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Menschen im Wohnblock der 50er Jahre: Teil 1

  • titanja1504
  • 20. Juli 2023
  • 11 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Juli 2023

Meine Großmütter und ihre Geschichte

(DE) Als ich 1953 in diese Wohnblock-Gesellschaft am südlichen Stadtrand Regensburgs hineingeboren wurde, hatten die meisten der dort lebenden Menschen gemeinsame Erinnerungen an die Nazizeit, die Kriegs- und auch die Nachkriegszeit und sie blickten recht optimistisch in die Zukunft. Langsam ging die Nachkriegszeit in die Wirtschaftswunder-Zeit über.


Aber noch war es nicht so weit. Noch herrschte Wohnungsnot, Einschränkung und Mangel. Für die einen mehr, für die anderen weniger.

Hofbereich zwischen den Wohnblöcken ca. 1950
Blick in den Hofbereich zwischen den Wohnblöcken um 1950

Die Menschen, die in diesen schlammbraunen Wohnblocks in winzigen, durchschnittlich 46-Quadratmeter-Wohnungen ohne Bad lebten, gehörten zu den so genannten „kleinen Leuten“, von Fürsorgeempfängern wie meiner Oma mütterlicherseits, über Arbeiter, kleine Angestellte und Beamte mit ihren Familien, bis hin zu besser situierten alleinstehenden Kriegswitwen. Zu Beginn der 50er Jahre kamen mittellose Flüchtlinge bzw. Vertriebene aus dem Osten hinzu und wurden in neu gebauten „Volkswohnungen für Flüchtlinge“ untergebracht. Diese Wohnblöcke wurden von der Stadtbau GmbH Regensburg auf einer freien Fläche zwischen den bereits existierenden Wohnblöcken errichtet.

Ab 1939 - zwei Familien im neuen Wohnblock

Mit Kriegsbeginn 1939 waren die meisten Familien damals in die neu gebauten Wohnblöcke eingezogen. Die Familie meines Vaters und die meiner Mutter lebten nur zwei Haustüren voneinander entfernt. Meine Eltern waren ungefähr sechs Jahre alt, als sie auf der Straße vor dem Haus spielten, wo auch ich ca. 15 Jahre später herumtoben würde.

Ende der 30er bzw. Anfang der 40er Jahre begann also das Leben meiner Familie im Wohnblock am südlichen Stadtrand Regensburgs.

Großmutter mütterlicherseits

Meine Großmutter mütterlicherseits war alleinstehend mit drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen.

Meine Großmutter Anna ca. 1941

Eigentlich hätte sie ein Haus auf dem Land ihr eigen nennen sollen, denn ihre Familie, Besitzer eines großen Bauernhofes in einem südlich von Regensburg gelegenen Dorf, hatten ihr und ihrem Mann ein Grundstück vermacht. Da aber mein Großvater unmittelbar nach der Geburt des jüngsten Kindes, meiner Mutter, 1933 gestorben war, nahm man ihr das Grundstück wieder weg und gab es ihrem Bruder. Er solle ein Haus für sich und seine Familie bauen und zusätzlich noch eine Wohnung für die verwitwete Schwester und deren drei kleine Kinder im Haus einplanen. Das tat er auch. Aber das Zusammenleben gestaltete sich äußerst schwierig, wie meine Oma oft erzählte. Sie sei von ihrer Schwägerin schikaniert worden und habe ständig im Haus umziehen müssen. Damals habe sie auf dem Hof mitgeholfen und als Bedienung gearbeitet, während die Kinder von der Großmutter gehütet wurden. Das Leben sei so schon nicht leicht gewesen, aber wenn man im eigenen Heim auch nicht zur Ruhe kommen konnte, dann könne das unerträglich sein. Es kam wohl zum Streit zwischen den Schwägerinnen und meiner Oma eröffnete sich mit der eigenen Wohnung in der Stadt und einem Job bei der Post die Chance auf ein unabhängiges Leben. Sie besaß nichts mehr und war dennoch glücklich in ihrem Kleinstwohnung-Paradies. Jedenfalls endete diese Erzählung immer mit einem Happy End. Wobei ich mich aus heutiger Sicht durchaus frage, wie meine Großmutter das während des Krieges bewerkstelligt hat, diese ca. 12, 8 und 6 Jahre alten Kinder zu versorgen und zu hüten und gleichzeitig ihrer Arbeit bei der Post nachzugehen.

