Menschen im Wohnblock der 50er Jahre: Teil 2
- titanja1504
- 20. Juli 2023
- 16 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Juli 2023
Die Frauen in unserer Straße
(DE) Mir ist, als hätten in den 50er Jahren in den Wohnblöcken meiner Kindheit nur Frauen gelebt. Das ist natürlich eine verzerrte Wahrnehmung, denn allein in unserem Haus wohnten bis auf meine Oma und ihre ebenfalls alleinstehende Nachbarin fünf Ehepaare. Es gab sie also durchaus, die Ehemänner und Väter. Sie waren jedoch im Alltagsleben für mich als Kind nicht präsent.
In meiner gefühlten Erinnerung beherrschten die Frauen, die alle mehr oder weniger im gleichen Alter wie meine Großmütter zu sein schienen, das Bild meiner alltäglichen Umgebung.
Auch die jungen Frauen wie beispielsweise meine Mutter, die 30er Jahrgänge, traf man nicht täglich beim Einkaufen oder an der Kindergartentür.
Wo waren sie, die Männer? Wo waren sie, die ganz jungen Frauen?
Gesamtgesellschaftlich gesehen ist es natürlich kein rein subjektives Bild, dass die Frauen in der Überzahl waren, besonders die Jahrgänge von 1900 bis ca. 1925. Der Krieg hatte dafür gesorgt, dass im Jahr 1955 22,35 Millionen Männern 25,35 Millionen Frauen gegenüberstanden. Dieses Verhältnis spiegelte sich vermutlich auch im Mikrokosmos unseres Wohnblocks wider.
Aber der Krieg ist nur ein Grund für die Dominanz der Frauen im Alltagsleben aus der Sicht eines Kindes.
Laut dem Rollenbild der 50er Jahre gingen die Männer in die Arbeit und verdienten das Geld, während die Frauen zu Hause als Hausfrauen den Haushalt versorgten und die Kinder großzogen.
Das traf auf die Generation meiner Eltern, also die 30er Jahrgänge, nicht mehr so ganz zu. Besonders in der Arbeiterschicht versuchten beide Elternteile Geld zu verdienen, um sich etwas leisten zu können. Die Kinder überantwortete man den Großmüttern, die durch die speziell in Bayern meist von Nonnen geführten Kindergärten teilweise entlastet wurden.

Die jungen Frauen meiner Familie gingen einer Arbeit nach. Meine Mutter arbeitete als gelernte Textilverkäuferin in einem Fachgeschäft, eine Tante war Akkordarbeiterin am Fließband in der Fabrik, obwohl sie viel lieber Schneiderin geworden wäre. Aber es gab nicht genügend Lehrstellen. Meine Patentante arbeitete als Hilfskraft in einer Druckerei. Nur eine der drei Frauen gab ihre Arbeit auf, als sie heiratete und entsprach damit dem zeitgemäßen Rollenbild. Sie war die Ehefrau eines Bankangestellten geworden und in diesen Kreisen war Frauenarbeit nicht üblich. Die anderen beiden hatten Arbeiter geheiratet und fokussierten sich darauf, ein Leben in Wohlstand aufzubauen.

Nebenbei bemerkt, die beiden Arbeiterfamilien konnten sich weit in die 60er Jahre hinein wesentlich mehr leisten, als die Familie des Bankangestellten. Gesellschaftliche Stellung und Rollenbilder waren vielen dieser Generation in diesem Milieu egal. Die neuen Maßstäbe waren konsumorientiert.
Die Abwesenheit der Männer und überhaupt der berufstätigen Bevölkerung erklärt sich aber auch aus den damals üblichen Arbeitszeiten. Anfang der 50er Jahre arbeitete man 48, ja sogar 49 Stunden pro Woche. Zusätzliche Überstunden waren an der Tagesordnung. Das hieß mindestens 8 Stunden pro Tag an 6 Tagen in der Woche. Da blieb nur der Sonntag für Familie und Erholung.
