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Hannchen - Sie kam nie an. 

  • titanja1504
  • 19. Juni
  • 6 Min. Lesezeit

(DE) Ein sonniger Frühsommertag, mein Schwager zu Besuch , die Idee, Eis zu essen, ergab sich schnell. Im „Venezia“ bestellte ich meinen obligatorischen „Erdbeer-Becher“ und er den „Schwabinger Becher“. Die Eisdiele war bei diesem schönen Wetter voller Menschen, vielen Kindern und wir mit unserem Hund. Der Ober brachte uns das Gewünschte und wir freuten uns. 

Als er kurze Zeit darauf wieder mit einem Teller an unserem Tisch erschien, erstaunte uns das. Auf einem Porzellanteller lag eine Eiswaffel - für den Hund! Er hatte das Bedürfnis, auch den unbeachteten, unter dem Tisch liegenden Hund an unserer Freude teilhaben zu lassen. Welch freundliche Zuwendung und Großzügigkeit des Obers!

Schleichend stiegen Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit hoch. Erinnerungen an die Empathielosigkeit meiner Familie mütterlicherseits gegenüber einer hilfsbedürftigen, 1945 zu uns geflohenen Familie.

„Nach ihr könnte man die Uhr stellen“, sagte meine Familie ganz lapidar über Hannchen, eine Flüchtlingsfrau, die bei uns Unterkunft gefunden hatte.

Hannchen, wie ich sie sah 

 Viele Jahre meiner Kindheit sah ich sie abends zwischen 17 und 18 Uhr, von ihrer Arbeit in der Lampenschirmfabrik kommend, nach Hause gehen.

Der letzte Teil ihres Heimwegs führte vorbei an der großen Eingangstür unserer Familienvilla, über einen gepflasterten schmalen Weg zwischen Haus und Garten, dann über den  großen Hof, der schon die weniger ansehnlichen Dinge wie Mülltonnen und Teppichklopf-Stangen enthielt. Die ihr bestimmte Eingangstür bestand aus Schutzgründen und weil an der Hinterseite des Hauses, aus Stahlblech, das braun gestrichen war. Sie  diente uns Kindern, Hausangestellten und den uns zugewiesenen Flüchtlingen als Zutritt zu unserem Haus. 

Vier ebenfalls braun gestrichene ausgetretene Steinstufen führten von dort zu einem separaten ebenerdigen Zimmer mit einer Heizung und einer Wasserstelle. Es war Küche, Bad und Wohnraum in einem für Hannchen und ihre Familie. Schlafen konnten sie in einem Raum, der zwei Stockwerke höher lag. 

Hannchen war Vertriebene aus Schlesien und sie war lange auf der Flucht gewesen.

Als sie am Ende des Krieges 1945 bei uns ankam, war ich vier Jahre alt.

Ich habe sie unzugänglich, wie in einem Kokon lebend, erlebt. Erhobenen Hauptes ging sie ohne weitere Regung an uns Kindern vorbei. Ihre Gestalt erschien mir  groß, stabil, unauffällig gekleidet, das dunkle Haar streng zurück gekämmt und zu einem Knoten zusammengesteckt. Selten trug sie etwas mehr als ihre braune Handtasche. Eine Ausnahme bildete einmal pro Woche die Mitnahme eines Buches aus der städtischen Leihbibliothek. Später, als Sechsjährige, wunderte ich mich, dass sie keine Einkäufe oder etwas anderes mitbrachte. Hatte sie doch zwei Töchter, Ruth und Helga , im  Alter meiner älteren Schwester und mir, zu versorgen. Zu ihrem Haushalt gehörte außerdem Anna, eine alte Magd, die von Schlesien mit geflüchtet war. 

Hannchen - als Familienmitglied nicht willkommen!  

Sprach ich zu Beginn von „meiner Familie“, so spiegelt diese Ungenauigkeit den Konflikt wider, der mich als Kind belastete. 

Hannchen war die Schwester meines verstorbenen Vaters, also meine Tante. Sie gehörte zu meiner Familie und war doch kein Familienmitglied.

Zunehmend kam es zu Ausgrenzungen durch die angestammte Familie mütterlicherseits. Nach einer Weile vermutete kein Außenstehender mehr einen verwandtschaftlichen Zusammenhang zwischen beiden Familien.

