Vom Schreinerlehrling zum Beamten
- titanja1504
- 11. Apr. 2024
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Juni 2024
-München 1953 bis in die 90er Jahre-
(DE) Aufgeregt und stolz stand ich am Morgen des 03. August 1953 vor der Schreinerwerkstatt Bauer in der Kazmairstraße auf der Schwanthalerhöhe in München, wo ich meine Lehre machen sollte. Noch war niemand da. In meinen Gedanken ging ich die Ermahnungen meiner Eltern nochmals durch: Aufpassen, lernen, nicht frech, sondern freundlich und höflich sein! Als der Geselle dann endlich mit seinem Fahrrad ankam, begrüßte ich ihn mit einem höflichen „Guten Morgen“ und stellte mich als neuen Lehrling vor. „Bürscherl“, antwortete er, „dir werd ich deine Lehrzeit so sauer wie möglich machen!“
Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Ich war natürlich sehr erschrocken und auch gekränkt ob dieser Drohung. Noch hatte ich ja nichts falsch machen können und was würde er erst sagen oder gar tun, wenn ich etwas falsch machte?
Diesem Gesellen traute ich in den drei Jahren meiner Lehrzeit nicht mehr über den Weg, obwohl er durchaus auch seine friedlichere Seite immer wieder einmal zeigte. Ich blieb distanziert. Ich kann eigentlich gar nicht sagen, ob der Geselle oder der Meister mir das Leben wirklich so sauer wie möglich machten, denn als Lehrling hatte man zu tun, was einem angeschafft wurde, ohne Widerrede. Und wie einem etwas angeschafft wurde, kümmerte erst recht niemanden. Ich nahm das als unausweichlich hin, ließ mich aber in meinem Selbstwertgefühl nicht beeinträchtigen. Aber zu irgendwelchen Bergwanderungen mit ihm und seinen Freunden konnte mich der Geselle niemals überreden. Das war ich mir und meinem Stolz schuldig.
Ich denke nicht, dass dieser Schreinergeselle je über Erziehung von und Umgang mit Jugendlichen nachgedacht hat. In den 50er und 60er Jahren dachte man zuallererst daran, Kindern und Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen, sie dazu zu bringen, sich unterzuordnen. Schulkinder durften von den Lehrkräften ja sogar noch geschlagen werden. Das Sprichwort „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ war damals ein Standardspruch für die Ausbildungsphase nach der Schulzeit. Dass nur ja niemand auf die Idee käme, er habe individuelle Rechte und Respekt verdient!
Im Geiste dieser Zeit tat ich, was mir angeschafft wurde. Und ich verrichtete sogar Arbeiten, die ich kräftemäßig kaum schaffen konnte. Beispielsweise musste ich regelmäßig Bretter mit einem Zweiradkarren von der Hochstraße im Münchner Osten holen, weil die Schreinerei kein Lastauto besaß. Das waren ca. fünf Kilometer quer durch die Stadt hin und dann mit der beladenen Karre wieder zurück. Wenn ich die schwer beladene Karre den Theresienberg zur Kazmairstraße hochhieven musste, hätte ich das ohne die Hilfe freundlicher Passanten meist kaum geschafft. Aber mich zu beschweren, war keine Option. Das tat man einfach nicht als Lehrling. Außerdem machte mir der Schreinerberuf nicht nur Spaß, sondern ist auch auf ewig mit der Erinnerung an mein erstes selbst verdientes Geld verbunden.
8 DM Wochenlohn
Als Lehrling im ersten Lehrjahr hatte ich wöchentlich ganze 8 Mark in meiner Lohntüte, die immer samstags, kurz vor Feierabend auf der Kreissäge lag. Von meinem allerersten Lehrlingsgehalt kaufte ich mir Schlittschuhe. (Kaufkraft 50er Jahre s.u.)