Frauen der Kriegsgeneration erinnern sich
Vor diesem Hintergrund ist es daher nicht verwunderlich, dass hauptsächlich die 40- bis Mitte 50-jährigen Frauen den Bekanntenkreis meiner Großmütter ausmachten. Das war ihre Generation, mit der sie kollektive Erfahrungen teilten.
Sie hatten gemeinsame Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit, in der sie junge Ehefrauen und Mütter gewesen waren und ihre Familien durch diese schwierigen Zeiten gebracht hatten. Ein Teil von ihnen war nun Kriegswitwe mit fast erwachsenen Kindern, wie beispielsweise Omas Freundin aus dem Nachbarhaus, die von mir Tante Fest genannt wurde. Andere pflegten ihre kriegsversehrten Männer, wie es meine Großmutter väterlicherseits tat. Einige bauten sich mit ihren heimgekehrten Ehemännern ein neues Leben auf, sofern sie nicht ihre Enkelkinder hüten mussten, wie das meiner Großmutter mütterlicherseits als Aufgabe zufiel.
Wenn diese Frauen, je nach Vertrautheit, entweder in der Küche beieinander saßen oder auf der Straße beieinander standen, kamen sie oft ins Erzählen über „die schwere Zeit“ und wenn ich zuhören konnte, breitete sich eine weite Erinnerungslandschaft vor mir aus.
Erzählungen von übersinnlichen Erlebnissen
Besonders unheimlich waren die sonderbaren übersinnlichen Erfahrungen während des Krieges.
Da wachte eine Frau mitten in der Nacht auf, denn das Bild ihres Mannes, der an der Front kämpfte, war ohne ersichtlichen Grund von der Wand gefallen. Ein Zeichen!? Eine Botschaft des Todes!?
Die gleiche Frage stellte sich auch diejenige, die mitten am Tag beim Abspülen plötzlich die Stimme ihres Mannes hörte. Ganz nah! Mehr ein Schrei als ein Wort!
Und tatsächlich! Kurze Zeit später traf die Nachricht ein: Gefallen an der Front. Das Todesdatum war vermerkt und es stimmte mit dem Datum des mysteriösen Erlebnisses überein.
Diejenigen Frauen, deren Männer vermisst wurden, suchten nach Zeichen, die ihnen sagten, ob sie noch lebten oder nicht.
Diese Geschichten waren überwiegend Hörensagen, aber die Frauen hatten mit diesem Glauben an übersinnliche Verbindungen zu ihren Männern wohl während des Krieges Angst und Hilflosigkeit in Schach gehalten. Man fühlte sich wahrscheinlich weniger ausgeliefert, wenn man daran glaubte, Unheil spüren oder erahnen zu können. Das bedeutete, ein klein wenig die Kontrolle zu behalten.
Diese Strategie wollten die Frauen nun nicht mehr loslassen, denn die Zeiten waren im Wandel und die Erinnerung an Verlust, Gefahr und Verderben war noch sehr präsent. Meine Großmutter väterlicherseits hatte sich beispielsweise aufs Kartenlegen fokussiert und versuchte so, einen Einblick in das Schicksal zu erlangen.
Allerdings wurde in diesem Zusammenhang auch oft die ganz und gar nicht übersinnliche und sehr traurige Heimkehrergeschichte eines Nachbarn erzählt, die alle unmittelbar nach dem Krieg miterlebt hatten.
Die Ehefrau dieses Nachbarn, der vermisst wurde, sei eine sehr schöne Frau gewesen und daher habe sich ein ebenso schöner russischer Soldat, wahrscheinlich ein Kommissar oder Major, nach Kriegsende in sie verliebt. Die beiden seien ein Paar geworden. Aber eines Nachts sei der vermisste Ehemann aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und habe erkennen müssen, dass er zu Hause nicht mehr willkommen war. Seinen Platz hatte ein russischer Militärangehöriger eingenommen. Er habe die ganze Nacht im Hinterhof bitterlich geweint und sei dann für immer verschwunden.