Nach dem Krieg, als alles leichter geworden wäre, musste sie dann ihren Arbeitsplatz für einen männlichen Bewerber räumen. Die staatliche Arbeitsmarktstrategie in der Nachkriegszeit lautete, dass die Ernährer, also die Männer, bei der Arbeitsplatzbesetzung Vorrang vor Frauen hatten, sogar wenn diese auch alleinige Ernährerinnen waren. So musste sie froh sein, dass sie als Fürsorgeempfängerin dann wenigstens eine bezahlbare Wohnung hatte.

Großeltern väterlicherseits

Meine Großeltern väterlicherseits schätzten sich ebenfalls glücklich, ein eigenes Zuhause zu haben, selbst wenn es nur 46 Quadratmeter maß. Sie hatten im Haus der Eltern meines Großvaters gelebt, in Stadtamhof, einem historischen Stadtteil jenseits der Steinernen Brücke. Bei den regelmäßigen Überschwemmungen dieses Stadtteils durch die Donau mussten oft die Möbel auf Böcke gestellt werden und die ganze Familie verlegte den Lebensmittelpunkt in den ersten Stock. Man war in diesem Stadtteil Mitglied einer angesehenen und sehr umfangreichen Handwerkerfamilie, die meine schwäbische Großmutter, die von einer Dienstmagd abstammte und auch selbst Dienstmädchen gewesen war, etwas dünkelhaft behandelte. Meine selbstbewusste und zur Damenhaftigkeit neigende Großmutter war da sehr empfindlich und, wenn es sein musste, auch recht streitbar.

Mein Großvater hat mir immer erzählt, dass er als junger Familienvater lieber mit seinen Kumpels aus der Schulzeit in der Kneipe war, als zu Hause bei der Familie. Wahrscheinlich war auch das ein Grund für meine Großmutter, aus dieser Umgebung wegzuziehen, denn man konnte das Geld viel besser zusammenhalten, wenn der Mann nicht in der Kneipe die Freunde freihielt. Da war sie ganz Schwäbin, durch und durch.

Kinder 1940
Mein Vater, die kleine Schwester Renate und die große Schwester Inge 1940

1939 bestand die Familie aus drei Kindern, eine große Schwester, eine neu geborene kleine Schwester, meinem Vater, das mittlere Kind Jahrgang 1933, und den Eltern. Wobei mein Großvater dann während des Krieges eingezogen wurde und an der Ostfront kämpfte, wo er auch schwer verwundet wurde. Als Kind habe ich immer wieder das gut sichtbare, nur mit einer Haut überdeckte Loch im Kopf meines Großvaters, genauer gesagt am Haaransatz, begutachtet. Er war nach dem Krieg Vollinvalide, konnte nicht mehr arbeiten und erhielt eine stattliche Kriegsversehrtenrente. Die kleine Schwester meines Vaters war bei einer Typhusepidemie unmittelbar nach dem Krieg gestorben und die große Schwester war mit ihrem polnischen Mann nach dem Krieg nach Australien ausgewandert. So waren zum Zeitpunkt meiner Geburt 1953 in der Familie meines Vaters nur noch drei Mitglieder übrig, die zusammen in dieser kleinen Wohnung lebten. Ein kranker Mann, eine um ihre Kinder trauernde einsame Frau und ein Jugendlicher, der während der Woche auf Montage war und am Wochenende ausging, wie alle Jugendlichen das gern tun.

Hausen auf 46 Quadratmetern

Da diese Wohnungen auch in den 50er Jahren noch so aussahen wie in den 40ern, habe ich die Enge und den Mangel jedweden „Luxus“ noch genau vor Augen, obwohl ich das damals natürlich nicht so empfunden habe.