Wenn nämlich der Kessel des Nymphenburger Kanals im Winter zugefroren war, traf sich dort Jung und Alt zum Schlittschuhlaufen bei Schlagermusik von Rudi Schurike, Willi Hagara und Bulli Buhlan. Ein Lautsprecher beschallte die Schlittschuhläufer auf der Eisfläche, die dort zur Hitliste der 50er Jahre tanzten.
Auch heute noch wird auf dem Nymphenburger Kanal im Winter Schlittschuh gelaufen, allerdings ohne Musik. Es treffen sich Gruppen zum Eisstockschießen oder Eishockeyspielen. Diese Tradition ist im Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg erhalten geblieben.
Als ich dann 16 Jahre alt war, verdiente ich etwas mehr und konnte mir mit Unterstützung meiner Eltern ein Viktoria Moped auf Raten im Fahrradgeschäft Kocian in der Frundsbergstraße 13 - 15 kaufen. Heute ist dort immer noch ein Fahrradgeschäft.
So motorisiert erreichte ich nicht nur meine Lehrwerkstatt komfortabler, sondern auch Freunde in anderen Münchner Stadtteilen. Einer davon verschaffte mir mein erstes sexuelles Erlebnis mit einem Mädchen. Romantisch war das nicht gerade, aber effektiv.
Erste sexuelle Erlebnisse
Dieser ältere Freund hatte an Wochenenden oft eine sturmfreie Bude, weil seine alleinerziehende Mutter als Straßenbahnschaffnerin regelmäßig am Sonntag Schichtdienst hatte. An solchen Sonntagnachmittagen besorgten wir uns von einer nahegelegenen Baukantine, die sonntags geöffnet hatte, zwei Flaschen „Insel Samos“ Wein, die wir gemeinsam mit seiner Freundin Maria tranken. Normalerweise verschwanden die beiden irgendwann im angrenzenden Schlafzimmer. Aber eines Tages war mein Freund der Meinung, dass ich nun auch etwas in Hinsicht Liebesspiel lernen sollte. Er ließ die Schlafzimmertür einen Spalt offen, sodass ich die Liebesgeräusche mithören konnte. Dann rief er mich zu ihnen und man kann sagen, dass mich von da an niemand mehr aufklären musste.
In den 50er Jahren war in der Öffentlichkeit Sexualität ein absolutes Tabu. Wenn man bedenkt, wie aufgeregt auf die kurz aufblitzende nackte Haut von Hildegard Knef in dem Film „Die Sünderin“ von Kirche und Politik reagiert wurde, so müssten meine ersten Schritte in die Welt der körperlichen Liebe überaus verdammenswert und ungehörig gewesen sein. Aber wie das immer so ist, wenn Moral und Tabus in einer Gesellschaft besonders hoch gehalten werden, die wenigsten halten sich dran. Man tut Unmoralisches halt in aller Heimlichkeit.
Laut einer amtlichen Erhebung aus den frühen 50er Jahren war bei drei Vierteln der Ehewilligen eine Schwangerschaft der Heiratsgrund. Über Verhütung wurde nämlich auch nicht offen geredet.
Einige Jahre später, als ich die Liebe meines Lebens traf, hielten wir uns natürlich nicht an Moralvorschriften und unser Sohn war schon drei Monate alt, als wir im August 1960 heirateten.
Für uns drei Jugendlichen aber hatten unsere ersten sexuellen Erfahrungen damals keine Folgen und wir haben uns nach einigen weiteren sehr schönen Sonntagnachmittagen, manchmal auch mit einer Freundin Marias, aus den Augen verloren. Unsere Lebenswege trennten sich, wie das bei Jugendfreundschaften durchaus üblich ist.
