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Komm ins Jenseits!

  • Tanja
  • 1. Mai 2024
  • 8 Min. Lesezeit

-Die „Zettelaffäre“ aus drei Perspektiven- 


Das Mädchen im Jahr 1977 

(DE) Als sie an diesem Junimorgen 1977 allein in einem fremden Bett erwachte, war sie äußerst zufrieden damit, wie sich die Situation zwischen ihr und dem Objekt ihrer Begierde entwickelt hatte. 


Der junge Mann, dem dieses Bett, ja die ganze spießig bis schäbig möblierte Studentenbude gehörte,  war zwar nicht mehr anwesend, aber das machte nichts. Sie hatten die Nacht miteinander verbracht und das war das einzige, was zählte. 


Seit Monaten hatte sie ein Auge auf diesen breitschultrigen, gut aussehenden Studenten des höheren Semesters geworfen, der, begegnete man ihm in Seminarräumen, in der Uni-Cafeteria oder in der Bibliothek, äußerst unnahbar, ja fast desinteressiert am Unibetrieb und sogar an hübschen Studentinnen wirkte. 

Auch in den Wohngemeinschaften oder diversen politischen Organisationen und Zirkeln, in denen sie sich bewegte, war er nie aufgetaucht. Sie musste zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, dass er die Stammkneipen ihres Freundeskreises offensichtlich nicht häufig besuchte. Da es zu dieser Zeit in Regensburg eine große Anzahl an Studentenkneipen gab, war eine gezielte Suche ein hoffnungsloses Unterfangen.  

 

Dass er wie sie Germanistik und Politik studierte, hatte sie allerdings gleich zu Beginn ihrer Leidenschaft für diesen einsamen Wolf mit Erleichterung festgestellt. So konnte sie dafür sorgen, dass man sich öfter über den Weg lief. Ihre Wirkung auf Männer würde ein Übriges tun, da war sie sich sicher. 


Naja, in diesem Semester konnte sie auch dringend etwas Aufregung brauchen, denn sie saß täglich mehrere Stunden im Intensivkurs für Latein, um das große Latinum nachmachen zu können, das Voraussetzung für ein Geschichts- und Germanistikstudium in Bayern war. Spaß machte das wahrlich nicht. Ablenkung tat not. 


Er war jedoch durchaus mehr als nur Ablenkung, er war eine Herausforderung, er war ein Mann, den sie nicht verstand. Sie konnte nicht sehen und auch nicht spüren, woher er kam, wofür er stand und wohin er wollte. Alle ihre Freunde und die Mitbewohnerinnen und -bewohner in der Wohngemeinschaft hatten Vorstellungen von einer freieren Lebensart, von Lebensaufgaben und Idealen, waren neugierig auf neue Erfahrungen, hatten Lust auf Experimente und scheuten Anpassung und Spießigkeit wie der Teufel das Weihwasser. 

Nichts von alledem fand sie bei ihm. Nur in einigen wenigen Momenten spürte sie, dass er auch auf der Suche war, aber sehr verhalten, ja fast gehemmt und äußerst misstrauisch jedweder emphatischen oder idealistischen Anwandlung gegenüber. Sein Sarkasmus war für sie ungewohnt und ernüchternd, aber eben auch herausfordernd. 


Schließlich war sie also tatsächlich mit ihm im Bett gelandet und sie wollte nun erst recht nicht aufgeben. Im Gegenteil, sie fand, dass sie nach all den Mühen ein Anrecht auf eine Romanze hatte. Er gefiel ihr und die Unentschlossenheit würde sie schon in Entschlossenheit umwandeln. 


Es war daher strategisch besser, nicht im Bett auf seine Rückkehr vom Studentenjob als Postfahrer zu warten, sondern zu verschwinden, sich rar zu machen und gleichzeitig eine weitere Verabredung nicht dem Zufall zu überlassen. 

