Stille
- titanja1504
- 8. Dez. 2022
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Juni 2023
(DE) In dieser Nacht muss ich tief geschlafen haben und wache nur sehr langsam auf. Es ist, als ob sanfte Wellen mich aus dem Reich der Träume in die Wirklichkeit spülen würden. Eingerollt wie eine Katze liege ich in meinen Kissen, als ich schließlich die Augen öffne. Tageslicht sickert bereits in dünnen Streifen durch die Ritzen der geschlossenen Jalousie. Abgemildert durch den schweren roten Vorhang ist das Zimmer in mattes Dämmerlicht getaucht. Mein Blick wandert über das schemenhaft zu erkennende Mobiliar: Links von meinem Bett die alte Kommode mit den glänzenden Messingbeschlägen; an der Wand gegenüber mein Schreibtisch mit der chinesischen Vase, die mir mein asiatischer Liebhaber vor vielen Jahren zum Abschied geschenkt hat. Unter dem Fenster mit dem roten Vorhang steht meine kleine Chaiselongue mit dem reich bestickten indischen Überwurf und den perlenbesetzten Zierkissen.

An der Wand darüber erkennt man den mattglänzenden Goldrahmen eines Bildes, dessen Motiv noch im Dunkeln verborgen ist. Rechter Hand befindet sich ein zierliches Bücherregal mit gedrechselten Füßen und Streben, in dem meine Lieblingsbücher ihren Platz haben. Auch die Grünlilie fühlt sich dort wohl und schickt ihre bogenförmigen Ausläufer in den Raum. Von der Decke hängt ein kleiner Lüster, den ich vor langer Zeit auf einem Flohmarkt erstanden habe. An dem runden Messingring sind schmale Kristallstäbchen angebracht, die das Licht in viele Facetten brechen und wie glitzernde Fransen herabhängen, wenn das Licht eingeschaltet ist. Jetzt kann man nur ahnen, wie hübsch diese Beleuchtung am Abend aussieht, wenn sie Schatten an die Decke wirft.
Von draußen dringt kein einziger Laut ins Zimmer. Das ist ungewöhnlich und für einen Moment stelle ich mir schmunzelnd vor, dass die Welt untergegangen ist, ohne dass ich es bemerkt habe.
Kein Vogelgezwitscher, keine lärmenden Nachbarskinder auf dem Weg zur Schule, kein Motorengeräusch von der nahe vorbeiführenden Straße – nichts, einfach nichts. Ich lausche in diese Stille hinein und versinke in eine Art Trance. Eine tiefe innere Ruhe breitet sich in mir aus. Ich verharre regungslos und höre mich gleichmäßig atmen. Ein selten erlebtes Glücksgefühl und eine tiefe innere Zufriedenheit durchströmen mich.
Es ist ein wunderbarer Beginn für einen neuen Tag.
Dann stehe ich auf und gehe hinunter in die Küche. Ich bereite das Frühstück zu und schalte das Radio an. Mir stockt der Atem: Die Morgennachrichten melden eine weitere Ausbreitung der Pandemie. Die Ausgangssperre sowie der seit Wochen herrschende Lockdown werde verlängert. Schulen blieben weiterhin geschlossen. Arbeitgeber seien aufgefordert, weitestgehend Homeoffice zu ermöglichen. Das Tragen von FFP2 Masken sei ab jetzt verpflichtend. Eine neue, noch ansteckendere Variante des Virus sei entdeckt worden.
Die Stille wird wohl noch längere Zeit andauern und mit dem Glücksgefühl ist es für diesen Tag vorbei. 30. Januar 2021 (Monika L.)
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