Schrecken der Nachkriegszeit
Überhaupt schien die unmittelbare Nachkriegszeit noch großes Leid mit sich gebracht zu haben. In der Typhusepidemie, verursacht durch verunreinigtes Wasser aufgrund der zerbombten Wasserversorgung, starben viele Menschen, geschwächt durch Mangelernährung und Hunger am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Während die ganze Familie meines Vaters, bis auf ihn selbst, dem Tode nah war, wütete die Typhusepidemie in der Familie meiner Mutter kaum, obwohl sie ja im selben Block wohnten. Warum? Die Familie meiner Mutter wurde von der Verwandtschaft auf dem Land mit ausreichend gesunden und frischen Lebensmitteln versorgt. Die Familie meines Vaters hatte solche Beziehungen nicht und daher starb die kleine sechsjährige Schwester an Typhus, während die Mutter mehr oder weniger im Koma lag und die letzte Ölung erhielt. Als sie sich wieder erholte, war ihre kleine Tochter tot und beerdigt. Ein Schock, den sie nie überwunden hat. Und ein Leid, das in dieser Zeit wohl viele mit ihr teilten.
Aber das Leben hielt noch eine Herausforderung für die Bewohner der Wohnblöcke bereit.
1945 war der Krieg zu Ende, die Bombennächte und -tage waren endlich vorbei und die Häuser standen immer noch. Was für ein Segen!
Und dann entschied die amerikanische Besatzungsmacht, dass die Bewohner ihre Wohnungen binnen 24 Stunden zu verlassen hätten. Eine weitere Erklärung oder gar Begründung gab es wohl nicht.


Erklärung zum Dokument Wohnungszuweisung: Aus diesem Schreiben geht hervor, dass meine Großmutter mütterlicherseits erst 1949 die offizielle Wohnungszuweisung für dieses Zimmer mit Küche erhielt. Aber sie war bereits 1945, nachdem sie ihre Wohnung im Wohnblock hatte räumen müssen, dort untergekommen. Ab 1949 konnten die Bewohner wieder zurück in ihre Wohnungen ziehen. Die bürokratischen Mühlen der Nachkriegszeit hatten dem Chaos nichts entgegenzusetzen.
Während in der zu den Messerschmidt-Werken gehörenden Hermann-Göring-Siedlung, die spätere Ganghofer Siedlung, systematisch ukrainische displaced persons die als Nazianhänger verdächtigen Messerschmidt-Angestellten ersetzten, konnten die Blöcke, in der meine Familien lebten, dem Nationalsozialismus nicht so eindeutig zugeordnet werden.

Vermutlich brauchte man einfach Unterkünfte für die befreiten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, bis diese in ihre Heimatländer zurück kehren konnten oder mussten. Funktionsfähige Wohnblöcke waren für eine menschenwürdige Unterbringung besser geeignet als die Barackenlager der Nazis.
Für die überraschten deutschen Bewohner hieß dieses Vorgehen aber nun, auf die Schnelle irgendwo in der zerbombten Stadt unterzukommen, bei Verwandten oder Freunden oder Bekannten, die noch ein wenig Platz freimachen konnten.
Immerhin bestand die Familie meiner Mutter aus einer Mutter mit drei halbwüchsigen Kindern und die Familie meines Vaters aus einem kranken Mann, einer geschwächten Mutter und zwei halbwüchsigen Kindern. Da genügte es nicht, die Schlafcouch auszuklappen!
Aber ein bisserl was geht immer, und so fanden beide Familien einen Unterschlupf, bis sie ab 1949 wieder in ihre Wohnungen im Block zurückkehren durften.
Das sei vielleicht ein Fiasko gewesen, beteuerten die Frauen in ihren Erzählungen von der Rückkehr.
Die einquartierten Russen und Polen hätten alles demoliert und wie die Vandalen gehaust, ja in den Schüsseln der Wasserklosetts Kartoffeln gewaschen, weil ihnen so etwas unbekannt gewesen sei.
Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der rassistischen Nazi-Propaganda vom russischen bzw. slawischen Untermenschen, die nach dem Krieg immer noch in den Köpfen der Deutschen herumspukte.
Ein sanfter Pole besiegt die Vorurteile
Vorurteile über Russen und Polen überlebten die Nazi-Zeit und konnten nur langsam und schwerlich geändert werden.

