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Eine katholische Welt

  • lisaluger
  • 4. Mai
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Juni

(DE) In meiner Erinnerung scheinen meine ersten sechs Lebensjahre, obwohl vaterlos, heiter und gesellig. Wir, meine Mutter und meine drei Jahre ältere Schwester, lebten in der Großfamilie meiner Mutter.

Meine große Schwester (l.i.B.) und ich.
Meine große Schwester (l.i.B.) und ich.

Die Familienvilla beherbergte mehrere Tanten, Vettern und Cousinen und meine beiden Großeltern. Männer lebten außer meinem Großvater dort nicht, sie waren zur Zeit meiner Geburt im Herbst 1941 im Krieg.

Ein wenig Glaube und viel Aberglaube

An christliche oder katholische Eindrücke erinnere ich mich mit einer Ausnahme nicht. Aber die Familie war grundlegend abergläubisch. Der Ruf des Käuzchens brachte den Tod, Wäsche, in der Silvesternacht aufgehängt, ebenso; auch weiße Blumen geschenkt zu bekommen, war ein ganz schlimmes Omen. Es gab eine ganze Reihe von bösen Vorboten.

Bei der erwähnten Ausnahme handelte es sich um ein etwa zwei Meter hohes schwarzes Ebenholzkreuz, an dem eine silberne Figur hing, halbnackt und in einer für mich hoch bedauernswerten Position. Das Kreuz hing im Schlafzimmer meiner Großeltern. Oft war es Inhalt meiner abendlichen Grübeleien. Ich wollte verstehen, warum das so war und legte mich zur Probe in Kreuzform auf den nackten Fußboden. Wie fühlte sich das an? Verstanden habe ich es nicht.

Umzug ins erzkatholische Sauerland
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1947, mit sechs Jahren, nach der erneuten Heirat meiner Mutter, zogen meine Schwester und ich in das sauerländische Elternhaus meines Stiefvaters. Die Häuser waren dunkel, die Winter kalt und die Sommer kurz. Der neue Wohnort war bekannt als konservativ und „schwarz“, das hieß strikt katholisch. Wir beiden Geschwister waren über das Fremde sehr erschrocken, fürchteten uns vor anderen Kindern und klammerten uns ängstlich aneinander.

Hatten wir doch bis zu unserem Umzug nur mit den Kindern der Großfamilie gespielt, alles Fremde, wie die Kinder der neuen Nachbarschaft, schien für uns bedrohlich.

Das war die Zeit meiner Einschulung.

Im Elternhaus war von der katholischen Religion wenig zu spüren. Weder unsere Mutter noch unser Stiefvater ging zur Kirche, auch nicht am Sonntag. Einzig das regelmäßige Tischgebet und der fleischlose Freitag waren ein Hinweis auf Religiosität.

Deutlicher wurde die konfessionelle Ausrichtung bei den Einrichtungen der Volksschulen. Es gab eine sehr große katholische Schule und eine kleinere evangelische - für die Minderheit in der Stadt. Beide Schulen lagen etwa 200 Meter voneinander entfernt, mussten aber einen getrennten Schulschluss haben, da es sonst zu heftigen Streitereien unter den Kindern der verschiedenen Konfessionen gekommen wäre.

Bigotterie in der Schule

Für mich begann mit der Einschulung eine schwierige Zeit. Wir bekamen eine überaus fromme Lehrerin für vier Jahre und auch ihre Nachfolgerin konnte man bigott nennen.

Ich war ein folgsames und offenes Kind und nahm alles die Schule Betreffende schnell auf. Die Lehrerin wollte uns vom Tag der Einschulung an zu guten Christen erziehen. Das bedeutete Askese, Vermeidung von Lustgefühlen und von allem Bösen.

Nacktheit war untersagt, auch beim Baden am Samstag. So stieg ich, nachdem ich mich der Unterhose entledigt hatte, mit dem Unterhemd in das Badewasser und hob das Hemdchen nur mit steigendem Wasserspiegel. Nackt war ich erst, wenn ich ganz vom Wasser bedeckt war.

Wir bekamen auch eine Verzichtsübung! Wenn etwas besonders gut schmeckte, sollten wir es in Blickweite bis zum Abend liegen lassen und es erst dann genießen. In der Fastenzeit vor Ostern waren alle Süßigkeiten in einem großen Glas zu sparen. Ein Unglück, denn bis Ostern verklebten sie zu einem unansehnlichen Klumpen. Die Anforderung an mich als junges Kind waren zu hoch.

Heute habe ich den Eindruck, dass Schuldgefühle meine ganze Kindheit belasteten. So glaubte zum Beispiel meine Mutter an den Aberglauben, dass, wenn ein Kind kommt, ein anderer gehen muss.

