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Kindheit im Krieg

  • titanja1504
  • 12. Apr. 2024
  • 11 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Apr. 2024

-München 1939 bis 1945 - 


(DE) Als ich am 23. Mai 1939 in München geboren wurde, stand die Welt am Abgrund und die wenigsten waren sich dessen bewusst. 

Mein Geburtsjahr 1939 ist ein markantes Jahr für Deutschland und für ganz Europa.

Es steht für massive Kriegsvorbereitungen und schließlich für den Beginn des 2. Weltkrieges mit dem Überfall auf Polen am 01. September.  


Das ganze Jahr über ergriffen die Nazis Maßnahmen, die Deutschland und die Deutschen schrittweise auf einen Krieg vorbereiteten. 

-Im Januar wurden Juden, von Geschäftsführern über Handwerker, Genossenschaftsmitglieder bis hin zu Selbständigen, per „Verordnung für die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“ von ihren Posten in allen Branchen entfernt. 

-Im März besetzte die deutsche Wehrmacht, unter Bruch des Münchner Abkommens, die restlichen Teile Tschechiens. 

-Im April wies Hitler die Wehrmachtsführung an, den Polenfeldzug vorzubereiten. 

-Im Mai schlossen Italien und Deutschland einen Bündnisvertrag. 

-Im August schlossen Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt mit einem geheimen Zusatzprotokoll, in welchem das noch zu erobernde Polen zwischen ihnen aufgeteilt wurde.

-Mit Kriegsbeginn wurden in Deutschland Lebensmittel rationiert und Lebensmittelkarten eingeführt.   


Die erste Phase meiner Kindheit verbrachte ich also im Krieg. Ich kannte nichts anderes. 

Sechs Jahre nach meiner Geburt, im Mai 1945, als ich eingeschult wurde, war die Welt eine andere, eine Welt aus Ruinen, Hunger und Chaos.


Aber das alles ahnten die Menschen im Frühling 1939 nicht, denn als Zeitgenosse hat man nicht den Überblick eines Historikers und man ist mit der Bewältigung des Alltagslebens vollauf beschäftigt. 

Familiengründung mitten im Krieg

Meine Mutter Anna und mein Vater Johann jedenfalls freuten sich über ihren Erstgeborenen, also mich. 


Meine Mutter und ich (ca. 1942)

Sie bewohnten eine kleine Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses in der Gollierstraße 36 auf der Schwanthalerhöhe in München. Mein Vater hatte Arbeit als Friseur in unserem Viertel und so stand einer Familiengründung nichts im Weg. 


Das Viertel Schwanthalerhöhe, auch Westend genannt, war ursprünglich ein Arbeiterviertel, das im Zuge der Industrialisierung und des Eisenbahnbaus entstanden war. Auch in meiner Kindheit lebten hier die sogenannten „kleinen Leute“ in einfach ausgestatteten Mehrfamilienhäusern. 

Meine Großmutter mütterlicherseits wohnte ebenfalls in unserem Viertel, in der Guldeinstraße 41. Dass sie einen Schrebergarten, gleich um die Ecke in der Barthstraße besaß, war für uns alle ein Glücksfall. Ein wenig Natur und etwas Obst und Gemüse halfen durchaus gegen den immer größer werdenden Mangel an Nahrung in den ersten Kriegsjahren. 


Waren sich meine Eltern der Kriegsgefahr schon vor der Einberufung meines Vaters zu Kriegsbeginn bewusst? Vermutlich schon, denn meine Familie gehörte zu den überzeugten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, die misstrauisch auf die Politik der Nationalsozialisten blickten. 


Mein Großvater und ich 1939

Mein Großvater mütterlicherseits war schon bald nach der Machtergreifung der Nazis nach Dachau ins KZ gekommen. 


