Vatersuche
- titanja1504
- 7. Sept.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
(DE) „Ich habe mein ganzes Leben lang getrauert, so wie jetzt auch“, sagte ich spontan einem Freund, der mich nach dem Tod eines innig geliebten Menschen nach meinem Befinden fragte. Trauer war in meiner kindlichen Seele fest verankert. „Euch Kindern hat doch nie etwas gefehlt“, entgegnete früher einmal meine Tante, als ich mit ihr darüber sprach. Gefehlt hatte nicht etwas, sondern jemand - der Vater. Er war drei Tage vor meiner Geburt 1941 an der russischen Front gestorben.
Die Vatersuche begleitete mich ein Leben lang.
Mein großer Wunsch war, sein Grab zu finden. Sehr lange schien das unmöglich, bis wir 2017 nach Russland fahren konnten.
Vermisst hatte ich den fehlenden Vater besonders während meiner Kindheit, sein Verlust ist das beherrschende Thema meiner Biographie.

Wir haben uns nie gesehen. Bei seinem Abschied in das Kriegsgeschehen war meine Mutter im 4. Monat mit mir schwanger. Mein Vater sprach darüber, so erzählte es meine Mutter, dass er mich wohl nie erleben würde.
Er kam nie mehr zurück.
Mit Beginn der Russland Offensive war er eingezogen worden und kam an die russische Front. Einen Tag vor seiner Abreise entstand ein Foto von einer frühsommerlichen Wiese. Vor auf einer Leine flatternden Betttüchern sitzt meine unglückliche Mutter, sie hält meine dreijährige ältere Schwester auf dem Schoß, neben ihr, mein schöner Vater. Ein früher Sommer 1941, der Schlimmes ahnen ließ.
In einer Fantasiewelt dem Vater nah
Ungefähr zwei Jahre später machte ein Fotograf eine Aufnahme von unserer reduzierten Familie, auf dem ich etwa eineinhalb Jahre bin. Meine Mutter sitzt schwarz gekleidet und blass auf einem Stuhl. in der geschlossenen Hand hält sie ein zerknülltes Taschentuch. Ich sitze auf ihrem Schoß, ohne gehalten zu werden, meine Schwester lehnt an ihren Knien. Alle drei wirken verloren.
Mein Vater war Förster gewesen. Seinen Jagdhund hatte er vor seinem Abschied seiner Schwägerin, der Schwester meiner Mutter, in Obhut gegeben. Sie kannte sich mit Hunden besser aus und lebte noch im Elternhaus mit dem großen, hundefreundlichen Garten.
Da meine Mutter nach dem Tod meines Vaters mit uns Kindern in ihre Ursprungsfamilie zurück kehrte, ist er auf all meinen frühen Kinderfotos zu sehen. Ein lebendiges Verbindungsglied zum Förstervater.

Einmal halte ich mein Butterbrot hoch, damit der Hund es mir nicht abnehmen kann. Ich war etwa drei Jahre alt.
Wenig habe ich über den Vater erfahren. Niemand sprach über ihn. Die Kriegszeit war zu ereignisreich. Zudem starb 1944 das Familienoberhaupt, mein Großvater mütterlicherseits, mit nicht einmal sechzig Jahren, vermutlich an einem Herzinfarkt.
Mein Vater war nicht vergessen. Aber nach der neuen Heirat meiner Mutter in meinem fünften Lebensjahr, wurde er nur noch selten erwähnt. Daher blieb Vieles meiner Fantasie überlassen.
Mein mangelndes Wissen über ihn und meine Unsicherheit zeigt sich in folgender Begebenheit:
Kurz nach meiner Einschulung sollten wir die Berufe unserer Väter nennen. Wahrscheinlich sagte ich Jäger. Die Lehrerin erklärte, solch einen Beruf gebe es gar nicht, da müsse ich noch einmal meine Mutter fragen. Ich war sehr beschämt, es war mir, als stürzte ich in einen Abgrund. Hatte es den Vater gar nicht gegeben?
Das Wenige, das ich über ihn wusste, war, dass er aus einem Ort namens Herzogswalde kam, ein Ort, den ich mir waldreich und romantisch vorstellte, auch weil seine Familie im Krieg von dort erlegte Fasane geschickt hatte. In frühen Erzählungen wurde erwähnt, dass die Familie meines Vaters großzügig gewesen sei, sehr belesen und wenig materiell interessiert.
Während der frühen Schulzeit fantasierte ich mich in eine eigene Welt, die meiner Vorstellung von der Welt meines Vaters entsprach. Sie lag in einem weit abgelegenen einsamen Forsthaus. Morgens zog ich meine Puppen besonders im Winter warm an, stellte sie hinaus vor das Fenster, begleitete sie in Gedanken auf ihrem weiten einsamen Schulweg und holte sie nach meinem eigenen Schulschluss wieder herein.
