Und immer wenn du denkst es geht nicht mehr kommt from irgendwo ein Lichtlein her.
- lisaluger
- 5. Feb. 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. Mai 2023
Kolumbien/Ecuador, April 1980
Wir, zwei junge deutsche Studentinnen, hatten uns viel vorgenommen für unsere 8-monatige Reise durch Lateinamerika, von Kolumbien bis Bolivien und zurück. In einer Zeit, in der uns weder Internet oder Handy zur Verfügung standen, hatten wir auf die altbewährte Weise Bücher konsultiert, Reiseführer und Landkarten zu Rate gezogen, uns Anschriften von Botschaften notiert und einige Spanischkenntnisse erworben. Damit fühlten wir uns ausreichend für die gemeinsame Reise gerüstet.
Unser Reiseplan sah vor, dass wir von der in den Anden gelegenen Stadt Pasto aus den mächtigen aktiven Vulkan Galeras in Südwestkolumbien besteigen wollten. Pasto liegt 2.897 Meter über dem Meeresspiegel, also schon recht hoch. So sollte es für uns ein Leichtes sein, den 4.276 Meter hohen Vulkan zu erklimmen. Dachten wir jedenfalls!
Gesagt getan. Wir machten uns voller Zuversicht auf den Weg. Bald jedoch stellte sich heraus, dass es sich nicht um einen etwas anstrengenderen Spaziergang handelte, sondern um einen sehr anspruchsvollen steilen Aufstieg. Mir machte die Höhenluft zu schaffen. Ich wurde langsamer und langsamer sowie zusehends schwächer und mir war übel. Schließlich signalisierte ich meiner Freundin, dass sie alleine weitergehen solle. Auf dem Rückweg könne sie mich ja wieder abholen. Ich müsse mich dringend ausruhen.
Ein Jeep, eine Großfamilie und eine Flasche Aguardiente
So saß ich da am Wegesrand, blickte ein wenig enttäuscht vor mich hin und hoffte, wieder zu Kräften zu kommen. Denn ich wollte diesen Vulkan unbedingt sehen.
Da hielt ein Jeep neben mir und der Fahrer bot an, mich mitzunehmen. Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Ich stieg in das Auto, in dem schon seine ganze Familie versammelt war, nämlich seine Frau, drei Kinder sowie Oma und Opa. Aber da war tatsächlich auch noch Platz für mich.
Ich erzählte ihnen, dass mir die Höhe zu schaffen mache. Das sei ein häufig auftretendes Problem bei vielen Menschen, auch Einheimische seien davon betroffen, erfuhr ich von den Familienmitgliedern. Aguardiente sei das beste Mittel gegen die Höhenkrankheit, verkündete die Großmutter und reichte mir prompt eine Flasche einheimischen Schnaps, aus der ich dankbar einen großen Schluck nahm. Es sei schließlich Medizin, sagte ich mir. Der Aguardiente war stark und schmeckte nach Anis. Geschmeckt hat er mir gut, aber geholfen hat er nicht viel. Mir war immer noch übel und ich war schwach auf den Beinen.
Am Krater oben angekommen, trafen wir auf meine Freundin. Nach einer obligatorischen Inspektion des Kraters und einem kurzen Rundgang fuhren wir mit der Familie zurück nach Pasto. Unvorstellbar, aber auch meine Freundin konnte sich noch ins Auto quetschen. Zurück in der niedriger gelegenen Stadt ging es mir bald wieder besser, auch ohne Schnaps.
Reiseführer sind nicht immer up-to-date
Am nächsten Tag mussten wir früh los. Statt die übliche Tour nach Ecuador über die Anden zu nehmen, hatten wir uns kurzfristig für eine andere Route entschieden. Wir hatten vor, an die Küste zu fahren und von der sicherlich sehr idyllischen Hafenstadt Tumaco aus wollten wir mit einem Boot an der Pazifikküste entlang nach Ecuador schippern. So war der Plan. Laut unserem Reiseführer sollte das möglich sein.
Eine sechsstündige Busfahrt führte uns weg von den Anden zur Küste. Die Fahrt war ein beeindruckendes Erlebnis. Innerhalb kürzester Zeit wechselte die Landschaft von kargem Bergland zu saftig grünen Bananen-Plantagen, Palmenhainen und üppigem Dschungel. Wir waren begeistert.
Als wir aber aus dem Bus ausstiegen, war unsere Enttäuschung groß. Statt einer wunderschönen Küstenstadt mit Sandstrand und blauem Meer erwartete uns eine schmuddelige Stadt, die nach Abfällen und Abwasser stank.