Höhere Löhne für Ungelernte in der Industrie
Ich beendete jedenfalls am 22. September 1956 erfolgreich meine Schreinerlehre und arbeitete noch fast ein Jahr als Schreinergeselle in meinem Ausbildungsbetrieb. Die Auftragslage für die Schreinerei Bauer war gut in dieser Zeit. Wir hatten viele lukrative Aufträge von Kirchen. Besonders in der Bürgersaalkirche in der Neuhauser Straße im Zentrum Münchens führte ich häufig Arbeiten durch. Aber der Meister war schon weit über 70 Jahre alt und fand offensichtlich keinen Nachfolger, der die Werkstatt übernommen hätte.
Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre verlor das Handwerk seinen goldenen Boden, wie man so schön sagt. Die industrielle Fertigung eroberte die Märkte. So war klar, dass dieser klassische Handwerksbetrieb bald schließen würde.
Für uns Arbeiter und Handwerker war aber besonders das Lohngefälle zwischen kleinen Handwerksbetrieben und industriellen Betrieben von Bedeutung.
Der Wochenlohn für einen Schreinergesellen betrug in den 50er Jahren 53,76 DM brutto. Bei einer 48-Stunden-Woche war das ein Stundenlohn von 1,12 DM.
Einer meiner Freunde arbeitete als ungelernter Wirker in einer der vielen Münchner Strumpffabriken und verdiente 2,40 DM pro Stunde. Da musste ich nicht lange überlegen.
Ich hängte ein knappes Jahr nach meiner Gesellenprüfung meinen erlernten Beruf an den Nagel und nahm nun täglich von den 12 Maschinen der Strumpffabrik Hadi in der Winzererstraße fertige Strümpfe ab, hängte sie auf und transportierte sie weiter zur Verpackung.
Die Textilindustrie wurde besonders durch Firmengründungen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten und der DDR zum Ende des 2. Weltkriegs ein signifikanter Wirtschaftsfaktor in Bayern. Es gab 1955 bayernweit ca. 1380 Textilbetriebe. Besonders die Produktion von Feinstrümpfen brachte in den 50er Jahren aufgrund der Mode große Umsatzzahlen. 1957 war die Zahl der Beschäftigten der Textilindustrie in Bayern auf einem Höchststand von 119.688. Und ich war nun einer von ihnen.

Mir machte die Eintönigkeit der Arbeit nichts aus, denn als junger Mann der Wirtschaftswunderzeit hatte ich so manchen Traum, den ich mir erfüllen wollte. Beispielsweise konnte ich von meinem Freund Alois eine zwar fahrbereite, aber beschädigte NSU Lambretta kaufen und liebevoll herrichten. Wir planten sogar Reisen mit dieser Lambretta. Die Welt stand uns offen.
Und weil auch unsere Arbeitskraft sehr gefragt war, wechselte ich nochmals den Arbeitgeber, nämlich zur Strumpffabrik Tauber am Biederstein. Hier arbeitete man 60 Stunden pro Woche im Schichtdienst, was den Wochenlohn noch um einiges erhöhte. 144 DM brutto pro Woche, das war sehr gut! Damit konnte man schon etwas anfangen!
Nun, so dachte ich, würde ich mir mit Hilfe meines gut bezahlten Jobs in der Strumpffabrik Tauber eine Existenz aufbauen und in meiner Freizeit das Leben genießen.
Aber es kam anders!
An einem Montag hing an der Anschlagtafel im Eingangsbereich eine merkwürdige Mitteilung. Die Zahlungen an die Gläubiger seien eingestellt worden. Wegen der guten Auftragslage sollten sich die Mitarbeiter aber keine Sorgen machen.
Es stimmte schon, der Laden brummte. Die Produktion lief auf Hochtouren und der Versand fand wie immer statt. Der Umsatz war wohl nicht eingebrochen. Welchen Grund sollte es also geben, die Fabrik zu schließen?!
Am Mittwoch der selben Woche hatte ich Tagschicht und erlebte ein absurdes Szenario. Fremde Geschäftsleute betraten den Maschinensaal und gaben sich als Gläubiger zu erkennen. Sie nahmen die Perlonspulen und Garne von den Maschinen. Damit war der Arbeitsprozess gestoppt.