Er war SPD-Mitglied und Angestellter bei der Bayerpost und dort als Gewerkschaftsmitglied aktiv gewesen. Die Zerschlagung der freien Gewerkschaften und die Internierung der Gewerkschaftsvertreter ab dem 02. Mai 1933, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, brachte auch meinen Großvater ins KZ. Jahre später wurde er völlig ausgemergelt und todkrank nach Hause entlassen. Er starb kurz nach seiner Entlassung. Ich habe ihn leider nie richtig kennengelernt.


Meine Mutter und meine Oma waren in diesen ersten Kriegsjahren meine hauptsächlichen Bezugspersonen. Der Opa war ja im KZ und mein Vater vom ersten Moment des Krieges an an der Front und kam höchst selten auf Urlaub nach Hause. 

Bombennächte und Sirenengeheul 

Viele Frauen mussten zu dieser Zeit das Alltagsleben allein bestreiten. Besonders schwierig wurde es ab 1942 für die Zivilbevölkerung, als die Bombardierung Münchens durch die Alliierten stetig zunahm. Aus dieser Zeit habe ich sehr intensive und traumatische Erinnerungen, obwohl ich ja erst drei Jahre alt war. 

Zum Beispiel erinnere ich mich,  steif und starr vor Angst im Bett zu stehen. Das Geheul der Sirenen geht durch Mark und Bein. Dass dieses schaurige Geräusch vor etwas warnt, ist mir instinktiv klar, nur nicht wovor. Ich bin drei Jahre alt, habe schreckliche Panik, während meine Mutter verzweifelt versucht, mir etwas anzuziehen, damit wir wie die anderen Hausbewohner auch im Keller etwas Schutz suchen können. Alle hasten die Treppen hinunter und tragen ihre wichtigsten Habseligkeiten in Taschen und kleinen Koffern mit sich. In den Kellergängen stehen Stühle. Ich sitze bei meiner Mutter auf dem Schoß und bin ganz apathisch vor Angst. Einige Nachbarn weinen vor sich hin, manche Kinder heulen laut und panisch. 


Was die Erwachsenen wussten, wir Kinder aber Gott sei Dank nicht, war, dass die Bewohner eigentlich in diesem Keller nicht wirklich vor Bomben geschützt waren. Dieser Luftschutzkeller in unserem Haus war keiner der gesicherten 24 Luftschutzbunker, wie sie in München errichtet worden waren. So ein normaler Keller war weder tief genug noch hatte er ausreichend Sicherheitsvorrichtungen wie verstärkte dicke Decken und Wände, Türen, Luftschächte u.Ä.. 


Ich vermute, dass dieser Sicherheitsmangel meine Mutter bei einem anderen nächtlichen Alarm dazu bewegte, mit mir an der Hand die Gollierstraße entlang in Richtung Theresienwiese zu laufen, wo sie eine Gastwirtschaft kannte, die wohl wenigstens tiefer gelegene oder besser gesicherte Schutzräume hatte. 


Meine Erinnerung daran ist in allen meinen Sinnen heute noch sehr präsent.

Während wir rennen, höre ich nicht nur die Sirenen, sondern auch unheimlich lautes und raues Gebell, das von riesigen Hunden stammen muss. Wir hetzen direkt auf sie zu, so scheint es mir. Meine Instinkte drängen auf Flucht vor den Hunden. Aber meine Mutter zieht mich entschlossen weiter, bis wir im Luftschutzkeller angekommen sind. 

Für mich war das ein verstörendes, unwirkliches Erlebnis. 


Was es mit dem Hundegebell auf sich hatte, erfuhr ich erst viele Jahre später. 


Auf der Theresienwiese war die Flugabwehr stationiert und die feuerte, was das Zeug hielt, auf die Bomber am Nachthimmel. Die Schüsse einer Flugabwehrkanone klingen tatsächlich wie raues wütendes Bellen einer Meute großer Hunde. 


In meiner Erinnerung kann ich die Sirenen immer noch hören. In meiner Erinnerung ist auch Tag und Nacht Fliegeralarm. Diese Eindrücke, diese Erfahrungen, diese Angst haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. 