Also hinterließ sie ihm eine Notiz: „Wenn du mich wiedersehen willst, komm ins Jenseits“


Der Vater im Jahr 1977 

Auf dem Weg zum Studentenzimmer seines Sohnes am südlichen Stadtrand von Regensburg zermarterte er sich den Kopf, wie es mit seinem Sohn nun weitergehen könnte. Sein Jüngster hatte die Magisterprüfung im Fach Politologie mit dem Nebenfach Germanistik geschafft, war nun also Akademiker. Ein Erfolg! Aber noch keine Karriere. Noch besser als ein einfacher Akademiker wäre ein verbeamteter Akademiker vielleicht sogar mit Doktortitel. Der wäre dann der erste und bisher einzige in der Familie. 


Er und seine Frau Maria waren nach dem Krieg aus einem kleinen Dorf mitten im Bayerischen Wald immer weiter in Richtung Stadt gezogen, bis sie sich schließlich in Landshut in einer netten Eigentumswohnung für immer niedergelassen hatten. 

Sie hatten sich, obwohl sie aus einfachen, fast ärmlichen ländlichen Verhältnissen stammten, ein sehr anständiges kleinbürgerliches Leben aufgebaut. Er konnte sich als Polizist bewähren und zum Kriminalbeamten aufsteigen. 


Dass nun sein Sohn einen noch viel höheren sozialen Status erreichen konnte und sicherlich auch noch erreichen würde, erfüllte ihn mit großer Befriedigung und mit Stolz. 


Heute würde er mit dem Sohn über diese Zukunftsvorstellungen sprechen wollen. Der sollte ihm sagen, wie man nun mit so einem Politik- und Germanistik-Studium zu einem angesehenen, sicheren und gut bezahlten Beruf kam. Wenn er dazu noch etwas brauchen sollte, dann würden er und seine Frau ihn schon unterstützen. Aber der Bub musste jetzt was machen, was Sinnvolles, was Ernsthaftes, was Richtiges, Handfestes! Das wollte er ihm klarmachen. 


Als er jedoch das Dachzimmer betrat, in dem sein Sohn zur Untermiete wohnte, war es leer. Das Bett war nicht gemacht und aufgeräumt hatte auch niemand. 


Gut, dass das die Maria nicht sieht! Die würde sofort die Ärmel hochkrempeln und schimpfend und murrend aufräumen und dabei ein äußerst interessiertes Auge auf dies und jenes Detail werfen. Er schmunzelte.  


Naja, ging es ihm durch den Kopf, so ein bisschen herumstöbern konnte er ja auch bei der Gelegenheit. Dann wäre er nicht ganz umsonst gekommen. Vielleicht würde er Anhaltspunkte für Zukunftspläne seines Sohnes finden. Man war ja als Kriminaler mit einer gewissen Kombinationsgabe gesegnet! 


Und da fiel ihm so eine handgeschriebene Notiz in die Hände: „Wenn du mich wiedersehen willst, komm ins Jenseits“.



Jessas! Da wollte offensichtlich so ein narrisches Weibsbild seinen Sohn zum gemeinsamen Selbstmord verführen!  


Als Woidler, wie man die stoisch wirkenden Männer des Bayerischen Waldes in Bayern nennt, war ihm die Schwermut durchaus bekannt. Sie war ein selbstverständlicher, aber nicht maßgeblicher Bestandteil der allgemeinen Gemütsverfassung im Bayerischen Wald. Umbringen wollte sich jedenfalls kaum einmal jemand, selbst wenn das Schicksal noch so hart zuschlug. 


Er hatte auch schon einiges über das wilde und verrückte Studentenleben in den Großstädten gehört. Was diese Studentinnen so alles im Kopf hatten?! Sogar Selbstmord! Als Kriminaler waren ihm durchaus schon Suizide untergekommen. Aber sein Sohn und so eine Irre!?


Bei nächster Gelegenheit würde er seinem Sohn auf den Zahl fühlen, mit wem der sich da herumtrieb. Bei so einem indirekten Aushorchen, was er ja durchaus professionell beherrschte, würde er schon herausfinden, ob man den Sohn vor diesem Selbstmord gefährdeten Weibsbild warnen müsse. Der konnte ja in Teufels Küche kommen, wenn die sich wirklich umbrachte. 