Eine kleine Geschichte dazu ist die Liebesgeschichte zwischen der älteren Schwester meines Vaters namens Inge und ihrem polnischen Mann Walter. Walter war Kriegsgefangener in einem Lager in Regensburg gewesen und begegnete unmittelbar nach dem Krieg auf der Straße der jungen, selbstbewussten deutschen Inge. Die beiden verliebten sich. Die Verwandtschaft stand Kopf. Und sogar meine Großmutter, die ja wahrlich kein Nazi war, hieß diese Verbindung nicht gut.
Ein Pole! Das ging ja gar nicht! Es wurde gegeifert und gehetzt, bis mein Großvater seine Tochter mit Gewalt davon abbringen wollte, diese Beziehung weiterzuführen. Half aber nix! Sie war ein Trotzkopf, immer schon gewesen. Da bat Walter um ein Gespräch mit dem Vater seiner Inge, so erzählte es mein Großvater ziemlich oft unter Tränen. Dieser junge sanfte Pole habe gefragt, warum er und Inge sich nicht lieben dürften und er sei ein guter Mann, der die Familie ehre.
Und wie die Menschen so sind, wenn sie diskriminierte Menschen persönlich kennenlernen und gute Erfahrungen machen, sie werfen speziell für diesen einen Menschen ihre Vorurteile über Bord. Von nun an war Walter hoch geschätzt, wurde liebevoll umsorgt und für meinen Vater war er ein väterliches Vorbild und selbstverständlich waren alle mit der Heirat sehr einverstanden.
Wen wundert es, dass Walter gern mit seiner Inge in Regensburg geblieben wäre. Aber meine kluge Tante ließ sich nicht täuschen.

Ein polnischer Arbeiter habe in Deutschland niemals eine Chance, so schätzte sie die Lage ein, und daher bestand sie darauf, nach Australien auszuwandern. Sie war bereits schwanger, als sich die beiden 1949 über Neapel auf den Weg machten. Allerdings musste sie ihren Zustand verheimlichen, weil Schwangeren die Überfahrt verweigert wurde.
Es ist alles gut gegangen und ich habe diese Geschichte immer sehr geliebt.
Düstere Bilder aus der Nazizeit
Natürlich streiften die Frauen in ihren Erinnerungen auch die düsteren Bilder aus der Nazi- und Kriegszeit.
Über gewisse Ereignisse wurde allerdings nur in Andeutungen gesprochen und wenn ich nachfragte, wechselten die Erwachsenen das Thema. Da war dann die Rede von nächtlichen Prozessionen ausgemergelter Gestalten, die durch die Straßen in Richtung südlichen Stadtrand getrieben wurden. „Das konnte jeder sehen, der wollte!“, warf meine Großmutter väterlicherseits dann ein.
Manchmal wurde davon erzählt, dass jemand von der Gestapo abgeholt wurde, weil er am Stammtisch vor dem 01. September 1939 davon gesprochen hatte, dass es bald Krieg geben werde. Man vermutete, dass er nach Dachau gebracht worden sei.
Es war von abgemagerten Polen die Rede, die als Kriegsgefangene nach den Bombenangriffen Aufräumarbeiten machen mussten und denen man manchmal Essen zustecken konnte.
Ein anderes Mal wurde von einem Domprediger Maier erzählt, den sie aufgehängt hätten, noch ganz zum Schluss.
Wer das war und wer „sie“ waren, habe ich dann erst später erfahren.
Wenn von Lagern, Kriegsgefangenen, Altnazis, dem fanatischen Blockwart an der Ecke, Gestapo und SS gesprochen wurde, dann meist nur andeutungsweise. Diese Themen wurden, wenn überhaupt, nur innerhalb der Familie angesprochen und erörtert. Noch saß die Angst vor Denunziation tief im Bewusstsein der Menschen und das nicht ganz zu Unrecht. In den 50er Jahren, nach der halbherzigen Entnazifizierung und zu Beginn des Kalten Krieges, wurden in Behörden und in der Politik ehemalige NSDAP-Mitglieder und Amtsträger des Dritten Reiches durchaus wieder in Amt und Würden eingesetzt. Die alten Seilschaften trugen wieder.