Ich begeisterte mich für ihren Duft nach frischer kalter Winterluft. Ich lebte bis weit in meine Jugendjahre ein fantasiertes Doppelleben voller Trauer.
Mein Spiel wurde mit meinem Alter differenzierter. Ich baute im Wald und im Garten winzig kleine Forsthäuser naturgetreu nach. Eine Vorratskammer durfte nicht fehlen, das Forsthaus war ja so weit von anderen Menschen entfernt. Darüber sprechen musste und konnte ich nicht, es war meine ganz eigene einsame Welt, sie war fest in mir verschlossen, mein Trost, den ich mit niemandem teilen wollte.
Heute denke ich, ich hatte eine kluge Weise psychischer Verarbeitung der väterlichen Abwesenheit gefunden.
Vaters reale Heimat im heutigen Polen (1995)
Aber als erwachsene Frau wollte ich die Realität kennen lernen und fuhr 1995 mit meinem Mann Fritjof nach Polen.
Einen Ort Herzogswalde gab es in Polen nicht mehr. Alle Landkarten waren in polnischer Sprache verfasst. Das war eine Herausforderung. Da wir wussten, dass der Ort in der Nähe von Oppeln (polnisch Opole) liegen musste, fragten wir die Pfarrer der umliegenden Gemeinden nach einem Ort, der vor dem Krieg Herzogswalde genannt wurde. Fritjof verständigte sich mit den Priestern in reinstem Latein.
Sie wurden in ihren Kirchen-Büchern fündig. So kamen wir zum Ziel - dem Ort, in dem mein Vater aufgewachsen war und seine Familie gelebt hatte.
Der Ort Herzogswalde, der nun auf polnisch Wierzbnik heißt, war allerdings eine Enttäuschung im Vergleich zu den romantischen Vorstellungen meiner Kindheit. Ein langgezogenes Straßendorf mit einem verschilften kleinen Ententeich. Kein Wald in der Nähe, nur trostlose Ebene.
Etwas verloren standen wir später in dem Dorf und fragten vorübergehende Passanten radebrechend nach genaueren Orten. Sie wiesen uns zu einer deutschen Frau, die mit einem Polen verheiratet gewesen war, darum in Polen bleiben durfte und natürlich deutsch sprach, Frau Dzura. Sie servierte uns unseren ersten Eckes Edelkirsch und ging mit uns zu allen Familien, die die Familie meines Vaters noch gekannt hatten. Obwohl wir aus Deutschland kamen, waren alle polnischen Familien sehr freundlich. Überall hatten wir erfahren, dass im Land, z.B. auf Gedenktafeln, genau zwischen Nazideutschland und unserem jetzigen Land unterschieden wurde.
Durch die Vermittlung der besuchten Familien fanden wir das Grab meines Großvaters. Es war das erste auf einem Friedhof gewesen, der nach dem Krieg aus einem Fußballplatz entstanden war. Der Großvater hatte sich geweigert, sein Haus beim Einmarsch der Roten Armee zu verlassen, blieb alleine im Dorf zurück und war verhungert. Er wollte seine Heimat nicht verlassen, fühlte sich möglicherweise zu alt und war nach dem Tod seines Sohnes zu niedergeschlagen, um Kraft für die Flucht zu haben.
Ihn stelle ich mir sehr warmherzig vor, besonders nach dem Lesen seines Briefes, den er nach dem Tod seines Sohnes an meine Mutter gerichtet hatte. Tränenüberströmt musste ich das Lesen beim ersten Durchgang in der Mitte des Briefes beenden.
Frau Djura führte uns auch zum Haus der väterlichen Familie. Es stand groß und verlassen mitten im Ort. Nichts war zerstört, wir besichtigten die große Wirtshausküche und den Tanzsaal. Der Großvater war Wirt und Dorfschullehrer gewesen. Im Tanzsaal hingen noch alte Festwimpel, als wäre die Zeit stehen geblieben. Eine lebendige Atmosphäre, in der ich mir meinen jungen Vater vorstellen konnte, erschloss sich mir aber nicht.
Mein Vaterbild war durch diese Polenreise ein wenig vollständiger geworden. Unser Besuch hatte mich zwar bezüglich des Herkunftsdorfes desillusioniert, aber mir meinen Vater dennoch ein wenig näher gebracht.