Was wir nicht wussten, (und das stand natürlich nicht in unserem Reiseführer) war, dass wenige Monate zuvor, im Dezember 1979, die Region Tumaco von einem Erdbeben erschüttert worden war und ein Tsunami Teile der Küste verwüstet hatte. Mehr als ein Zehntel der Häuser waren zerstört worden. Ringsum konnte man die Spuren der Naturkatastrophe noch erkennen, wenn man davon wusste.
Zufälle gibt es!
Uns stellte diese Situation, mit der wir nicht gerechnet hatten, vor ein Problem. Wo konnten wir unterkommen? Von einem Hotel keine Spur! Wir waren entsetzt. Ratlos setzten wir uns in ein einigermaßen funktionstüchtiges Café, um zu überlegen, was nun zu tun sei.
Plötzlich hörten wir eine bekannte Stimme, die uns rief. Tatsächlich, der Mann, der auf uns zukam, war der freundliche Autofahrer vom Vortag. Er war aus beruflichen Gründen in Tumaco, hatte aber dennoch Zeit, uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Prompt hatte er auch eine Lösung für unser Dilemma.
Er brachte uns zu einer ihm bekannten Familie, die in ihrem großen Haus auch noch Platz für uns hatte und uns mit offenen Armen aufnahm. Die Kinder freuten sich darüber, dass sie voller Stolz ihre Englischkenntnisse zum Besten geben konnten. Die Mutter bekochte die Gringas mit großer Leidenschaft und der Vater berichtete über das Erdbeben und den Tsunami und kutschierte uns mit seinem Auto in der Gegend herum, um uns das Ausmaß des Schadens zu zeigen.
Am nächsten Tag arrangierte er für uns einen Platz auf einem Boot, das entlang der Küste nach Ecuador fuhr. Ganz so wie wir es ursprünglich geplant hatten. Was für eine nette, hilfsbereite und gastfreundliche Familie hatten wir da schon wieder kennengelernt! Ein Glücksfall mitten in einem Gott verlassenen Kaff, in einer scheinbar ausweglosen Situation! Und was für ein Zufall, dass wir unseren Freund aus Pasto genau in dem Moment wiedergesehen hatten, als wir nicht mehr weiter wussten!
Mit dem Schmugglerboot ins Nirgendwo
Mit etwas Verspätung ging dann unsere Bootsfahrt gegen Mittag los. Wir saßen in einem kleinen Motorboot mit einem Bootsführer und weiteren Fahrgästen. Unterwegs holten wir noch andere Fahrgäste direkt von ihren Häusern ab. Diese Häuser standen auf Pfählen im stinkenden Wasser, durch das die Reisenden waten mussten, um ins Boot zu gelangen. Aber niemand beschwerte sich. Alle waren froh, einen Platz im Boot ergattert zu haben. Schließlich war das Boot überfüllt und hing beunruhigend tief im Wasser.
Mir fiel auch auf, dass unser Bootsführer für meine Begriffe etwas zu lange in den Mangrovensümpfen herumsteuerte. Wir schienen nicht vorwärts zu kommen. Allmählich wurde es dunkel und ich wurde etwas nervös.
Doch plötzlich kam Leben in unseren Bootsmann. Er jauchzte und stieß vor Freude die Faust zum Himmel. Wie es schien, hatte er, außer uns, auch eine illegale Warenladung an Board und war in dem Moment der Gefahr entkommen, von der Grenzpolizei erwischt zu werden. Von da an konnten wir loslegen und würden hoffentlich bald ankommen.
Als das Boot schließlich anhielt und wir aufgefordert wurden auszusteigen, war es schon lange dunkel. Wir hatten keine Ahnung, wo wir waren. Die wenigen Leute, die mit uns ausgestiegen waren, verschwanden schnell zwischen den Häusern irgendwohin. Perplex machten wir uns mit unseren Rucksäcken auf den Weg in den spärlich beleuchteten Ort.
Es war 2 Uhr morgens. Nicht gerade eine Zeit, zu der man in einer fremden finsteren Stadt nach einer Unterkunft suchen möchte. Aber wir fanden schließlich doch ein Hotel und klingelten ohne große Hoffnung. Doch wir wurden reingelassen. Wir bezahlten und bezogen das Zimmer, das uns zugewiesen worden war. Es war alles recht einfach. Die Betten waren schmal und durchgelegen. Aber das war uns egal. Wir waren hundemüde. Auf unsere Frage, wo denn die Toilette oder das Bad sei, wies der Rezeptionist mit dem Kopf in eine Richtung. Da es kein Licht gab, sondern nur Kerzen, war es ganz praktisch, dass man die Toilette nicht verfehlen konnte, wenn man der Nase nach ging. Der Gestank wies uns den Weg.