Dass beispielsweise meine Großmutter väterlicherseits bei der Gestapo vorsprechen musste, weil sie ein Nachbar hingehängt hatte, war eine übliche Erzählung nur im Familienkreis. Sie habe sich abschätzig über die NSDAP und Adolf Hitler geäußert, warf man ihr bei dem Gespräch vor. Aber einschüchtern war nicht, nicht bei meiner Großmutter! Sie lasse sich den Mund nicht verbieten, machte sie dem Gestapo-Mann klar: „Dann schickt mich halt ins KZ und meine Kinder auch! Dort werden wir schon auch was zu fressen kriegen!“
„Was für eine Naivität! Was für ein Leichtsinn!“, stöhnte noch in den 50er Jahren die ganze Familie. Aber sie saß grinsend dabei, obwohl sie inzwischen wusste, dass ein KZ-Aufenthalt eine tödliche Bedrohung gewesen wäre.
Im Nachhinein wird darüber gelacht
Spannend und lustig waren seltsamerweise die Geschichten aus den letzten Kriegstagen, an denen die Frauen mit ihren Kindern entweder im Luftschutzkeller saßen oder Essen organisieren mussten.
Bei jedem Kaffeeklatsch wurde davon erzählt, dass meine Oma mütterlicherseits, nachdem sie mit den anderen Frauen und Kindern des Viertels und ihren eigenen drei Kindern zwei Tage im Luftschutzkeller in Karthaus (Gebäude einer psychiatrischen Klinik, damals Heil- und Pflegeanstalt genannt) verbracht hatte, durchdrehte und Ruß verschmiert gegen alle Widerstände aus dem Keller ausbrach und sich mit ihren Kindern auf den Heimweg machte. Ihr war alles egal: „Scheiß auf die Nazis, den Blockwart, die Bomben und überhaupt auf alles! Ich geh jetzt heim!“
Die Frauen am Küchentisch lachten Tränen, wenn sie sich daran erinnerten.
Und auch meine andere Oma väterlicherseits konnte gar nicht weitererzählen vor lachen, wenn sie von ihrem nächtlichen Holz-Raubzug bei Kriegsende erzählte.
Es gab nichts, so fing die Geschichte immer an. Um wenigstens ein wenig einheizen und damit auch kochen zu können, brauchte man aber Holz. Bei den zerbombten Häusern in der Umgebung gab es durchaus brauchbare Balken. Aber diese zu nehmen, war strengstens verboten. Das war plündern und wurde hart bestraft!
In ihrer Verzweiflung tat sie sich mit einer Freundin zusammen, stahl des Nachts trotzdem so einen Balken und schleppte ihn mit ihr gemeinsam zum Hauseingang. Die Frage war, wie kriegte man das Diebesgut in den Keller, ohne dass Nachbarn, die einen denunzieren könnten, das mitbekamen. Der Weg durch den Hausflur war eindeutig zu riskant. Aber durch das Kellerfenster konnte man das sperrige Teil vielleicht schieben. Also legte man den Balken an der Hausmauer ab, schlich in den Keller, öffnete das Fenster und räumte ganz leise Platz frei für das wertvolle Stück. Alles war gut gegangen. Kein Nachbar war aufgewacht und hatte nachgeschaut, was los sei. Leise, ganz leise stiegen die Beiden wieder hoch und griffen nach dem Balken. Da war aber nichts mehr! Der geklaute Balken war geklaut worden. Genauso leise und heimlich wie sie ihn selbst geklaut hatten!
Es geht aufwärts!
Diese Frauen und ihre Kinder waren während des Krieges im Wohnblock eine Art Schicksalsgemeinschaft gewesen, schlugen sich dann in der Nachkriegszeit von 1945 bis 1949 in ihren behelfsmäßigen Unterkünften durch und viele von ihnen kehrten in den Wohnblock zurück, als Kriegswitwen oder mit ihren nun vollständigen Familien oder als alleinerziehende Fürsorgeempfängerinnen.