Der Sohn im Jahr 2024 

Ja, was wird er sich gedacht haben, mein armer Vater, als er das las: „Wenn du mich wiedersehen willst, komm ins Jenseits“. Gerade noch war er vor einem Regensburger Gericht als Zeuge aufgetreten. Für den ermittelnden Kriminalbeamten war das regelmäßige Pflicht. An die Auftritte vor Richtern und Staatsanwälten hatte er sich gewöhnt. Nie habe ich bemerkt, dass er an solchen Tagen am Morgen nervös ins Auto gestiegen wäre. Allerdings schienen ihn die Anwälte der Angeklagten mitunter in die Zange genommen zu haben, denn auf die, das weiß ich aus gelegentlichen Äußerungen, war er nicht gut zu sprechen.

Abgehakt. Solche Ausflüge ins Gericht waren immer auch ein wenig Urlaub. Weg von den verqualmten Kripobüros, in denen die Vernehmungsprotokolle non stop in die Schreibmaschinen gehackt wurden. Weg von den knarzenden Fluren und den umgewidmeten hohen Stuckräumen in der alten Landshuter Stadtvilla, wo sich mehrere Dutzend Männer und ein paar wenige weibliche Kripobeamtinnen einen beinharten Leistungswettbewerb lieferten. Nach dem Auftritt vor Gericht blieb immer auch ein wenig Zeit zum Durchatmen, zum Bummeln. Eine Brotzeitpause in einer Wirtschaft auf der Heimfahrt; ein Kurzbesuch bei einem der beiden Brüder in Regensburg, noch mit dem harten, ins Gesicht gemeißelten Ernst, den ein Auftritt vor Gericht hinterlässt.

An diesem Tag blieb sogar ausnahmsweise mehr Zeit. Nie hatte er in den fünf, sechs Jahren zuvor die Studentenbude seines Sohnes besucht. Er war ihm in der nur eine Stunde entfernten Universitätsstadt nie auf die Pelle gerückt, weil der Sohn wusste, was er tat. Und wie recht hatte er behalten. Erst unlängst war dem Hoffnungsträger der Familie mit einer Prädikatsnote die Punktlandung im Examen gelungen. Was lag da näher, als ihn einmal, heute, in seinem Domizil zu überraschen, zu ihrer beider Freude? Schließlich hatten die Jahre des entbehrungsreichen akademischen Arbeitens Früchte getragen. Alle Hoffnungen waren in Erfüllung gegangen. Jetzt würde sich das weitere Leben des Sohnes wie eine bestens polierte Rutschbahn anfühlen. 


Mir ist bis heute nicht klar, woher er wusste, in welcher der vielen Regensburger Studenten-Mansarden er mich finden würde. Denn wegen des Examens war ich wenige Monate zuvor aus meiner bisherigen WG ausgezogen. Zu viele Gelage, zu viel jugendliche Ersatzfamilie, zu wenig Ausdauer und Disziplin, die ich nur an den Wochenenden bei den Eltern mühsam an die Wand malte.

Genauso wenig weiß ich, wie er es schaffte, das Zimmer zu betreten. War die Tür nicht abgeschlossen? Hatte er die im Erdgeschoß wohnende junge Frau als Komplizin gewonnen, hatte er ihr vielleicht gar die Polizeimarke, die er an einer Kette in seiner Hosentasche trug, unter die Nase gehalten? Jedenfalls kann ich ausschließen, dass er lange suchen musste, bis ihm der ominöse Zettel mit dem Ticket ins Jenseits in die Hand fiel. Denn Bücher, Aktenordner, Referate und sonstigen Studienkram hatte ich nach den Prüfungen radikal beseitigt. Nur noch die Schichtdienste bei der Regensburger Post mussten überlebt werden. Alles Geschriebene dagegen versetzte mich zuverlässig in Tiefschlaf.