Wir Arbeiter verlangten nun Aufklärung, aber weder die Sekretärin der Geschäftsführung noch der Betriebsrat wussten etwas. Herr und Frau Tauber waren nicht anwesend und auch telefonisch nicht erreichbar.
Als am späten Nachmittag ein Konkursverwalter auftauchte, erhielten wir endlich Informationen über unsere Lage:
Der Betrieb sei praktisch pleite und habe Konkurs angemeldet. Er müsse jedem Mitarbeiter die Kündigung aussprechen, ein entsprechendes Schreiben werde später ausgehändigt. Die Kündigungsfrist von 14 Tagen müsse jedoch eingehalten werden und jeder solle in diesen zwei Wochen täglich zur Arbeit erscheinen, obwohl es nichts mehr zu arbeiten gebe.
Also saßen wir in den Hallen, spielten Karten und sahen den Gläubigern zu, wie sie das Inventar und die Maschinen abtransportierten. Eine absurde Situation.
Die Firmeneigentümer, Herr Tauber und seine Frau, hatten sich ins Ausland abgesetzt und konnten für den verschleppten Konkurs rechtlich nicht mehr belangt werden. Einer der Hauptgläubiger war wohl durch den Konkurs ebenfalls ruiniert worden und nahm sich das Leben, wie man Presseberichten entnehmen konnte.
Alle Beschäftigten mussten sich zum Ablauf der Kündigungsfrist nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen, eine Übernahme und Fortführung des Betriebes war ja offensichtlich nicht angedacht und in Ermangelung von Maschinen und Inventar auch nicht mehr möglich.
„Stempeln gehen“
Ende August 1958 war ich also arbeitslos, meldete mich arbeitslos und musste wöchentlich zum „Stempeln“ ins Arbeitsamt an der Thalkirchner Straße gehen.

In dieser Zeit hatten die Arbeitslosen einmal pro Woche beim Sachbearbeiter im Arbeitsamt zu erscheinen und um Arbeit nachzufragen. Wenn es keine passende Stelle gab, erhielt man einen Stempel auf die Rückseite der Meldekarte und anschließend im Erdgeschoss an der Kasse sein Arbeitslosengeld. In meinem Fall waren das ca. 58 DM pro Woche. Das war für damalige Verhältnisse relativ viel. Ich war zu dieser Zeit noch jung und ungebunden, lebte zu Hause bei meinen Eltern, hatte kaum Verpflichtungen und fühlte mich daher in den ersten beiden Wochen meiner Arbeitslosigkeit wie ein Urlauber.
Der Sachbearbeiter des Arbeitsamtes kannte den Arbeitsmarkt in München natürlich gut und wusste genau, dass ein junger Mann wie ich mit Ausbildung und Berufserfahrung keine Probleme haben würde, Arbeit zu finden, wenn er denn wollte. Daher nannte er mich einen „faulen Hund“, als ich bei ihm vorsprach, um entweder eine Arbeitsstelle angeboten zu bekommen oder den Stempel für die Auszahlung des Arbeitslosengeldes zu erhalten. Damals war die Beschimpfung eines Arbeitslosen durch Mitarbeiter des Arbeitsamtes kein Vergehen, vielmehr fühlte sich der Arbeitslose eher beschämt und stigmatisiert in seiner Situation. So auch ich.
Nach zwei Wochen hatte ich dann durch Eigeninitiative eine Stelle in der Strumpffabrik Haaser & Co. in der Augustenstraße in der Münchner Maxvorstadt bekommen.