Es kamen aber auch neue Bewohner hinzu. Bevor ab Mitte der 50er Jahre in einer Art Nachverdichtung die Blöcke für die Familien der Vertriebenen und Geflüchteten aus den Ostgebieten gebaut wurden, quetschten sich einige dieser Familien ebenfalls in die kleinen Wohnungen in unserer Straße. Sie schätzten sich trotz der Enge glücklich, den Zuschlag für eine kleine Mietwohnung erhalten zu haben.
Die Vertriebenen und Flüchtlinge standen damals nicht hoch im Ansehen bei ihren Nachbarn im Wohnblock. „Die haben alle ein „Rittergitl“ gehabt“, äffte man sie abschätzig nach, „und jetzt bekommen die viel mehr Unterstützung als wir! Wir haben schließlich auch viel verloren!“, hörte ich die Nachbarn manchmal lästern. Misstrauisch beäugte man die „fremden Deutschen“, blieb auf Distanz, blieb vordergründig höflich und freundlich und vergaß dann aber im Laufe des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders Neid und Missgunst.
Tatsächlich wurden 1955 im Hofbereich der gegenüberliegenden Blöcke „Volkswohnungen für Flüchtlinge“ von der Stadtbau GmbH gebaut, was durchaus für Stirnrunzeln bei den Alteingesessenen sorgte, denn nicht nur Flüchtlinge waren in dieser Zeit auf Wohnungssuche.
Zu Beginn der 50er Jahre war die Wohnungsnot in Regensburg noch groß, allerdings konnten immer mehr der jungen Paare in eigene kleine Wohnungen irgendwo in der Stadt ziehen. Es wurde renoviert und gebaut, was das Zeug hielt. Meine Eltern beispielsweise konnten nach ihrer Heirat 1955 eine kleine 2-Zimmer-Wohnung in Bahnhofsnähe mieten. Sie bekamen den Zuschlag, weil mein Vater als Elektriker und handwerklich begabter Mensch die Renovierung übernehmen konnte. Solche „Deals“ machten, wenn irgend möglich, wahrscheinlich auch andere junge Paare.
Mein Onkel jedoch, der Schreiner war, zeigte offensichtlich weniger Verhandlungsgeschick und musste daher noch ca. zwei Jahre mit Frau und Sohn in Omas Schlafzimmer wohnen.
Die Konsumgesellschaft entwickelt sich und mit ihr soziale Unterschiede
Ganz langsam ging ein Kind nach dem anderen im Laufe der 50er Jahre aus dem Haus oder besser gesagt aus der Wohnung. Die Eltern oder auch nur die Mütter blieben zurück. Sie hatten nun ihre Wohnung für sich. Und nicht nur das! Nicht mehr das schiere Überleben stand nun im Mittelpunkt aller Bestrebungen, sondern das Sich-etwas-gönnen!
Die Löhne waren noch sehr niedrig, aber besonders die jungen Leute nutzten jede Gelegenheit etwas dazuzuverdienen und sei es durch Schwarzarbeit. Die Älteren und die Nicht-Handwerker, die diese Option nicht hatten, sparten eben gezielt auf neue Anschaffungen.
Manche Frauen besserten das Gehalt der Männer auf, indem sie putzen gingen oder für kleinen Lohn schneiderten, bügelten oder als ungelernte Arbeiterinnen in den Fabriken und anderen Betrieben arbeiteten. Damals wurden solche Kräfte ja noch gebraucht. Das Problem war nicht nur der Arbeitsmarkt. Es gab noch eine andere Hürde für Frauen.
Unverheiratete Frauen konnten sich entschließen, Geld zu verdienen, aber Ehefrauen mussten in den 50er Jahren die Erlaubnis des Ehemannes vorlegen. Ein Konto brauchte man damals noch nicht, denn es gab noch eine Weile Lohntüten. Wenn aber eine Ehefrau ein eigenes Konto hätte haben wollen, dann hätte sie dafür ebenfalls die Unterschrift ihres Ehemannes gebraucht.
Aber diese aus unserer heutigen Sicht himmelschreiende Unterdrückung der Frau, war bei den Nachbarinnen in unserem Wohnblock kein Thema. Im Gegenteil!