Heute weiß ich, dass ich 1942 nicht die schlimmsten Luftangriffe miterlebt habe. 1942 begannen die Alliierten erst, München zu bombardieren. Noch waren die Angriffe vereinzelt. Sie häuften sich, bis im Juli 1944 die Stadt im Dauerbombardement am heftigsten attackiert und stark zerstört wurde. 

Evakuierung - Warngauer Zeit 

Aber zu dieser Zeit wohnten wir nicht mehr auf der Schwanthalerhöhe, wir lebten in Warngau nahe bei Holzkirchen auf einem Bauernhof. Nur meine Oma musste in der Stadt ausharren und die Bombentage und -nächte ertragen. Sie war keine junge Mutter mehr und bedurfte daher nach Meinung der Nationalsozialisten keines besonderen Schutzes. 


Besuch bei Oma (rechts im Bild) im Garten in der Barthstraße(ca. 1942/43)

Junge Mütter mit Kindern aber wurden ab dem Frühling 1943 aus München evakuiert.

Meiner Mutter fiel es nicht leicht, ihr Zuhause auf unbestimmte Zeit aufzugeben und irgendwo auf dem Land in fremder Umgebung bei fremden Leuten zu leben. Es half aber nichts, die Sicherheit und Versorgung der Kinder ging vor. 

Am 04. Mai 1943 war nämlich meine kleine Schwester geboren worden. Mangelversorgung wegen der Kriegswirtschaft und Bombennächte mit einem Vierjährigen und einem Neugeborenen zu bewältigen, war kaum zu schaffen. Also schickte sie sich drein und verließ schweren Herzens München in Richtung Süden.


Wenn sie aber dann Monate später von der Anhöhe des Stauchhofes aus, wo wir einquartiert waren, nachts mit den anderen Erwachsenen in Richtung München blickte und die „Christbäume“ über der Stadt beobachtete, wusste sie natürlich, dass sie und ihre Kinder auf dem Bauernhof besser aufgehoben waren. 

Der harmlose Begriff „Christbaum“ stand nämlich für Leuchtsignale der Alliierten, durch die bei einem Bombenangriff die Angriffsziele markiert wurden. „Christbäume“ über München hieß, dass die Stadt kurz darauf bombardiert werden würde. 


Auf dem Stauchhof, etwa ein Kilometer entfernt von Warngau, waren wir jedoch in Sicherheit. Warngau liegt ca. fünf Kilometer südlich von Holzkirchen bei München. In diesem Frühling 1943 fuhren wir, meine Mutter, ich und meine neugeborene Schwester, mit dem Zug bis Warngau und wurden dort mit einer Pferdekutsche abgeholt und auf den Bauernhof gebracht. 

Dort bezogen wir ein Zimmer im Erdgeschoss und aus den Aufzeichnungen meiner Mutter weiß ich, dass sie auf dem Hof mitarbeitete, um uns Kinder zu ernähren. Ich denke, dass es, wie überall, auch auf dem Land an Arbeitskräften mangelte und daher jede Hand zählte, die mit anpacken konnte. 


Mit meinen vier oder fünf Jahren war ich natürlich keine große Hilfe. Aber ich freundete mich mit dem Enkel der Strauchbäuerin, der ungefähr in meinem Alter war und wie ich auch Hans gerufen wurde, an. Die Probleme der Erwachsenen fochten uns nicht an. Wir spielten selbstvergessen, wie es Kinder eben tun, und halfen voller Stolz dort mit, wo wir mehr Nutzen als Schaden anrichten konnten. Beispielsweise bei der Ernte auf dem Feld. 


Und genau da holte uns 1944 der Krieg ein.