Aus heutiger Sicht möchte ich meinem Vater gerne helfen, das Gelesene zu verstehen. Nur ein dummer Irrtum, Papa. Das ist nicht das Jenseits, an das du denkst, sondern nur eine Studentenkneipe. Schön, dass du da bist. Ziemlich überraschend, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber jetzt lass uns was Tolles miteinander machen, tun wir doch sonst nie. Mann, bin ich fertig von der letzten Schicht. 

Stattdessen steht er allein im unaufgeräumten Zimmer. Vom zerwühlten Bett geht keine Botschaft aus, und wenn, dann keine gute. Auch sonst ist nichts wohnlich und schön oder vertrauenserweckend in dieser absurd leeren Bude. Vor allem aber: Ich bin nicht da, ich kann den Irrtum nicht auflösen. Ich kann ihn nicht auf angenehmere Gedanken bringen.

Nur in meiner Phantasie sehe ich den Film, wie der Tag für ihn endet. Vielleicht bleibt er nicht lange in diesem Zimmer, in dem die Luft plötzlich verbraucht ist. Vielleicht hat er kein Auge mehr für die sympathische Frau von unten, die ihm aufgesperrt hat, und an der er jetzt wie ein Zombie vorbeiläuft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auf der Rückfahrt nach Landshut über sich und den vertrackten Zettel gelacht hat. Der Mann hatte zu viele wirkliche Selbstmorde, wahrscheinlich auch von jungen, verzweifelten Menschen, in seiner Polizeikarriere gesehen. Und gelacht hat er sowieso nie, allenfalls geschmunzelt.

Aber ich staune bis heute über die Gefasstheit, mit der er die Sache an jenem Tag zu Ende bringt. Er hat nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um seinen Sohn vor einer Gefahr zu bewahren, so wie ich es in der gleichen Situation ziemlich sicher getan hätte. Als Polizist hätte er gewusst, wo die Alarmknöpfe sind, auf die man in solchen Fällen drückt. Er fuhr nach Hause, der Tag war anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht tauchte er noch am Nachmittag in der nikotinverseuchten Polizeivilla auf und stürzte sich in die Protokolle zum nächsten Realsuizid.

Vermutlich hat er mit meiner Mutter am Abend über die gekritzelte  Botschaft gesprochen und sie hat ihn beruhigt. Keine wirkliche Gefahr im Verzuge, wer weiß, was die sich so schreiben. Wieso hast du ihn eigentlich besucht, wenn du gar nicht wusstest, ob er da ist? Du bist ja selber schuld. Gut möglich, dass ihm diese vertraute eheliche Ansprache half, sich wieder einzunorden. Seine Sorgen um den Sohn, dem er innerlich so nahestand, haben nach dieser Gardinenpredigt vermutlich nachgelassen. Niemand konnte dem Sprössling ein Leids tun. Auch nicht eine Person, die in einer heruntergekommenen Bude derart merkwürdige  Botschaften hinterließ.  


Wirklich unbeeindruckt, das merkte ich ein paar Wochen später, war er von der Zettelaffäre aber doch nicht. Und jetzt werden meine Erinnerungen, zugegebenermaßen, sehr luftig. Ich weiß, dass er mich bei irgendeiner Gelegenheit, wahrscheinlich am Wochenende bei den Eltern, zur Seite nahm und mich vor der Verfasserin der Notiz warnte. Ich weiß, dass er die Warnung leise, aber mit Nachdruck aussprach. Ich erinnere mich, dass ich erst stutzte und dann erleichtert auflachte, als ich ihm die verblüffend einfache Auflösung des Rätsels nahebrachte.

Und zu meiner Schande ist da auch die Erinnerung an die klammheimliche Freude, die mich sekundenlang durchzuckte. Geschieht dir recht, warum stöberst du in meinem Zimmer herum und liest Nachrichten, die dich nichts angehen. Denn heute, und das weiß ich wieder genau, würde ich ihn gerne trösten, ihn schon an der Tür lachend empfangen, den Zettelkram in die Ecke schmeißen und ihn möglichst lange von der Heimfahrt abhalten. (SAGT)  

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