 Als Kind habe ich sehr unter dem kleinlichen und geizigen Umgang meiner Oma, meiner Tante Gina und meiner Mutter, die alle im Haus wohnten, mit Hannchen gelitten. Das hat sie schließlich hart und verschlossen bis verbittert werden lassen.

Hannchens und meines Vaters Familie in Schlesien 

Sie hatte einst andere Zeiten erlebt. 1943, während des Krieges, ich war etwa 1 ½ Jahre alt, hatten wir Hannchens und meines verstorbenen Vaters Familie in Schlesien besucht.

Hannchen in der Mitte des Bildes (1943)
Hannchen in der Mitte des Bildes (1943)

In ihrer ländlichen Gegend war der Krieg noch nicht sehr spürbar. Es gibt Fotos von Streuobstwiesen im Sommer mit meiner Mutter, meiner drei Jahre älteren Schwester, Hannchen mit ihren zwei Töchtern und einem Kindermädchen. Über allem schien Heiterkeit und Sorglosigkeit zu liegen.

 Die Familie meines Vaters war großzügig, weitherzig und, anders als die Familie meiner Mutter, nicht materialistisch. Selten wurde zu Hause darüber gesprochen, dass in Vaters Familie alle sehr belesen waren, Musik interessiert und allgemein gebildet. Der Großvater war Dorfschullehrer und Wirt. Die Familie gehörte seit Generationen zum Dorf.


1995 machten wir, mein Mann und ich, eine Reise nach Polen und fanden ihr Haus und die dazu gehörende Wirtschaft mit großem Tanzsaal fast unverändert vor. Es war ein großes, aber schlichtes Anwesen.

Während der ersten Kriegsjahre hatte die Familie meines Vaters Lebensmittel an die Familie meiner Mutter geschickt. Die Großzügigkeit der angeheirateten Verwandten in Schlesien wurde durchaus gesehen. Die Sprache war von vielen Hühnereiern und etlichen Fasanen.


Die menschliche Größe und Gefühlswärme meines Großvaters väterlicherseits konnte ich durch einen Brief erfahren, den er nach dem Tod seines Sohnes an meine Mutter geschrieben hatte.

Seine unendliche Trauer und das Mitgefühl für meine Mutter und uns Kinder erschüttern mich heute noch.

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Zum Ende des verlorenen Krieges musste die väterliche Familie Schlesien verlassen. Die russische Kriegsmacht ließ ihnen wenig Zeit für Entscheidungen. Mein Großvater weigerte sich zu flüchten. Er blieb im Dorf.

Es wurde später erzählt, er sei verhungert. 


Sehr viel später, bei unserer ersten Polenreise 1995, fanden wir sein Grab.

Hannchen - die fremde Tante 

Hannchen mit ihren Kindern und der Magd muss Fürchterliches auf ihrer Flucht erlebt haben.  Die Erwachsenen sprachen von schlimmsten Misshandlungen durch polnische Männer. 

Als Kind dachte ich immer wieder darüber nach, was ihr wohl passiert sei. Wie waren sie überhaupt nach Westen gekommen? Gab es Züge? Wie lange hatte es gedauert? Wie hatten sie geschlafen? Was hatten sie gegessen? War es kalt gewesen?

Die Fragen blieben offen und auch ein mir unverständliches Wort tauchte immer wieder auf: Vergewaltigung!

Der Zeitpunkt ihrer Ankunft Ende 1945 bei  der Familie meiner Mutter war denkbar ungünstig: Wir waren gerade gezwungen worden, unser Wohnhaus der Besatzungsmacht zu überlassen und hatten uns in die Fabrik meines Großvaters zurück gezogen. Dort bewohnten wir sehr beengt das Büro der Firma.

Ich war vier Jahre alt, kann mich aber erinnern, dass es plötzlich sehr kompliziert wurde. Statt  großer Freude  über die Ankunft der Geflüchteten gab es Überlegungen, wie sie isoliert werden konnten. Alle Vier hatten Typhus und Läuse! Schwer zu handhaben in der Enge des Provisoriums! Sie wurden in den Wartebereich des Kontors, einen sehr kleinen Raum, verbannt. Es gab Kopfpackungen mit Petroleum, was üble Folgen hatte. Es konnte sich teilweise die Kopfhaut ablösen. Jemand behandelte den Typhus. 

