleitete er mich zur Tür und verabschiedete sich auch noch mit einem „Ich freue mich!“.
Hatte ich das jetzt wirklich erlebt? Was stimmte nicht mit diesem jungen Mann? Hatte der all die Fortbildungen verpasst, in denen jungen Friseurinnen und Friseuren ein Souveränität suggerierendes hochnäsiges Verhalten gelehrt wurde?
Als ich dann zu meinem Friseurtermin antrat, war ich zutiefst verunsichert. Wo war der Haken?
Ich mach es kurz: Es gab keinen.
Ein Salon zum Wohlfühlen
Dieser junge Mann verpasste meinen Haaren eine natürliche Farbtönung sowie einen passenden Schnitt und er war wirklich einfach freundlich zu jedermann, der den Salon betrat.
Eine ältere Dame wollte nur ihre Haare geföhnt bekommen, weil er das so gut könne wie sonst keiner. Junge Männer ließen sich diese modernen Schnitte verpassen, die mich immer an die 40er Jahre erinnern. Dabei plauderten sie mit dem Friseur ihres Vertrauens wie mit einem alten Freund. Er kannte die Lebensumstände seiner Kunden wohl gut und dennoch stellte er keine aufdringlichen Fragen. Ich hörte ihn auch niemals Verlegenheitsgespräche führen oder Allgemeinplätze von sich geben. Lieber sagte er nichts und konzentrierte sich auf sein Werk.
Als ich einmal eine böse Bemerkung zu einem Kommentar im permanent laufenden Radio abgab, fragte er ganz ernsthaft nach, was ich damit meinen würde. Er unterbrach seine Arbeit, hörte mir aufmerksam zu, nickte zu meiner Erklärung und damit war’s genug.
Einmal unterhielten sich alle Anwesenden über merkwürdige Anrufe, hinter denen oft kriminelle Machenschaften stecken würden. Mein Friseur hörte zu und steuerte schließlich seine Geschichte bei.
Hier im Laden sei eines Nachmittags ein Anruf eingegangen, der etwas merkwürdig gewesen sei. Eine Frauenstimme sagte: „Ach bitte, könnten Sie mir etwas vorlesen, damit ich einschlafen kann?“ Wir lachten alle und dachten an einen Scherz. „Was haben Sie gemacht?“, fragte ich irgendwann. „Naja“, meinte er sehr ernsthaft, „ich hatte gerade keine Kundschaft und da hab ich so Artikel aus den Zeitschriften, die hier herumliegen, vorgelesen. Zwischendrin hab ich immer wieder nachgefragt, ob die Anruferin noch zuhört. Aber irgendwann hörte ich nur noch das Atmen der Dame. Da hab ich leise aufgelegt.“
Mein Friseur einfach ein guter Mensch!
Ich war sprachlos. Die meisten, wozu ich mich auch zähle, hätten erbost aufgelegt oder irgendwelche üblen Machenschaften gewittert. Nicht so mein Friseur. Er konnte dieser ungewöhnlichen, aber auch sehr menschlichen Bitte nachkommen und so tat er es einfach.
Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass mein Friseur nicht nur ein guter Friseur, sondern auch ein guter Mensch sein müsse.
Bei einer anderen Gelegenheit wurde mein Eindruck vertieft.
Es war ein sehr kalter Samstagnachmittag im Frühling und es schüttete den ganzen Tag wie aus Eimern. Mein Friseur war unter Zeitdruck, denn es hatte in der Familie einen Notfall gegeben und er wurde so schnell wie möglich zu Hause gebraucht.
Während er noch mit dem Föhnen meiner Haare beschäftigt war, stürzte ein vielleicht 50-jähriger Mann herein. Er hatte einen Schirm in der Hand und war nur mit einem T-Shirt und einer Hose bekleidet. Beides klatschnass. Während er versuchte, seine Geschichte zu erzählen, nämlich dass ihn ein Freund im Auto nicht habe mitnehmen wollen, verbreitete sich eine Pfütze um ihn herum.
Mein Friseur stand bekümmert vor diesem durchnässten Mann und fragte eindringlich, was er denn tun könne, wie man ihm denn helfen könne. Aber der Mann stürzte wieder aus dem Laden und war verschwunden.