Vaters Tod und meine Geburt - eine ewige Last auf meiner Seele
Ein anderer Aspekt meiner Vatersuche, meiner Suche nach Nähe zu meinem Vater, waren meine Schuldgefühle seinen Tod betreffend. Sie beschwerten mich wie Bleigewichte. Meine Mutter hatte beide Ereignisse zusammengezogen, meine Geburt war für sie unzertrennlich mit seinem Tod verbunden. Ein alter Aberglaube sagt ja: Wenn ein Kind kommt, muss einer gehen! Beide Ereignisse lagen zu dicht beieinander.
Als Kind litt ich erheblich unter der Frage, ob er im Fegefeuer oder im Himmel sei, und ob ich etwas für ihn tun konnte.
Ich versuchte mit stundenlangen Ablassgebeten meinen Vater, wenn schon sein Tod und meine Geburt zusammenhingen, vom Fegefeuer in den Himmel zu bringen. Während einer kurzen Zeit im Kirchenjahr gab es die Möglichkeit, Ablässe zu beten. Ablassbeten hieß, in die Kirche zu gehen und eine bestimmte Anzahl von „Ave Maria“ und „Vater unser“ zu beten, anschließend die Kirche zu verlassen und erneut zu betreten, um wieder zu beten und so fort.
Kreidestriche an der Kirchenwand halfen mir, den Überblick zu behalten. Oft kam ich in meinem Eifer auf zwanzig Durchgänge. Auch mein Abendgebet schloss stets die Bitte ein: Mach, dass mein Vater in den Himmel kommt!
Ich war, so glaube ich, still und fügsam, betete ungemein viel und hätte nie bewusst etwas falsch gemacht. Ganz anders als meine ältere Schwester. Sie schien sich vor nichts zu fürchten, wagte erheblich dummes Zeug und schien viel freier als ich. Sie hatte keine Schuldzuweisung auf ihrer Seele und sie hatte das Glück, blond zu sein wie der Vater. Mir schien, damit hatte sie mehr Nähe zu ihm.
Das Abendlied, „Schlaf Kindchen schlaf, da draußen stehen zwei Schaf, ein schwarzes und ein weißes, und wenn das Weiße nicht artig ist, dann kommt das Schwarze und beißt es“, betrübte mich sehr. Ich glaubte, das Schwarze und Böse zu sein.
Gern hätte ich gewusst, ob ich Ähnlichkeiten mit dem Vater habe. Leider lehnte meine Mutter eine Antwort auf meine Frage ab. Mühsam betrachtete ich ein Foto meines Vaters, verglich es mit früheren Fotos von mir und gab mir selbst die etwas vage Antwort, dass meine Augen und mein Mund seinen Gesichtszügen gleichen könnten. Für diese Erkenntnis musste ich erst einmal erwachsen werden.
Mich trieb stets die Frage um, wie ich ihm näher kommen könnte. Würde es mir helfen, wenn ich sein Grab finden würde?
Besuch des väterlichen Grabes - Enttäuschung und ankommen

Es interessierte mich alles, was mit seinem Tod zu tun hatte.
Zu Zeiten des kalten Krieges gab es keine Möglichkeit, das Grab in der Sowjetunion zu finden.
Sein Todesort und sein Grab liegen etwa 80 km entfernt von Moskau. Seine Kameraden hatten meiner Mutter nach seinem Tod ein Foto seines Grabes, mit einem einfachen Birkenkreuz, auf dem sein Name stand, geschickt.
Ein Kamerad meines Vaters hatte nach dem Krieg einen genauen Bericht über sein Pionier-Bataillon verfasst. Dessen Auftrag als Pioniere war, den Weg für die nachrückenden Truppen frei zu machen. Auch der Tod meines Vaters wird in diesem Bericht erwähnt.

Zitat und Auszug: „…..innerhalb von Nelidowa waren Sprengladungen mit Zeitzündern angebracht, die den Vormarsch und den Nachschub immer wieder aufhielten und Verluste an Menschen und Material verursachten. Am 14. 10. (1941 eigene Anm.) waren Teile des Bataillons zum Aufsuchen und zum Ausbau dieser Ladungen eingesetzt. Bei der Detonation einer dieser Ladungen fielen der Gefr. …….., bei einer zweiten Detonation derOGfr. ……… und der Gefr. ……….(mein Vater eigene Anm.) von der 2. Komp“ ( Friedrich Noblé, „Das Pionierbataillon 742 (Heerestruppe)“, S. 18 ).
Mein Mann und ich fuhren mit einem unserer Neffen 2017 nach Moskau. Vertreter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. kümmerten sich um unser Anliegen. Sie oranisierten die Reise und unseren Aufenthalt in Russland.
Als Einführung in die Arbeit der Kriegsgräberfürsorge wurde uns erklärt und gezeigt, wie die Gebeine der gefallenen Soldaten geborgen werden. Dazu wurden wir zu einer Exhumierung eingeladen. Der Fundort war durch alte Luftaufnahmen, die im Krieg von den frischen Gräbern gemacht worden waren, bestimmt worden. Er lag auf einem Industriegelände, dessen Eigentümer die Genehmigung zur Öffnung der Gräber erteil hatte.