Von München kommend sahen wir mehrere Flugzeuge über Warngau fliegen, als eines genau über unserem Feld ein silbernes Ding abwarf. Gebannt starrten alle nach oben. Aber dann brach Chaos aus. Die Erwachsenen schrieen den Kindern zu, schnell wegzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Was da auf uns niederging, musste eine Bombe sein! Alles lief und kreischte durcheinander. Ich rannte um mein Leben in Richtung Heustadel, so schnell mich meine kleinen Beine tragen konnten. Keine Sekunde zu früh erreichte ich das vermeintlich schützende Gebäude, als das Ding, ungefähr 50 Meter vom Stadel entfernt, auf dem Boden aufschlug und - nicht explodierte. Als alle wieder zu atmen wagten, sich beruhigt hatten und sich näher an den „Blindgänger“ herantrauten, stellten sie fest, dass es sich nicht um eine Bombe handelte, sondern um einen Ersatzkraftstoffbehälter. Die Flugzeuge führten damals solche Kraftstoffbehälter als Reserve mit, um ihre Reichweite zu erhöhen und warfen sie offensichtlich ab, wenn sie leer waren. 


Nachdem wir uns von dem Schreck erholt hatten, brachten wir den Tank mit dem Heuwagen zum Hof, wo ihn der herbeigerufene Dorfpolizist begutachtete und veranlasste, dass er irgendwann abholt wurde. Behalten durften wir ihn jedenfalls nicht. 

Rückkehr des Vaters vor Kriegsende 

Dass der Krieg bald zu Ende sein würde, hätte im Februar 1945 eigentlich allen klar sein können. 


-Schon im Februar 1943 hatte die 6. Armee der Reichswehr in Stalingrad kapitulieren müssen. 

-Im Sommer 1943 war die amerikanische 7. Armee auf Sizilien gelandet. 

-Ein Jahr später, 1944, landeten am D-Day die Alliierten in der Normandie und die russische Sommenoffensive der Roten Armee drängte die Reichswehr immer weiter zurück auf deutsches Territorium in den Grenzen vor Kriegsbeginn. 


Der Krieg war für Deutschland, vor allem für die Nationalsozialisten, verloren. Nur verbohrte Fanatiker konnten noch an einen Sieg mittels einer Wunderwaffe glauben. Und dennoch war es lebensgefährlich vom Kriegsende zu reden und nicht mehr an den Sieg Deutschlands zu glauben. 


Alois, der Bruder meiner Mutter, war im Februar 1945 zur Genesung von einer Verwundung beurlaubt und nach Hause geschickt worden. Angesichts des Kriegsverlaufes redeten Familienmitglieder und Freunde auf ihn ein, nach seiner Genesung nicht mehr, wie befohlen, zu seiner Einheit an die Front zurückzukehren. „Wir verstecken dich“, boten Freunde an. 

Aber Alois wollte das nicht riskieren, denn die Weigerung, dem Stellungsbefehl nachzukommen, war Fahnenflucht und auf Fahnenflucht stand der Tod. Viele standrechtlich vollstreckte Todesurteile aus dieser Zeit zeugen davon, dass die Angst meines Onkels Alois nicht unberechtigt war. Und so ging er ein paar Wochen vor Ende des Krieges, nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, hingerichtet zu werden, zurück an die Front. 


Wochenlang blickte meine Oma nach Kriegsende hoffnungsvoll von ihrem Küchenfenster aus in Richtung Guldeinschule, wo Kriegsheimkehrer, Kriegsgefangene und Soldaten entlassen wurden. Bis eines Tages ein Geistlicher kam, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn Alois in Langenargen in der Nähe des Bodensees bei einer Flussüberquerung ein paar Tage vor Kriegsende tödlich verunglückt sei, hoffte sie auf seine Rückkehr. 


Das Schicksal meines Vaters war glücklicher, denn er kehrte noch vor Kriegsende, verletzt, aber lebend und voll Tatendrang zu uns zurück. Durch die Feldpostbriefe meiner Mutter wusste er, wo er uns suchen musste. Nicht in München, sondern bei Warngau auf dem Stauchhof. 


Er lag Anfang März 1945 mit einem Oberschenkeldurchschuss in einem Lazarett in der Tschechei, als das Lazarett aufgelöst wurde, weil die Rote Armee unaufhaltsam vorrückte und die Gefahr, überrannt zu werden, nicht mehr zu leugnen war. Es wurde die Parole ausgegeben, so schnell wie möglich zu fliehen, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Für einen Mann mit Oberschenkeldurchschuss war eine Flucht zu Fuß natürlich nicht wirklich eine Option. 