Schon in Erzählungen über meine Geburt war nicht klar, welche Rolle mir dabei zugedacht war. Meine Geburt und der Tod meines Vaters lagen nur drei Tage auseinander, eine Mitschuld schien mir vorstellbar.

Hinzu kamen Hinweise auf die Erbsünde, auch wenn ich nicht wusste, was das sein sollte.

Schon da begann ich, abends im Bett heftig zu beten, schloss in meine Gebete auch meine geliebte Tante ein, die nicht mehr zu den Sakramenten ging, weil sie eine Mischehe eingegangen war.

Bereits als junges Kind hatte ich aus den Gesprächen der Erwachsenen herausgehört, dass die bevorstehende Mischehe problematisch wäre und zu Sanktionen seitens der Kirche führen würde. Eine drohende Exkommunikation wurde nur umgangen, wenn bei der Eheschließung versichert wurde, die Kinder aus dieser Ehe, trotz des evangelischen Partners, katholisch zu erziehen. Warum die Tante trotz dieser Versicherung die Kirche mied, weiß ich heute nicht mehr. Möglicherweise hätte sie sonst die Zustimmung ihres Mannes zur katholischen Erziehung der Kinder verwirkt.

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Meine Beziehung zur Kirche wurde ambivalent. Einerseits liebte ich die Weihrauch duftenden halbdunklen Räume, die schönen Lieder, das Orgelspiel und das Versprechen von Hilfe und Trost. Meine besondere Liebe galt der Mutter Maria, dem Meerstern, mit ihrem ausgebreiteten Mantel, der Schutz und Schirm versprach. Die Maiandachten ihr zu Ehren versäumte ich nie. Heute denke ich, ich suchte die Geborgenheit, die mir fehlte.

Andererseits ging es uns beiden Kindern am neuen Ort nicht gut, denn die Nestwärme der Großfamilie konnte durch nichts ersetzt werden.


Erstkommunion und die ständige Angst vor Schuld

Die Ansprüche an unseren Glauben steigerten sich schnell und kumulierten bei der Vorbereitung auf die Erste heilige Kommunion in meinem 10. Lebensjahr. Kernpunkte waren die Beichte mit der Gewissenserforschung und auch die heilige, möglichst schuldlose Kommunion.


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Wir übten alles: Z.B. vor der Beichte in einer Reihe zu sitzen und zu warten, bis man dran war. Warten, aufschließen, neben die Bank treten und dann, wenn der Vorbeichtende aus dem Beichtstuhl kam, selbst zum Schuldbekenntnis hinein gehen. Oft war ich dann schon so aufgeregt, dass ich zur Toilette musste, um mich danach wieder mit schwitzenden Händen erneut anzustellen. Das dauerte fast den ganzen Samstagnachmittag. Im Beichtstuhl sagte ich: „In Demut und Reue bekenne ich alle meine Sünden.“ Das Herz klopfte bis zum Halse.

Schwierig war die Gewissenserforschung. Hierbei sollte ich nach einem Schuldkatalog mit 10 Punkten inklusive Unterpunkten vorgehen.

Was sollte ich nur beichten? Ich hatte keine fremden Götter neben dem Gott der Katholiken. Ob ich die Ehre von Vater und Mutter gewahrt hatte, ließ ich in meiner Entscheidung offen. Ich hatte auch nicht fremdes Eigentum genommen oder getötet. Aber das sechste Gebot schien besonders ausführlich zu bedenken zu sein. Hatte ich Unkeusches gedacht? Oder sogar getan, allein oder mit andern? Damals konnte ich mit solchen Fragen nichts anfangen und kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich im Beichtstuhl gesagt hatte.

Dann kamen die schlimmen Zweifel: Hatte ich etwas Wesentliches vergessen?

Mit einer eventuellen Auslassung würde ich unwürdig die heilige Kommunion empfangen und das wäre dann eine Todsünde. Das müsste ich dann wieder beichten! Meine Gedanken führten zu einer möglichen Schuldkette.

Die äußeren Umstände der ersten Kommunion sind mir noch sehr genau in Erinnerung: Meine Mutter wollte mit mir einen guten Eindruck machen, so wurde ich übermäßig ausgestattet. Ich bekam einen handgestrickten weißen Wollunterrock. An das Kleid erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an einen Mantel, der eigens für mich genäht worden war. Er war aus weißem Wollstoff und fiel im Rücken glockig. Eine schlimme Ergänzung war ein weißer Wollhut. Ich schämte mich sehr für diesen Aufzug. Kein Kind trug so etwas.