Was die Frau XY, die im Wohnblock mit ihrem Mann lebte und oft am Fenster lehnte, damit meinte, dass sie ihn heute wieder ranlassen müsse, weil sie sich ein paar neue Schuhe gegönnt hatte, habe ich als Kind nicht verstanden. Allerdings lachten die umstehenden Nachbarinnen zwar verhalten, aber durchaus verständnisvoll, gemeinsam mit ihr über diesen Sachverhalt.
Die Teilhabe am beginnenden Wirtschaftswunder, das hauptsächlich mit Konsum verbunden wird, war für die einen mehr und für die anderen weniger möglich.
Hie und da ein neues Möbelstück! Ein neues Radio oder später sogar ein Fernsehapparat! Ein Rad, ein Motor-Roller und schließlich das erste Auto! Eine Isetta vielleicht oder ein VW-Käfer oder gar ein Karmann-Ghia? Das waren die Ziele hauptsächlich der jungen Generation, die dafür schufteten und daher oftmals die Erziehung ihrer Kinder anderen überließen.
Langsam wurden in den 50er Jahren die sozialen Unterschiede sichtbar. Meine Großmutter mütterlicherseits, die als Fürsorgeempfängerin abhängig von ihren Kindern war, deren Kinder sie betreute und die daher kein Geld dazuverdienen konnte, blieb auf der Stufe der bloßen Existenzsicherung stehen. Die Renten von Kriegswitwen und Kriegsversehrten ermöglichten schon eher neue Anschaffungen.
Man sah das u. a. an der Kleidung. Gemäß der Mode der 50er Jahre gingen Damen, die es sich leisten konnten, in fein abgestimmter Bekleidung ab und zu ins Café oder wenigstens zum Bummeln in die Stadt. Selbst im Sommer gehörte ein leichter Mantel zur damenhaften Ausstattung. Dazu ein Hütchen und ein Täschchen, das wiederum zu den Schuhen passte. Und, ganz wichtig, man trug winters wie sommers Handschuhe, wenn man Wert auf Eleganz legte. Eine Dame, die etwas auf sich hielt wie beispielsweise meine Großmutter väterlicherseits und die Nachbarin „Tante Fest“ oder meine Mutter, hatte mehrere Paar Handschuhe im Schrank.
Die Mehrheit der Wohnblock-Bewohnerinnen in dieser Zeit präsentierte sich bei sonntäglichen Spaziergängen modebewusst damenhaft, als würde man keine Kleiderschürze am Haken in der Küche hängen haben, die man zu Hause ausschließlich trägt, um die guten Stücke im Kleiderschrank zu schonen.
Bei meiner nicht gerade betuchten Oma mütterlicherseits war der Unterschied zwischen Sonntags- und Werktagskleidung nicht so groß. Sie hatte einen einzigen Hut und ansonsten jede Menge wesentlich billigere Kopftücher, die sie aufsetzte, wenn sie einkaufen oder, was selten der Fall war, in die Kirche oder, was häufiger der Fall war, ins Kino ging. So ein quadratisches Kopftuch wurde zu einem Dreieck zusammengefaltet, über die Haare gelegt und unter dem Kinn zusammengebunden. Wenn sie zum Einkaufen aus dem Haus ging, trug sie meist, je nach Jahreszeit, einen leichten oder einen warmen Mantel über der Kleiderschürze. Am Sonntag hatte sie dann durchaus ein Kleid oder Rock und Bluse unter dem Mantel an. So war man immer schicklich und nicht nachlässig gekleidet. Jedenfalls sah das meine Oma mütterlicherseits so.
Ich habe nie erlebt, dass sie neidisch auf die besser gestellten und gekleideten Nachbarinnen gewesen wäre. Ich glaube, arm zu sein, war ihr egal. Nur dass sie auf Unterstützung durch ihre Kinder angewiesen war, das machte ihr zu schaffen.
Aber sie habe auch während des Krieges einen großen Fehler gemacht, erzählte man sich resigniert in der Familie, jedoch nur, wenn Oma nicht anwesend war.