Mein Vater erzählte später, dass es wohl seine Rettung vor russischer Kriegsgefangenschaft war, dass ihn ein Offizier auf seiner Flucht mit einem Kübelwagen bis Rosenheim mitnahm. Von Rosenheim nach Warngau sind es dann auch noch 36 Kilometer, also ca. neun Stunden strammes Marschieren. Mit seiner Verletzung wäre das wohl kaum zu schaffen gewesen. Aber er konnte sich per Anhalter bis zum Stauchhof durchschlagen. 


Natürlich freute sich meine Mutter sehr darüber, dass ihr Mann relativ gesund bei ihr war. Ich fremdelte aber mit diesem Mann, den nur meine Mutter gut kannte, ich aber nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, welche Bedeutung dieser Mann für unsere Familie hatte. Er sorgte an der Seite meiner Mutter als Vater für Schutz und Geborgenheit für uns Kinder. Dabei war das in der damaligen Zeit des Chaos und der Unsicherheit und des Mangels gar nicht so einfach. 


Mein Vater befand sich in einer recht prekären Situation, da sein Status ungeklärt war. 


Nicht wegen seiner Verwundung. Die Wunde heilte schnell und behinderte ihn nicht. Aber dass er aufgrund der Flucht aus dem Lazarett nicht offiziell aus der Wehrmacht entlassen worden war, also keinen entsprechenden Stempel in seinem Soldbuch hatte, konnte ihn den Kopf kosten. Denn ohne Entlassungsvermerk war er eigentlich ein Fahnenflüchtiger. 


Aber selbst wenn er nicht mehr irgendwelchen fanatischen Nazis der letzten Kriegstage in die Hände gefallen wäre, so hätte er ohne diesen Eintrag keine offizielle Arbeit annehmen können. Das Risiko, womöglich von der SS aufgehängt zu werden oder seine Familie nicht ernähren zu können, weil er nicht arbeiten konnte, war ihm zu groß. Da schien ihm das Delikt „Urkundenfälschung“ schon weniger schwerwiegend. Er fertigte also einen Stempel an, womit er seine Entlassung aus der Wehrmacht beglaubigte. Problem gelöst! Noch in Warngau ging er beim Bader Kienzle seinem Handwerk als Friseur nach. 


Die Fähigkeit meines Vaters konsequent und entschlossen zu handeln, sorgte für eine gewisse Stabilität in unserer Familie. Aber um uns herum war das reine Chaos.

Chaos der letzten Kriegstage 

Auf dem Berghammer-Hof, höchstens 100 Meter vom Stauchhof entfernt, wurde in den letzten Kriegstagen eine Wehrmachtseinheit aufgelöst, die dort einquartiert worden war. Man munkelte, es handle sich dabei um eine Einheit der Waffen-SS. Richtig zuzuordnen waren die Soldaten ja nicht mehr, denn sie entledigten sich ihrer Uniformen sowie aller Kennzeichen und Symbole ihrer militärischen Zugehörigkeit. Nur weg damit! Die einst stolzen Hitler-Unterstützer wollten vor den Amerikanern nicht als Nazis dastehen. Aber offensichtlich waren sie immer noch besser versorgt als der Rest der Bevölkerung, jedenfalls mit den damals sehr kostbaren Zigaretten. Ich weiß das, denn für meinen Vater sollte ich dort manchmal Zigaretten organisieren, was mir tatsächlich gelang. 


Auf dem Stauchhof tauchten ständig versprengte Soldaten auf, die nicht wussten, wohin sie sich in dieser wirren Zeit wenden sollten. Die Stauchbäuerin brachte sie notdürftig im Heustadel unter, wo sie sich vor der SS verstecken mussten und auf die Befreiung durch die Amerikaner warteten. 