Ich wuchs die ersten sieben Jahre meines Lebens bei meiner Oma mütterlicherseits in diesem Wohnblock auf und kehrte immer wieder zu ihr zurück, wenn mir das eigene Leben gerade nicht so gut gefiel. Es war ein ärmliches, aber eben mein ärmliches Zuhause!


Das Zentrum und Herz der Wohnung, die aus Küche und zwei Zimmern bestand, war die Wohnküche mit Kohlenherd, einem angeschlagenen Keramik-Waschbecken mit fließendem, aber ausschließlich kaltem Wasser, einem Küchenbuffet, einer Couch mit einem Esstisch davor und drei Stühlen, wovon einer ein Wasch-Hocker war. Den brauchte man, damit sich die Bewohner in der Küche waschen konnten. Wenn man den Deckel hochklappte, kam ein Becken und eine Seifenschale zum Vorschein. Fertig war die Waschgelegenheit. Wichtig war noch das Radio in der Ecke neben der Couch am Esstisch. Es dudelte den ganzen Tag. Und meine Oma mütterlicherseits hatte den „grünen Daumen“, weswegen auch noch jede Menge Zimmerpflanzen Platz finden mussten.

Das war’s! In diesem Ambiente lebten mindestens vier, manchmal fünf Leute. Ich habe heute im Rückblick keinen genauen Überblick mehr.


In der Wohnküche spielte sich das Leben ab. Hier wurde gekocht, sich gewaschen, die kleine Wäsche gemacht, gegessen, gemütlich beieinander gesessen, Radio gehört und sich unterhalten.

Hier wurde im Winter geheizt, während die anderen beiden Räume in Kälte erstarrten, weil sie ja nur als Schlafzimmer genutzt wurden und man Schlafzimmer in dieser Zeit keinesfalls heizte. Wozu wären sonst Wärmflaschen erfunden worden?!

Das winzige schlauchartige Zimmer, das von der Küche abging, war zwar mit einem Kohleofen ausgestattet, aber der wurde äußerst selten in Betrieb genommen. Wozu auch? Man saß sommers wie winters in der Küche beieinander. Niemand beanspruchte so etwas wie einen Rückzugsort oder Privatsphäre während des Tages oder am Abend vor dem Zubettgehen.

Als ich die Familie vergrößerte, lebte meine Oma mit ihren drei Erwachsenen Kindern in dieser winzigen Wohnung ohne Bad.

Familie mütterlicherseits um 1950: Schwester Sissi, Bruder Xaver, meine Mutter Erna und meine Oma

Wir waren meist zu fünft, allerdings mit wechselnder Besatzung. Als meine Eltern 1955 heirateten und sich eine kleine Altbauwohnung herrichteten, blieb ich dennoch bei Oma geparkt, weil beide arbeiteten. Meine Tante heiratete ebenfalls und zog mit ihrem Mann nach München, der dort seine erste Anstellung erhalten hatte.

Aber nun hatte es mein Onkel seiner kleinen Schwester nachgemacht und wurde ungeplant Vater. Also zog er 1958 mit seiner schwangeren Frau bei Oma ein, die an die kleine Familie das Schlafzimmer abtrat. Oma und ich und teilweise mein neu geborener Cousin schliefen in dem länglichen Kämmerchen.


Für uns alle war also die Wohnküche, Koch-, Ess-, Wohnraum und in Ermangelung eines Bades, auch das Badezimmer. Und natürlich saß meine bereits weggezogene Mutter abends oft mit am Küchentisch, da mein Vater ja sowieso während der Woche auf Montage war und nicht nach Hause kam. Ja sogar die „Münchner“, also meine Tante und ihr Mann, kamen im Urlaub zu Besuch und schliefen dann in der Küche auf der Klappcouch.


Das kann doch nicht gutgehen! Da muss es doch oft zu Streitereien gekommen sein, wenn so viele Menschen auf so engem Raum aufeinander saßen!

Das war mit Sicherheit auch der Fall, aber ich erinnere mich nur an „dicke Luft“, in der ich ganz brav und still in einer Ecke so tat, als spiele ich vor mich hin. Vermutlich war meine harmonie- und ruhebedürftige Großmutter dafür verantwortlich, dass sich die zänkischeren Familienmitglieder in ihrem Beisein nicht so recht aus der Deckung wagten.