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Am Tag der ersten Kommunion ging es mir schlecht, ich war voller Zweifel und Angst, etwas Falsches zu tun. Auch war ich nüchtern. Der Ritus der Messe steigerte sich zur Wandlung. Der Priester hielt für alle sichtbar die Hostie hoch und sprach, „Dies ist mein Leib“, danach den Kelch mit dem Blut Christi.

Etwas Seltsames geschah mir: Ich begann zu schwitzen, der wollene Unterrock klebte an meinem Rücken, die Wolle „kratzte“, der magensaure Mundgeruch meiner Nachbarinnen wurde unerträglich. Was geschah mit den bunten Kirchenfenstern, die sich plötzlich drehten? Die Knie wurden mir weich und ich muss ohnmächtig geworden sein.

Wach wurde ich vor der Kirche in der Begleitung von mir fremden Erwachsenen, die mir leichte Schläge auf die Wangen gaben. Die frische kühle Luft war eine Wohltat. Der spätere Gang zur Kommunion fiel mir schwer. Verwirrt ließ ich mir die Hostie auf die Zunge legen.

Dann tat ich wirklich etwas Falsches.

Am zweiten Tag sollten alle Kinder wieder geschlossen zur Kommunion gehen. Ich hatte aber als Geschenk ein Kuchenlamm mit Buttercreme bekommen und den Zwang zur Nüchternheit vergessen. Es war nur ein winziges Stückchen Buttercreme! Sollte ich das sagen oder sollte ich unwürdig zur Kommunion gehen? Ich fand das Stückchen sei sehr klein und entschloss mich, es zu übergehen und so zu tun, als wäre ich nüchtern und würdig.

Beim Festlegen des Festessens war meine Mutter wie immer völlig empathielos. Es gab Rinderzunge! Davor hatte ich mich immer schon geekelt. Nein, das konnte ich nicht essen! Hatten doch auch zudem meine Zunge und mein Mund durch die heilige Kommunion eine gewisse Segnung erfahren.

Ich nahm alles sehr ernst, meine Phantasie ging oft weit über die Realität hinaus, machte die Schwierigkeiten noch größer.

Ablass beten für den Vater

In dieser Lebensphase war der Tod meines Vaters ein großes Thema für mich.

Ich hoffte, er wäre im Himmel. Es konnte auch sein, er wäre im Fegefeuer. Dafür gab uns die Kirche eine Lösung: An bestimmten Tagen konnte man Ablass beten und so die armen Seelen erlösen. Ich betete, bis ich Schwielen an den Knien hatte.


Heute sehe ich die Situation der Erstkommunion als einschneidendes Erlebnis und die Auseinandersetzung mit den Geboten der Kirche in meinem damaligen Alter als völlige Überforderung. Die Ansprüche an mich waren nicht zu schaffen.

Den katholischen Gegebenheiten blieb ich aber lange treu. Während meiner Schulzeit ging ich mindestens drei Mal in der Woche in die Frühmesse, die regelmäßige Sonntagsmesse war immer mit dem Empfang der Kommunion verbunden.

Loslösung von der Kirche ohne Donnergrollen

Mit 15 Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen. Er führte mich durch eine kirchlich eingerichtete Missionsausstellung. Ich verliebte mich sofort in ihn. Er trug einen blauen Anorak, war Schüler des Gymnasiums und voller Begeisterung für die Mission. Später erzählte er mir, dass auch er möglichst schnell möglichst weit weg wollte. Er träumte von einer Missionsstelle in Japan.

 Ich dachte, er könne mir helfen, aus der schwierigen Situation mit meinen Eltern heraus zu kommen. Diese Begegnung hatte eine entscheidende Wendung in meinem Leben zur Folge.

Die Probleme mit dem Verbot der vorehelichen Sexualität hatten ein eigenes Gewicht und taten uns nicht gut.

Aus der Kirche ausgetreten bin ich nach der Verkündigung der Enzyklika humanae - vitae von Papst Paul VI.

Jegliche Empfängnisverhütung wurde darin zur Schuld erklärt. Ich erkannte, dass die unmenschlichen Anforderungen der Kirche mit zu meinen, die Kindheit beherrschenden Schuldgefühlen beigetragen hatten.

Der Austritt fand hoch offiziell in einem Berliner Meldebüro statt. Als ich danach das Gebäude verließ, dachte ich ganz kindlich, gleich werde es furchtbar donnern.

Obwohl die Kirche in meiner Kindheit und Jugend eine überdimensionale Rolle gespielt hatte, fand ich erstaunlich, dass mir nach meinem Austritt nichts fehlte.

 (MoWi)

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