Träume und Entscheidungen
Nun war ich also wieder in Lohn und Brot und plante mit meinem Freund eine mehrwöchige Urlaubsreise mit meinem NSU Roller nach Frankreich. So eine Reise ins Ausland war schon ein Traum und wir mussten vieles bedenken: Überlegen, was unbedingt mitgenommen werden musste, Geld sparen und den Umtausch in Franc planen, die Gültigkeit des Passes überprüfen, sich über günstige Übernachtungsmöglichkeiten in Reisebüchern oder -büros informieren, Landkarten und ein Wörterbuch Deutsch-Französisch besorgen … Es gab ja noch eine Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Es gab noch unterschiedliche Währungen in Deutschland und Frankreich und es gab kein Internet, das man hätte befragen können und kein Handy, das einen die Orientierung und Kommunikation im Ausland hätte erleichtern können. Informationen musste man mühsam zusammentragen oder man fuhr auf gut Glück erst einmal los und löste die Probleme dann vor Ort.
Während all dieser Vorbereitungen lief mir eine hübsche Ablenkung über den Weg. Sie hatte blaugraue Augen und ich verliebte mich sofort in sie.
Wie das so ist bei knapp 20-Jährigen in der Verliebtheitsphase, man kann sich nicht losreißen von der geliebten Person. Ich geriet in eine Zwickmühle. Sollte ich für ein paar Wochen verreisen und meine Marianne in München zurücklassen oder in München bleiben und mir weder den Wind auf fernen Straßen um die Nase wehen lassen, noch Frankreich sehen.
Bei so schwierigen Entscheidungen fragte ich meist meinen Vater um Rat.
Er riet mir, ich solle bei meinem Mädchen bleiben und meine Zeit mit ihr verbringen, wenn ich sie wirklich lieben würde.
Was soll ich sagen? Ich habe Frankreich erst viel später in meinem Leben gesehen. Dafür wurde ich im Mai 1960 im Alter von 21 Jahren Vater eines Sohnes und im August 1960 Ehemann. Wir gaben uns in der Antoniuskirche in der Kapuzinerstraße das Jawort und in der Gaststätte Frundsberg in Neuhausen feierten wir in bescheidenem Rahmen unsere Hochzeit.
Dieses Jahr 1960 hatte es wirklich in sich, denn auch die 1955 gegründete Bundeswehr, wie das Heer ab 1956 genannt wurde, verlangte nach mir. Ich erhielt meinen Musterungsbescheid.
Nicht anerkannter Wehrdienstverweigerer
„Nimm niemals, hörst du, niemals eine Waffe in die Hand!“, hatte mein Vater aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrungen immer und immer wieder eindringlich zu mir gesagt. Ich selbst wollte auch nicht als Soldat in einem Heer dienen. Also forschte ich nach Möglichkeiten, wie man der Wehrpflicht entkommen könnte. Ich suchte nach Rat bei den Zeugen Jehovas, die ja jahrelange Erfahrung mit Wehr- und Kriegsdienstverweigerung haben. Aber das war nicht so hilfreich wie die Unterstützung eines SPD-Mannes aus unserem Bekanntenkreis, der über die Rechtslage Bescheid wusste.

Ich verweigerte auf seinen Rat hin die ärztliche Untersuchung und erhielt einen Bescheid mit Tauglichkeitsgrad 3 „nach äußerlicher Beurteilung“. Ich hatte mich ja von den Ärzten der Musterungsstelle nicht untersuchen lassen. Selbstverständlich musste ich als Wehr- bzw. Kriegsdienstverweigerer nach Artikel 4 Absatz 3 GG auch zu einer Befragung meines Gewissens vor eine Prüfungskommission, die mir, wie erwartet, Fragen stellte wie: „Was machen Sie, wenn’s brennt?“ Eigentlich gab es keine „richtigen“ Antworten auf solche Fragen und ich hab auch keine gefunden. Ich bin daher ganz offiziell ein nicht anerkannter Wehrdienstverweigerer und hätte womöglich eingezogen werden können.

Man konnte mit mir jedoch offensichtlich nichts anfangen, denn der Zivilersatzdienst war noch nicht aufgebaut worden und in der Bundeswehr wäre ich nur lästig gewesen. So blieb ich vom Wehrdienst verschont und gedachte für mich und meine Familie eine Existenz aufzubauen.