Ich konnte es kaum glauben, dass mitten im Kriegsgeschehen derart gründliche und exakte Aufzeichnungen möglich gewesen waren und auch gemacht wurden . So viel Tod und Leid und gleichzeitig diese bürokratische Kartierung!
Zur Vorbereitung der Exhumierung war Tage zuvor die harte straßenähnliche Asphaltdecke aufgebohrt worden. Nun sahen wir in eine Erdgrube von etwa 2x6 Metern. Mit Schaufeln wurde vorsichtig das am Grund der Grube befindliche Erdreich ausgehoben. Dann wurden vier Leichen sichtbar. Sie lagen als Skelette nebeneinander, einzig ihre acht Stiefel befanden sich noch vollständig erhalten an den Fuß- und Beinknochen. Ein erschütterndes Zeichen ihres Lebens vor ihrem Tod.
Beim jetzigen Schreiben stockt mir auch heute noch der Atem!
Die Gebeine der Verstorbenen wurden in gekennzeichnete Plastiksäcke zur späteren Beisetzung auf einem würdigen Friedhof verbracht. Vorher hatte man die persönlichen Dinge der gefallenen Soldaten aus deren Uniformtaschen geborgen und für deren Familien gekennzeichnet und sichergestellt. Plötzlich stand damit das Leben der Toten vor unseren Augen. Es handelte sich um Fotos, kleine Tiernachbildungen oder ein Taschenmesserchen.
Gedanken gingen mir durch den Kopf: Sollten die Toten nicht in ihrer bisherigen Ruhestätte verbleiben, auch wenn sie würdelos war? Gab es etwas wie das Gebot der ungestörten Totenruhe? Auch die Verwendung der Plastiksäcke schreckte mich ab. Andererseits ging es um Tausende zu verlegende tote Soldaten und um den starken Wunsch ihrer Angehörigen, eine Stelle zu haben, an der sie der Toten gedenken konnten.
Für mich wäre ein Grab meines Vaters ein Glück gewesen.

Später besuchten wir riesige Grabfelder mit tausenden Toten, Deutschen und Russen. Die Totenfelder waren große Rasenflächen mit Stehlen und Marmorplatten, auf denen die Namen der Begrabenen standen. Alle waren binnen eineinhalb Jahrzehnten geboren worden und zwanzig- bis dreißigjährig gestorben. Ein christliches und ein orthodoxes Kreuz für die deutschen und russischen Toten stand jeweils auf einem kleinen Hügel. Unter dem christlichen Kreuz wurde eine kleine Gedenkfeier abgehalten.
Es wurden die Namen der Gefallenen der größeren Region um Moskau verlesen, und ich hörte den vollen Namen meines Vaters zum ersten Mal öffentlich. Mein Herz konnte die Aufregung und den Schmerz kaum ertragen.
Ein eigens für uns gecharterter Jeep fuhr mit uns dann an die entlegene Stelle seines Todes in Nelidowa. Es ging stundenlang über eine Schotterpiste durch unbewohnte Moorlandschaften mit blauen Lupinen und Krüppelbirken.
Das Grab, das ich als Kind auf der Fotografie gesehen hatte, gab es lange nicht mehr. Es war während des Kalten Krieges mit einer Garage überbaut worden.
Ein russischer Friedhof lag in der Nähe mit speziellen Grabformen. Kleine Gevierte waren umzäunt und schlossen die Grabstelle und einen Tisch mit einer Bank ein. Würden die Menschen beim Besuch der Toten im Gedenken mit ihnen essen? Ein schöner Gedanke!
Auch wenn wir das Grab meines Vaters nicht fanden, wusste ich nun, was er kurz vor seinem Tod gesehen hatte: weite Moorlandschaften mit Krüppelbirken, kaum besiedelt und ärmlich. Ein Sägewerk stand im Dorf, ich nahm den Geruch des frischen Holzes wahr, war dem Vater auch ohne sein Grab zu finden nah. Das hatte ich mir, so lange ich denken kann, gewünscht.
Ich hatte das Gefühl, angekommen zu sein.Meine Vatersuche hat ihn mir näher gebracht. Auf einem Foto von ihm kann ich nun Ähnlichkeiten mit ihm erkennen.
Die Sehnsucht ist geblieben, meine Spurensuche hat mich ein wenig mehr mit ihm vereint. Es bleibt jedoch das Vaterthema beherrschend in meiner Biografie. Bei all meinem Tun möchte ich ihm eine gute Tochter sein. (MoWi)