Fassungslos kehrte mein Friseur wieder zum Friseurstuhl, in dem ich saß, zurück und starrte vor sich hin. „Ja, was hätte ich denn tun können? Er hat mir ja nicht gesagt, was er konkret brauchen würde! Ich hab ihn nicht verstanden und jetzt ist er weg!“ Ganz offensichtlich fühlte er sich schlecht, weil er in dieser Situation hilflos war und nicht wusste, wie er besser hätte reagieren können.
Nur eines fiel ihm nicht ein, nämlich sich darüber aufzuregen, dass der Mann in den Laden gekommen war und gestört hatte. Er rechtfertigte sich auch nicht, indem er seinen eigenen Notfall und den Zeitdruck als Entschuldigung dafür anführte, nicht irgendetwas Konkretes unternommen zu haben. Er beteuerte immer nur, dass er doch alles getan hätte, wenn ihm der Mann nur gesagt hätte, wie er hätte helfen können.
Ich habe die Situation ja beobachtet und kann nur sagen, dass ich bis heute nicht weiß, was man für den blitzschnell aufgetauchten und wieder verschwundenen Mann hätte tun können.
Aber so ist er, mein Friseur! Ein Menschenfreund! Ein guter Mensch!
Eine schmerzhafte Erfahrung, die ihn nicht gebrochen hat!
Meine Neugier, welche Lebensgeschichte hinter so einem Charakter steckt, war nun groß und ich begann, vorsichtig nachzufragen. Und so erfuhr ich Stück für Stück seine Lebensgeschichte.

Mein Friseur war ursprünglich ein Ausnahmetalent und zwar als Fußballer. Fußball war von Kindes Beinen an seine große Leidenschaft. Er trainierte hart in der Jugend eines bekannten Fußballvereins und weil er noch dazu großes Talent besaß, wurde er vom Verein sehr gefördert. Mit noch nicht 20 Jahren spielte er bei den Amateuren und niemand zweifelte daran, dass hier ein begnadeter Profi-Fußballer heranwuchs. Mehrere Stunden Training täglich neben der Lehre füllten seine Tage ganz schön aus. Und an den Wochenenden ging’s zu den Spielen. Sein Talent war überragend und er genoss das Gefühl von Anerkennung und Bewunderung, das ihm zuteil wurde. Nur noch eine kleine Weile und er konnte den Schritt zum Profifußballer tun!
Aber seine Lehre wollte er dennoch abschließen. Einen Berufsabschluss zu besitzen, erschien ihm trotz der verheißungsvollen Zukunft als Profifußballer als sinnvoll. Sein Ausbilder und Chef unterstützte den Weg seines Azubis, der mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und gleichzeitig seinen großen Traum verwirklichen wollte.
Und dann begann das Schicksal ihm Stolpersteine in den Weg zu legen.
Er bekam einen neuen Chef. Dieser war nun nicht mehr so geneigt, den Auszubildenden im dritten Lehrjahr auch hinsichtlich seiner Fußballkarriere zu unterstützen. Die Chemie zwischen den beiden stimmte einfach nicht und es kam zum Zerwürfnis und zu einer typischen Reaktion eines jungen Mannes in den 20ern, der das verzweifelte Hoffen noch nicht hatte lernen müssen, sondern, vom Schicksal verwöhnt und mit Talent und Aufmerksamkeit gesegnet, an sich und sein Glück einfach glauben konnte.
Der Lehrling warf mitten im letzten Lehrjahr hin und setzte alles auf eine Karte, nämlich auf Fußball.
Das war nicht unrealistisch, denn nicht nur er selbst, sondern der ganze Verein mit seinen Fans glaubte an den begnadeten Mittelstürmer.
Wenige Wochen nach der Kündigung seiner Lehrstelle passierte es dann. Ein Fußballspiel in der Halle! Mit dem linken Fuß umgeknickt! Knöchelbruch!
Die große Hoffnung des Vereins lag erst einmal im Krankenhaus.
Natürlich konnten die Ärzte den Bruch wieder richten. Nach der Heilung folgte die Reha, begleitet von der Unruhe des Patienten, der an seiner vollständigen Wiederherstellung wie besessen arbeitete.