Auswirkung der Blockbildung auf mein Leben
Aber da machten mir Maßnahmen der staatlichen regionalen Wirtschaftslenkung einen Strich durch die Rechnung.
Die Blockbildung zwischen Ost und West sowie der Kalte Krieg zwischen den europäischen Staaten unter Führung der USA und den osteuropäischen Staaten unter Führung der Sowjetunion hatte zur Folge, dass sich der Eiserne Vorhang entlang der Grenze zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) senkte. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 begann die endgültige Teilung Deutschlands.
In Bayern waren nun die Gebiete entlang der Grenze zur DDR und zur Tschechoslowakei „Zonenrandgebiet“. Die früher sehr lebendigen Wirtschaftsbeziehungen in den Osten Deutschlands und die Tschechoslowakei existierten nicht mehr, die Handelswege waren größtenteils blockiert.
Es gab kaum Arbeit in den Orten westlich der „Zonengrenze“. Viele fuhren Woche für Woche zum Arbeiten in die großen Städte wie München, Nürnberg und Regensburg und kehrten nur am Wochenende in ihre Dörfer zurück. Andere kehrten ihrer Heimat den Rücken und ließen sich weiter westlich in Landesteilen nieder, in denen sich das Wirtschaftswunder voll entfaltete, wo es Arbeit, Schulen, moderne Geschäfte und Freizeitmöglichkeiten gab.
Um eine Verelendung des Zonenrandgebietes zu verhindern, unterstützte daher der bayerische Staat das bayerische Grenzland mit Wirtschaftsprogrammen, die beispielsweise eine Ansiedlung von Gewerbebetrieben durch Subventionierung der Löhne attraktiv machen sollten.
Mein Arbeitgeber, die Firma Haaser & Co., verlegte daher 1961 seine Produktion von der Augustenstraße in München nach Furth im Wald in der Oberpfalz, mitten ins Zonenrandgebiet an der Grenze zur Tschechoslowakei.
Ich wurde von der Firmenleitung gebeten, zur Einarbeitung der neuen Arbeitskräfte nach Furth im Wald vorerst mitzugehen. Die Hochkonjunktur von Strumpffabrikation am Standort München flaute zu dieser Zeit merklich ab. Schließungen und Abwanderungen in ländliche Regionen waren an der Tagesordnung. Also ging ich mit in die Oberpfalz.
Meine kleine Familie war in diesen Monaten oft auf dem Hof meiner Schwiegereltern in Loipfering in Niederbayern zu Besuch. Die 110 Kilometer zwischen Furth im Wald und Loipfering konnte ich wenigstens am Wochenende bewältigen, um mit meiner Familie zusammen zu sein. Zwischen München, wo wir in der Maistraße 4 ein Zimmer bei meiner Tante in einer typischen Altbauwohnung bewohnten, und Furth im Wald lagen fast 200 Kilometer. Von einer Autobahn war zu dieser Zeit noch nicht einmal die Rede, weswegen man über kleine Straßen und durch Ortschaften fahren musste. Diese Fahrten hätten viel zu lange für ein Wochenende gedauert. Man muss ja auch bedenken, dass zu dieser Zeit samstags noch gearbeitet wurde.
Ich hatte gewusst, dass ich in Furth im Wald keine Zukunft bei Haaser und Co. haben würde, aber dass sie mich nach getaner Arbeit ein paar Wochen vor Weihnachten entließen, hat mich dann doch getroffen. Das Weihnachtsgeld hätte ich nach all diesen Umständen doch noch so gern bekommen.
Paketzusteller - eine Berufung
Für eine Stellensuche ist die Weihnachtszeit nicht gerade optimal. Ich war also erst einmal arbeitslos und diesmal fühlte es sich nicht wie Urlaub an. Nach Weihnachten erhielt ich einen Arbeitsvertrag als Versicherungsvertreter bei der Frankfurter Versicherungs AG. Ich war nun oft abends und an Wochenenden bei Kunden zur Beratung. Spaß machte so ein Leben weder mir noch meiner Frau. Diese Arbeit war dem Familienleben durchaus abträglich.