Schließlich machte ich es mir in meinem Bett gemütlich, ließ den Strahl der Taschenlampe noch über die Wände gleiten, was ein großer Fehler war. Im Schein meiner Taschenlampe huschte zehn Zentimeter neben meinem Gesicht ein riesiger Gecko über die Wand. Er war bestimmt dreißig Zentimeter lang, im Schatten der Lampe erschien er jedoch monströs. Nun begann es natürlich in meinem Kopf zu rattern. Was mochte sonst noch an Ungeziefer und Getier in unserem Zimmer sein? Ich schauderte. An Schlafen war nun nicht mehr zu denken.
Gegen Morgen, als die ersten Hähne krähten und es dämmerte, verließen wir unser ungastliches Hotel und machten uns auf die Suche - ja nach was eigentlich?!
Aufmerksame Menschen gibt es an den entlegensten Orten
Der Ort war von Wasser umgeben. Waren wir auf einer Insel? Die Straßen waren aufgrund des heftigen Regens während der Regenzeit überschwemmt. Wir mussten durch Tümpel waten, in denen das Wasser kniehoch stand. Ziellos und etwas verzagt irrten wir umher. Schließlich kamen wir an einen Platz mit Stufen, die zu einer Kirche führten. Auf dieser Treppe ließen wir uns nieder und versuchten, unsere Situation zu erfassen.
Wir hatten keine Ahnung, wo wir eigentlich waren. Noch in Kolumbien oder bereits in Ecuador? Wenn wir uns bereits in Ecuador befanden, dann hatten wir ein Problem, denn wir hatten weder einen Ausreisestempel von Kolumbien noch einen Einreisestempel von Ecuador in unseren Pässen. Wir waren also Illegal in diesem Land. Aber wie konnten wir jetzt noch legal einreisen? Und wie sollten wir je wieder von dieser gottverdammten Insel herunter kommen?! Hätten wir doch bloß den Bus über die Anden genommen!
Als wir frustriert und besorgt auf den Kirchenstufen hockten, hörten wir eine dunkle angenehm sonore Stimme, die sich an uns richtete. Wir schauten auf und sahen eine schlanke schwarze Frau vor uns, die freundlich fragte, ob sie uns denn helfen könne.
Diese Frau verstand wohl instinktiv, dass hier ihre Hilfe benötigt wurde. Sie rief ihrem Mann zu, er solle etwas zu essen besorgen und lud uns ein, bei ihr einen Kaffee zu trinken. Wir nahmen dankend an und genossen kurz darauf die süßen Brötchen, die der Mann für uns gekauft hatte. Erst als wir die Brötchen mit Heißhunger hinunter schlangen, fiel uns auf, dass wir seit nahezu einem Tag nichts mehr gegessen hatten.
Gestärkt an Körper und Seele erzählten wir unserer Gastgeberin von unserer desolaten Lage. Alles gar nicht so schlimm, meinte sie. Sie beschrieb uns den Weg zum Sitz des regionalen Gouverneurs, von dem wir einen Einreisestempel bekommen konnten. Aber jetzt sei es noch zu früh, denn er sei erst so gegen 10 Uhr in seinem Büro. Sie klärte uns auch darüber auf, dass wir tatsächlich auf einer ecuadorianischen Insel gelandet waren. Aber so gegen Mittag würde ein Boot gehen, das uns in die Küstenstadt Esmeraldas bringen könnte. Alles klar.
Unsere scheinbar unüberwindlichen und bedrückenden Probleme waren gelöst. Sogar die Sonne fing an zu scheinen. Es konnte weitergehen.
Ich werde die schlanke schwarze Frau mit ihrer dunklen warmen Stimme nie vergessen. Wie ein Schutzengel ist sie uns in dieser schlimmen Situation erschienen. Bis heute empfinde ich große Dankbarkeit.
Aber nicht nur ihr, sondern auch all den anderen Helfern auf dieser Reise bin ich dankbar. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass der Spruch, der im Poesiealbum meiner Kindheit immer wieder auftaucht, einen gewissen Wahrheitsgehalt besitzt:
Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. (LL)

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