Um Muskeln und Ausdauer zu trainieren, nahm er, sobald das physisch möglich war, einen Job als Postzusteller an und zwar Postzusteller per Fahrrad ohne Elektromotor.
Nicht nur der junge Mann hoffte auf seine vollständige Genesung, sondern auch der Fußballverein. Er ließ es nicht an Unterstützung fehlen. Über ein Jahr blieb die Tür der Amateure und damit zur Profikarriere offen. Und zwar aus Überzeugung der Vereinsoberen wie auch der Spieler. Ihr Captain sollte zurück kommen, musste zurück kommen! So ein Talent konnte doch nicht einfach verschwinden!
Aber das, was keiner glauben wollte, geschah. Er wurde nie wieder so gut, wie er einmal gewesen war. Irgendwann musste nicht nur er selbst, sondern auch der Verein diese Entwicklung akzeptieren und die Tür zur Profikarriere schloss sich ein für alle Mal.
Wie verkraftet ein junger Mann Mitte 20, der sein ganzes Leben auf diesen Traum ausgerichtet hatte, der kurz vor dem Ziel stand, diesen Schicksalsschlag?
Als ich ihm diese Frage stellte, bekam sein Gesicht einen wehmütigen Ausdruck. Er hatte zu dem Zeitpunkt, viele Jahre später, immer noch nicht den richtigen Ausdruck parat, der seinem damaligen Empfinden gerecht würde.
„Ich konnte auf keinen Fußballplatz gehen. Ich konnte nicht einmal im Fernseher ein Spiel anschauen, nicht einmal mit meiner Familie gemeinsam“, versuchte er mir seine Gefühlslage zu erklären. „Sogar heute noch mischt sich Trauer unter meine Fußballbegeisterung, wenn ich die Spieler auf dem Platz agieren sehe. Das hätte ich sein können. Der Gedanke ist nicht zu unterdrücken.“
Man spürt, dass diese Wunde noch lange nicht verheilt ist, auch nach all den Jahren.
Aus diesem Grund fragte ich nicht nach, wie er die Orientierungslosigkeit nach dem endgültigen Fußball-Aus erlebt, ja überlebt hat. Aber eines kann man heraushören. Weder er, noch seine Familie hatten es wohl leicht in dieser Zeit.
Und hier kommt nun der Vater ins Spiel, der einen Friseursalon betreibt, unterstützt von seiner Ehefrau. Diese Eltern scheinen ihren traumatisierten, traurigen und natürlich auch zornigen Sohn nicht bedrängt zu haben, doch nun mit seinem Leben etwas Sinnvolles anzufangen und nicht mehr diesem Traum nachzuhängen. Sie ließen ihm wohl Zeit zum Trauern. Das ist schwer für Eltern und daher eine große Leistung.
Doch eines Tages überraschte er sie und sich selbst mit einem Entschluss.
Der junge Mann, der im Salon seines Vaters nach Lust und Laune aus und ein ging, hatte eines Tages völlig unerwartet den Wunsch, sich von einer angestellten Friseurin ausbilden zu lassen.
Als er an diesem Tag aufgestanden war, hatte er noch selbst nichts davon gewusst. Erst als er sich im Laden zur Mitarbeiterin seines Vaters sagen hörte, „Wollen Sie mich als Lehrling haben?“, wurde ihm bewusst, dass er eine Entscheidung für sein weiteres Leben getroffen hatte.
Heute ist er sehr gern Friseur und schafft es, seinen Kunden ein Gefühl zu geben, als würde sich der Künstler in ihm auf die Aufgabe freuen.
Da ist außerdem so ein positiver Touch bei jedem Friseurbesuch zu spüren. Er blickt nie gleichgültig auf die Köpfe seiner Kunden, sondern mit diesem ganz speziellen kreativen Blick, der fragt: Was machen wir denn heute Schönes?
Tja und dann sieht man ihm die Freude an, wenn sein Werk gelungen ist. Immer etwas anders, niemals identisch!
Und immer wieder einmal sagt er sogar mir, einer alten Dame, zum Abschied: „Sie sehen gut aus.“
Da ich ja den einen oder anderen Spiegel zu Hause habe und den einen oder anderen Blick immer wieder hinein werfe, kann ich nur wiederholen: Mein Friseur ist ein guter Mensch! (TA)