Aber das Jahr 1962 hielt auch positive Überraschungen für uns bereit.
Im Oktober 1962 wurde unsere kleine Tochter Brigitte geboren und damit waren wir eine vierköpfige Familie.
Und weil das Leben mit zwei Kindern in einem Zimmer sehr belastend war, ließ meine Mutter ihre Beziehungen im Wohnungsverein in Neuhausen spielen. Wir erhielten den Zuschlag für eine 65-Quadratmeter-Wohnung in der Erhard-Auer-Straße 8, in die wir im November 1962 einziehen konnten und in der wir heute noch wohnen.
Bis zum März 1964 musste ich jedoch noch meiner Arbeit als Versicherungsvertreter nachgehen. Ich bin ein positiver Mensch und suche und finde auch immer die guten Seiten an allem, aber meine Unzufriedenheit mit diesem Job wurde doch immer größer.

Mein Vater, der ja bereits nach dem Krieg als Angestellter und später als Beamter der Deutschen Post arbeitete, bekniete mich, doch auch dort anzuheuern.
Niemals hatte ich davon geträumt, Beamter zu werden. Das war definitiv nicht mein Berufswunsch und unter einer Stelle bei der Post konnte ich mir auch nicht so recht etwas vorstellen.
Aber ich folgte dem Rat meines Vaters und wurde 1964 Paketzusteller bei der Post.
Es stellte sich heraus, dass diese Arbeit meine Berufung war. Die Selbständigkeit am Arbeitsplatz, nämlich im Postauto auf den Straßen in meinem Bezirk, das Kennenlernen und der Umgang mit meinen Kunden, all das machte mir zeitlebens große Freude.

1970 wurde ich verbeamtet und 1995 ging ich im Zuge der Privatisierung der Deutschen Post schweren Herzens in Frühpension.
Ich habe in all diesen Jahren viel erlebt und ganz eigene Erfahrungen gemacht.
Erlebnisse aus der Welt der Paketzusteller
Gemeinsam mit einem Kollegen werde ich davon erzählen, wie es sich anfühlt, wenn man mit einem voll beladenen Postauto losfahren will und plötzlich den frei schwingenden Schalthebel in der Hand hat. Oder auch, warum ein Paketzusteller im Auto sitzt und weint. Und wir wollen von der guten Beziehung zu unseren Kunden erzählen, vom Rosenkavalier, dem Helden des Alltags und von der Empfängersuche auf der Großbaustelle des Krankenhauses in Großhadern. (HB)
Quellen und Hintergrundinformationen zu angesprochenen Zeiterscheinungen:
Weitere Informationen zur Geschichte von Erziehung und Pädagogik:
In den 50er Jahren war die Erziehung von Kindern und Jugendlichen stark von den Vorstellungen der Aufklärungspädagogik geprägt, die dem Kind bzw. den Jugendlichen das verwilderte Naturell austreiben und die Vernunft einbläuen wollte. Ab 1977 gab es für diese Gewaltpädagogik, die auch auf Einschüchterung setzte, einen Namen: Schwarze Pädagogik. (Katharina Rutschky, „Schwarze Pädagogik“)
Erst 1973 wurde in den deutschen Bundesländern die Prügelstrafe in Schulen verboten, in Bayern sogar erst 10 Jahre später. Im Jahr 2000 wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch in § 1631 folgendes verankert: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Interessant ist auch, dass die Prügelstrafe in Schulen in Finnland bereits 1914, in der DDR 1949 und in der BRD erst zwischen 1973 und 1983 abgeschafft wurde.