 Die mangelnde Freude über die Ankunft der Verwandten hatte ihren Grund möglicherweise auch in der Tatsache, dass meine Großeltern die Heirat meiner Mutter mit meinem Vater nicht begrüßt hatten. Die Schwieger-Familie war nicht reich und mein Vater konnte nur wenig Geld mit in die Ehe bringen. Andererseits war meine Mutter schwanger, so konnten sich meine Großeltern einer Heirat nicht in den Weg stellen, wenn sie ihren guten Ruf nicht gefährden wollten. 

Nun waren Mutters Schwägerin Hannchen und ihre Familie da, hatten kein zu Hause mehr und mussten versorgt werden.

Familienvilla, in der kaum Platz für Hannchen und ihre Familie war.
Familienvilla, in der kaum Platz für Hannchen und ihre Familie war.

Nach Abzug der Besatzer und erfolgreichen Bekämpfung der von ihnen hinterlassenen Wanzen, zog Hannchen mit ihren Kindern und der Magd Anna in den kleinen separaten Raum des großen Familienhauses, den man über die Hintertreppe erreichte. Man gab ihr, was man entbehren konnte, nichts von größerem Wert. Trotzdem beklagte sich meine Oma noch viele Jahre über verdorbene Matratzen. Natürlich wurden traumatisierte Kinder häufig zu Bettnässern. Nein, die Familie meiner Mutter hatte kein Mitgefühl, sie schaffte es nicht, großzügig zu sein. Mittel dafür hätte es genug gegeben.

Sogar der ihnen zugewiesene Keller lag außerhalb des Hauses, eine feuchte Heimat der Frösche. 

Mein Herz litt schon als Fünf- bis Sechsjährige an dem Geiz meiner sehr geliebten angestammten Familie. Hätten sie ihnen nicht mehr geben können, sie zum Essen einladen oder ihnen von der reichlichen Obsternte im Herbst etwas abgeben können? Der Garten der Familie war riesig, aber Hannchen bekam außerhalb ein Beet, das für Flüchtlinge vorgesehen war. 

Sie wurde grundsätzlich nicht in die Familie aufgenommen, grenzte sich, auch als Folge ihrer seelischen Verletzungen, immer mehr ab.

Wir Kinder spielten mit den neu angekommenen Kusinen im Garten, eine kleine Kluft blieb aber auch zwischen uns spürbar.

Hannchen - eine offene Wunde in meiner Seele! 

Da über meinen gestorbenen Vater nicht viel gesprochen wurde, wäre mein sehnlichster Wunsch gewesen, von Hannchen Geschichten über ihn und über Schlesien zu hören. Aber ich hatte Angst vor ihrer Zurückweisung. Manchmal bat ich meine Tante, mich zu Hannchen zu begleiten, um zwischen ihr und mir zu vermitteln. Sie tat es nicht gern. Mein Wunsch nach Geschichten blieb daher unerfüllt.

Einzig die Magd schien von der inneren Isolierung unberührt. Sah sie mich, so war ihr Begrüßungsruf gleich da: „da Monala!“ Das klang schlesisch und unvoreingenommen. Das war für mich eine Wohltat.

Wie kann ein Kind vermitteln, wenn die Erwachsenen keinen Großmut aufbringen?

Etwa in meinem fünften Lebensjahr verhärtete sich Hannchen erneut. Den Grund erfuhr ich Jahre später von meiner Mutter. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt wieder geheiratet und die Feier fand in der Familienvilla statt. Aber Hannchen war nicht zur Hochzeit eingeladen. Hatte meine Mutter Rücksicht auf die Gefühle Hannchens nehmen wollen? Ich weiß es nicht. 

Nach der Hochzeit zog meine Mutter mit ihrem Mann und uns Kindern in eine andere Stadt. Über Hannchen wurde nicht mehr gesprochen. 

Sie blieb jahrzehntelang in ihrem Provisorium.


Meine Gefühle Hannchen gegenüber sind wie eine offene Wunde. Ich hatte den Geiz meiner geliebten Ursprungsfamilie erlebt und darunter gelitten. Es wurde niemals gut. Das Unrecht ist bis heute präsent in meinen Erinnerungen. Andererseits musste ich mit der Härte  meiner  Familie leben, weil ich sie liebte. Nein, Hannchen war nicht wie ein Uhrwerk, wie meine Familie sagte. Sie hatte den inneren Rückzug angetreten.

Diese Erinnerung möchte ich Hannchen in Zuneigung widmen. (MoWi)

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