Nicht nur die Soldaten warteten auf die Amerikaner, sondern die ganze Bevölkerung Warngaus blickte in Richtung Holzkirchen, wo man wusste, dass sie dort schon einmarschiert waren. Die Stimmung war äußerst angespannt, die Erwachsenen warteten unruhig auf das, was da auf sie zukommen würde. 


Als schließlich Ende April ein Auto über den Feldweg auf unseren Hof zufuhr, war es endlich so weit. Der Krieg war zu Ende!


Aber ich, noch nicht ganz sechs Jahre alt, war enttäuscht. Nicht weil nun der Krieg zu Ende war. Das konnte ich damals noch nicht so richtig einordnen. Ich kannte ja gar keine Zeit des Friedens. Das hatte ich in den ersten sechs Jahren meines Lebens nicht erlebt. 

Nein, ich war von den Amerikanern enttäuscht. Ich war so neugierig darauf gewesen, wie die wohl aussehen würden, diese Amerikaner, von denen ständig die Rede war. Aber die sahen ja aus wie wir! Fast wie die deutschen Soldaten! Das fand ich schon recht irritierend. 

So richtig verstanden habe ich auch nicht, wieso die deutschen Soldaten auf unserem Hof kurz darauf auf einen Lastwagen steigen mussten und weggebracht wurden. Aber was genau mit ihnen geschehen würde, wussten damals auch die Erwachsenen nicht. 


Ich spürte natürlich die Verunsicherung der Erwachsenen und ich ahnte instinktiv, dass große Veränderungen auf uns zukommen würden. Sicherlich habe ich auch die Gespräche meiner Eltern mitbekommen, in denen sie Zukunftspläne schmiedeten, die Rückkehr nach München planten und dabei meine Einschulung im September 1945 berücksichtigten. Aber verstanden habe ich natürlich nicht wirklich, worum es ging. 

Diese neue Welt, dieses neue Leben war ja keine Fortsetzung meines bisherigen Lebens, sondern es war ein Neuanfang mit lauter unbekannten Umständen. Heute achten Eltern darauf, dass ihre Kinder auf einen etwaigen Umzug und auf den Schulbeginn vorbereitet werden. Damals war das nicht üblich und vielleicht auch nicht möglich.

Rückkehr nach München mit dem Rad 

Die erste große Veränderung in meinem Leben war, dass ich im Sommer 1945 weggebracht wurde. Weg von meiner Mutter, meiner kleinen Schwester, vom Stauchhof, meinem Freund und allem, was bis dahin mein Leben gewesen war. 

Mein Vater packte mich und ein paar Sachen auf sein Fahrrad und wir radelten auf der Reichsautobahn über Holzkirchen nach München. Meine Mutter und meine kleine Schwester blieben vorerst noch auf dem Hof zurück. 


Ich erinnere mich daran, dass wir an Waldschneisen Halt machten, um die dort abgestellten und offensichtlich unbewachten Flugzeuge der deutschen Luftwaffe nach Brauchbarem zu untersuchen. Mein Vater baute eines der Funkgeräte aus, aber wozu, das weiß ich nicht. Vielleicht benötigte er es, um Lebensmittel auf einem der Münchner Schwarzmärkte dafür einzutauschen. 


München selbst war zu dieser Zeit ein trauriger Anblick. Zerstörte Häuser, Schutt auf den Straßen. Viele Menschen liefen geschäftig zwischen den Trümmern umher, entweder um die Straßen von Schutt zu befreien oder um nach Nahrungsmittelquellen oder nach benutzbaren Wohnräumen zu suchen, um vor Geschäften anzustehen oder auf dem Schwarzmarkt etwas einzutauschen.


Mein Vater brachte mich zu meiner Oma in die Guldeinstraße 41. Das Vorderhaus, in dem meine Oma wohnte, war Gottseidank unversehrt. Aber das Rückgebäude war nur noch eine Ruine. Ich kleiner Kerl kehrte also im Alter von sechs Jahren als erster wieder zurück auf die Schwanthalerhöhe und damit begann für mich bald die Schulzeit in der Nachkriegszeit. (HB) 

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