Aber die Erinnerungen, die mir ein Leben lang präsent waren und sind, sind die Erzählungen von früher, die abends am Küchentisch die Runde machten, wenn ich schon im Bett lag und nur die Tür zur Küche einen Spalt breit offen stand. Mit dem Licht gelangten auch die Geschichten zu mir.

So erzählte meine angeheiratete ca. 18-jährige von mir sehr verehrte Tante, während sie Laufmaschen der Nylon-Strümpfe mit einer Spezialnadel auffing, dass sie als Teenager nachts oft heimlich über die Mülltonnen unter ihrem Fenster ausgebüxt sei, um zum Tanzen zu gehen oder Freunde zu treffen. Ich war voller Bewunderung!

Erzählungen von der „Durchlaucht“
Dienstboten des fürstlichen Haushaltes in Schloss Höfling - 20er
Dienstboten des fürstlichen Haushaltes (meine Oma 3.v.l.) in Schloss Höfling - 20er Jahre

Meine Oma erzählte voller Begeisterung von ihrer Zeit als ganz junges Dienstmädchen beim Fürsten Thurn & Taxis. Die Durchlaucht, also die Fürstin, habe sonntags manchmal dafür gesorgt, dass die Dienstmädchen zum Tanzen und wieder zurück chauffiert wurden. Auf die Durchlaucht ließ meine Oma nix kommen.

„Anni“, habe die Durchlaucht gesagt, „warum sind Sie nicht zu uns gekommen?!“ Sie meinte damit, als meine Großmutter ungewollt und unverheiratet schwanger geworden war, hätte sie sich der Fürstin anvertrauen sollen, obwohl sie gar nicht mehr in ihren Diensten stand.

„Ja“, fragte ich mich auch in meinem Bett, „warum ist die Oma nicht zur Durchlaucht gegangen und wäre vielleicht eine Prinzessin geworden statt eine arme Oma?“

Omas Gründe habe ich nie erfahren. Vielleicht hat sie sich geschämt oder sie war zu stolz.


Wirklich stolz aber war sie auf ihren Aufenthalt von 1926 bis 1928 im holländischen Rotterdam, unmittelbar nach ihrer Anstellung im Hause Thurn & Taxis.

Meine Großmutter (l.i.B.) in Holland 1926/27
Meine Großmutter (l.i.B.) in Holland 1926/27

Das Leben als Dienstmädchen bei einer holländischen Familie gefiel ihr außerordentlich gut und sie fühlte sich sehr wohl in diesem Land. Dort sei es einfach herrlich gewesen, schwärmte sie.


Allerdings sei sie oft von ihrer Mutter um Geld gebeten worden, weil der Vater so viele Rechtshändel gehabt habe und dafür viel zu viel Geld verbrauchte. Der Hof, die Existenz, sei immer wieder mal gefährdet gewesen. Schließlich forderte die Mutter meine Oma auf, nach Hause zu kommen und auf dem Hof mitzuhelfen.

Das tat sie, weil sie die Mutter nicht im Stich lassen wollte, und so nahm das Unglück seinen Lauf.


Aus meiner Oma wurde eine ledige Mutter, dann Ehefrau und dreifache Mutter, dann alleinstehende Witwe mit drei kleinen Kindern, dann verdrängte und mittellose Schwägerin, schließlich Postangestellte mit einer städtischen Wohnung und nach dem Krieg bis zu ihrem Tod in den 80er Jahren Fürsorgeempfängerin, die von ihren Kindern unterstützt werden musste.


Ich liebte diese Oma sehr, aber je älter ich wurde, umso wütender blickte ich auf dieses Schicksal. Ich rätselte oft, an welcher Stelle ihres Lebensweges meine Oma die Weichen hätte anders stellen sollen, um ein besseres, selbst bestimmtes Leben führen zu können. Sie hat ihre Niedergeschlagenheit zwar mit Humor überdeckt, aber ich weiß, dass sie unter der Abhängigkeit von ihren Kindern, nicht unter der Armut an sich, sehr gelitten hat.