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Weitere Informationen zu Preisen und Kaufkraft in den 50er Jahren:
Um die 8 DM Lehrlingsgehalt besser einordnen zu können, werden einige ausgewählte Lebensmittelpreise des Jahres 1954 hier aufgelistet:
1 Kilogramm Butter/ 6,32 DM; 1 Kilogramm Schweinefleisch/ 5,19 DM; 1 Kilogramm Kaffee/ 27,50 DM; 1 Kilogramm Kartoffeln/0,45 DM; 1 Ei/ 0,22 DM;
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Weitere Informationen zur Moral in den 50er Jahren:
Amtlichen Erhebungen zufolge ist in den frühen Jahren der Bundesrepublik in beinahe drei Vierteln der Ehen, die geschlossen werden, schon ein Kind unterwegs. Doch mit Schwangerschaften wird nicht offen umgegangen, schwangere Bäuche zum Beispiel unter wallender Umstandsmode versteckt. Der herrschenden Moral entsprechend ist Sexualität kein Thema, erinnert sich Hanna Laux: "Über sexuelle Dinge habe ich mit meinen Freundinnen auch nicht gesprochen. Wir waren Zopfmädchen, wir waren schüchtern und harmlos bis ins 'Geht nicht mehr’."
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Weitere Infos zur Textilindustrie und Strumpfproduktion in Bayern:
In Bayern wagten zahlreiche Strumpfunternehmen, die auf die Produktion von Feinstrümpfen spezialisiert waren, einen Neuanfang, wie etwa das aus Sachsen stammende Unternehmen Elbeo, das zuerst nach Augsburg ging, oder das Unternehmen Kunert aus Böhmen, das sich in Immenstadt niederließ. Und selbst der namhafte Textilkonzern Dierig verlegte seinen Firmensitz vom niederschlesischen Langenbielau (Bielawa) nach Augsburg, wo er bereits seit Januar 1918 die Mechanische Weberei am Mühlbach besaß. Von knapp 1.380 bayerischen Textilbetrieben im September 1955 befanden sich etwa 42 % im Eigentum von Flüchtlingen und Vertriebenen, wobei es sich meist um Kleinbetriebe handelte. Im Zeichen des sog. Wirtschaftswunders wuchs auch die bayerische Textilindustrie weiter. Bis 1957 stieg die Zahl der Beschäftigten auf einen Höchststand von 119.688 an. Allein in Augsburg waren 17.500 Menschen in dieser Branche tätig.
(…)
Das Jahr 1957 markierte zugleich eine folgenreiche Wende in der Geschichte der deutschen Textilindustrie, indem die Menge der ausländischen Textilimporte zum ersten Mal das Volumen der deutschen Exporte übertraf. Diese Einfuhren kamen zunächst aus Westeuropa wie beispielsweise aus Frankreich oder Belgien und über die Jahre in steigendem Maße auch aus Osteuropa wie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), Polen, Tschechoslowakei, Rumänien oder Bulgarien. Der hierfür verantwortliche liberalisierte Außenhandel begann sich - gemeinsam mit der Absenkung von Zöllen - auf die bayerischen Textilunternehmen negativ auszuwirken, die selbst oft eine schwache Exportquote aufwiesen. So nahm auch im Freistaat eine tiefgreifende Strukturkrise der Textilindustrie ihren Anfang.
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Weitere Informationen zur Kriegsdienstverweigerung in der BRD:
Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung war im Grundgesetz 1948 verankert worden. Das hieß aber nicht, dass nach Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr in der BRD auch entsprechende Strukturen für den Umgang mit Kriegsdienstverweigerern geschaffen worden wären.
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Weitere Informationen zur Grenzlandproblematik in den 60er Jahren:
Das bayerische Zonenrandgebiet war durch den Eisernen Vorhang an der Grenze zur Tschechoslowakei und zur DDR wirtschaftlich stark benachteiligt. Daher wurden von der bayerischen Staatsregierung Programme zur Stützung der wirtschaftlichen Struktur der Region aufgelegt.
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