Und ich schwor mir, dass ich niemals in meinem Leben duldsam sein und mich dem Willen anderer unterwerfen wollte.

Eine kämpferische Oma als Vorbild
Meine Großmutter Käthe väterlicherseits 1953
Meine Großmutter Käthe väterlicherseits 1953

Diesbezüglich war meine Oma väterlicherseits von anderem Schrot und Korn.

Da sie ja nur zwei Haustüren weiter lebte, besuchte ich sie ganz oft, saß am Küchentisch in der gleichen Wohnküche wie zu Hause und bettelte: „Oma, erzähl von früher!“


So erfuhr ich, dass sie in einer kalten Novembernacht 1909 auf einem Bauernhof im Allgäu zur Welt gekommen war. Ihre Mutter, die Tochter des Bauern, verschwand gleich am nächsten Tag nach Augsburg und ließ das Baby bei Vater und Schwester zurück. Der Erzeuger, ein Knecht, sei so unglücklich darüber gewesen, dass meine Urgroßmutter nichts von ihm wissen wollte, Kind hin oder her, dass er sich entschlossen habe, nach Amerika auszuwandern. Dort verlor sich seine Spur. Jedenfalls wurde das so in der Familie erzählt. Denkbar wäre aber auch, dass er weniger aus Liebesleid, als wegen der zu zahlenden Alimente das Weite gesucht hatte. Wer weiß!


Die Erzählungen über den Leidensweg meiner Großmutter begannen, als sie ein kleines Kind war. Weil weder ihre Mutter noch ihr Großvater sie wirklich haben wollte, wurde sie zu einer Pflegefamilie nach Landsberg am Lech gegeben. Der Mann war Gefängniswärter und so lebte sie im Schatten des Gefängnisses*. Das Ehepaar sei sehr gut zu ihr gewesen, aber dann habe sie bei einem Besuch bei Bekannten der Pflegefamilie der Versuchung nicht widerstehen können und ein kleines Püppchen eingesteckt. Sie glaubte nun, angesichts der Gefängnismauern, dass sie hinter diesen Mauern über kurz oder lang eingesperrt werden würde. Das schlechte Gewissen und die Angst führten dazu, dass sie schlimmes Heimweh vortäuschte und schließlich zu ihrer wenig begeisterten Mutter, die inzwischen verheiratet war und weitere zwei Kinder hatte, gebracht wurde. Auch der Stiefvater war nicht begeistert von der Rückkehr des Bankert.

Sie sei dann schon im Grundschulalter auf Bauernhöfe als Magd vermittelt worden, wo sie sehr schlecht behandelt, ja misshandelt worden sei, erzählte sie.


Aber sie habe sich nicht unterkriegen lassen und sei zwar auch nur Dienstmädchen geworden wie ihre Mutter, habe aber ihren Stolz und ihre Würde bewahrt. Niemals hörte ich diese Oma von irgendeiner Herrschaft schwärmen. Das waren bestenfalls nur Arbeitgeber, schlimmstenfalls Ausbeuter, denen man Paroli bieten musste. Sie ließ sich nichts gefallen. Diesen Kampfgeist mochte ich so an ihr.

Meine Oma väterlicherseits (im Bild mit meiner Mutter und meinem Opa) war ein Vorbild an Kampfgeist
Meine Oma väterlicherseits (links im Bild) mit meiner Mutter und meinem Opa. Sie war ein Vorbild an Kampfgeist

Ein Beispiel ist mir in Erinnerung geblieben.

Meine Oma väterlicherseits hatte ein Faible für feine Wäsche. So sparte sie, was sowieso ihrem Naturell entsprach, kaufte sich aber als junge Frau vom mühsam Ersparten Spitzenunterwäsche. Eines Tages, als sie die Stellung wechselte, durchsuchte tatsächlich ihre Arbeitgeberin ihren Koffer und fand die Seiden- und Spitzenunterwäsche. Das hätte sie gestohlen, behauptete die Dame des Hauses aufgebracht, weil so etwas niemals im Besitz eines Dienstmädchens sein könne.

„Tja“, entgegnete meine Großmutter hochmütig, „da können Sie sich im Wäschegeschäft erkundigen, wer sich hier so etwas leisten kann!" Sprach`s und schritt von dannen!


Das gefiel mir. So wollte ich auch werden. Egal, wo ich einmal landen würde, meinen Stolz und meine Würde sollte niemand ungestraft verletzen dürfen. Die „Oberen“ würden mir auch nix anhaben können, denn ich würde keine Überlegenheit dieser Leute anerkennen. Mein Interesse an Politik und meine politische Einstellung rühren aus dieser Zeit, sind aus den Erzählungen meiner Großmutter hervorgegangen.

Ich wollte für soziale Gerechtigkeit und für Würde kämpfen. Autoritäten bekamen bei mir keinen Fuß auf den Boden. Gegen sie hegte und hege ich bis heute tiefes Misstrauen.

Menschen im Wohnblock - Meine Großmütter und ich

Ja, das waren die Lebensweisheiten, die ich mir aus den Erlebnissen und Erfahrungen meiner Großmütter zusammenreimte. Dass die friedliebende Großmutter nicht so sehr für sich eintrat, ja einen resignierten Eindruck machte, aber allseits beliebt war, während die Beliebtheitswerte meiner stolzen und daher streitbaren Großmutter recht niedrig waren, prägte sich mir allerdings auch ein und gab mir ebenfalls zu denken. Das Dilemma habe ich durchaus schon früh gespürt, lange bevor ich das Wort dafür kannte.


Und sogar meine lebenslange Leidenschaft für Literatur verdanke ich meinen Großmüttern, denn eigentlich entstamme ich einer „bildungsfernen“ Familie, ja einem „bildungsfernen“ Milieu, wie man heute sagen würde. Hinzu kamen gewisse Defizite bei meinen Eltern, die damals in Arbeiterfamilien weder erkannt, geschweige denn benannt wurden. Mein Vater war zwar sehr intelligent und beruflich sehr erfolgreich, aber Legastheniker, wie ich heute weiß. Bei meiner sehr praktisch veranlagten und geschickten Mutter würde heute vermutlich ADS diagnostiziert. Bücher lesen, ruhig sein und sich konzentrieren war definitiv nicht ihr Ding.

Aber meine Großmütter lasen für ihr Leben gern. Während meine widerspenstige Oma väterlicherseits Dostojewski und Tolstoi im Bücherregal nicht nur stehen hatte, sondern auch begeistert las, hatte meine Oma mütterlicherseits gar kein Bücherregal. Aber sie holte sich aus der Leihbücherei ganze Stapel von Liebes-, Arzt- und Adelsromanen und verschlang sie mit großer Freude. Beide Großmütter sah man in ihrer spärlichen Freizeit häufig mit einem Buch am Küchentisch sitzen.


Da beide Großmütter, so unterschiedlich sie waren, im selben Wohnblock wohnten, hatten beide großen Einfluss auf mich, vielleicht sogar mehr Einfluss als meine Eltern.


In den Wohnblöcken meiner frühen Kindheit, also in den ersten acht Jahren von 1953 bis 1961, waren Frauen sowieso viel präsenter als die zahlenmäßig eindeutig unterlegenen Männer. Alle Frauen, die nicht zur Arbeit gingen wie meine Mutter, schienen mir schon recht alt zu sein.

Wenn ich allerdings bedenke, dass meine Oma mütterlicherseits bei meiner Geburt 1953 gerade mal 49 Jahre alt war, meine Großmutter väterlicherseits sogar erst 44 Jahre, dann stimmen Erinnerung und Wirklichkeit nicht ganz überein. Diese Großmütter waren nach heutigen Kriterien Frauen mittleren Alters und vermutlich waren das auch die Nachbarinnen, die ich alle für ebenso großmütterlich alt hielt. Sie waren eindeutig noch nicht zu alt, um sich ein Leben nach dem Krieg aufzubauen. (TA)


* Das Gefängnis in Landsberg am Lech ist berühmt, weil dort Adolf Hitler von 1923 bis 1924 inhaftiert war.

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