Meine Oma hat ja nie davon gesprochen, aber sie hätte während des Krieges eine Chance gehabt, zur Kriegswitwe zu werden und somit versorgt zu sein, wurde geraunt. Ein junger Mann verehrte sie sehr und bat sie um ihre Hand. Aber sie wollte ihm Bedenkzeit einräumen, da sie ja drei Kinder mit in die Ehe bringen würde. Beim nächsten Heimaturlaub, wenn er immer noch wollte, würde sie ja sagen. Aber anstatt auf Heimaturlaub zurück zu kommen und meine Oma zu heiraten, fiel er an der Front. Die Chance auf Glück oder wenigstens auf eine Rente war vertan, so sahen das jedenfalls die Familienmitglieder.
Es klingt ein bisschen zynisch, aber ich vermute, dass man sich in dieser extremen Zeit des Wiederaufbaus und der starken Konsumorientierung etwas weniger Sinn für Romantik und Sentimentalität leistete.
Meine Oma war dennoch gesellig und wurde wegen ihres Humors von den Nachbarinnen gemocht. Aber enge Freundschaften gab es in der Nachbarschaft eher nicht. Man wollte sich nicht in die familiären Karten schauen lassen. Die damals übliche Einstellung, den Schein zu wahren, Probleme für sich zu behalten und keinen Anlass für Gerede und Gerüchte zu liefern, war in den 50er Jahren auch in unserem Milieu noch tief verwurzelt.
An sozialen Kontakten herrschte nie Mangel
Was die Frauen in unserem Wohnblock auf jeden Fall gern und ausgiebig pflegten, waren die sozialen Kontakte. Das hatte mit Freundschaft nichts zu tun, sondern gehörte einfach zu einer normalen Nachbarschaftspflege in einem Wohnblock.
Man unterhielt sich einfach bei jeder Gelegenheit miteinander und hatte seinen Spaß. Heute würde man sagen, jeder holte sich eine gesunde Dosis an sozialen Kontakten.
Gegenseitige Besuche in den Wohnungen waren außer Familienmitgliedern nur wenigen engeren Bekannten vorbehalten. So kam die direkte Nachbarin meiner Großmutter mütterlicherseits schnell mal rüber. Auch die von mir „Tante Fest“ genannte Bewohnerin im Nachbarhaus schaute manchmal auf einen Sprung vorbei und saß dann doch etwas länger bei uns in der Küche. Meist entwickelte sich so ein Besuch spontan. Oma schaute aus dem Fenster, als „Tante Fest“ vom Stadtbummel elegant gekleidet heimkam. „Ich komm gleich kurz vorbei. Muss bloß meine Strümpfe (gemeint war der unbequeme Straps!) ausziehen. Das ist bequemer!“, kündigte sie an. Auch in der kalten Jahreszeit trat sie kurz darauf barfuß in ihren Hausschuhen aus ihrer Haustür, lief die Straße entlang und schon stand sie vor unserer Tür. Später erhielten wir dann Einladungen zum Fernsehen bei ihr.
Aber außer diesen Besuchen gab es reichlich Gelegenheiten für ein Schwätzchen oder auch längere Unterhaltungen. Die Frauen mussten ja notgedrungen ständig aus der Wohnung, um etwas zu erledigen.
Da es noch kaum Kühlschränke gab, ging man jeden Tag zum Einkaufen. An Supermärkte im heutigen Stil war noch nicht zu denken. Es gab Fachgeschäfte. Einen Metzger, einen Bäcker, einen Milchladen und ein winziges Gemischtwarengeschäft. Kartoffeln wurden, genau wie Kohlen, im großen Stil bestellt und im Keller eingelagert. Im Sommer lief man mehrmals am Tag in den kühlen Keller, wo Butter, Milch, Eier eingelegtes Obst und selbstgekochte Marmelade neben Kartoffeln und Kohlen und Eingemachtem aufbewahrt wurden.
Jede Woche musste eine andere Mietpartei am Samstag die Treppe putzen. Und das dauerte eine ganze Weile, weil ja mit jedem, der vorbeikam, ein paar Worte geredet werden mussten. Das wäre ja sonst unhöflich gewesen und zwar von jeder Seite. Man begegnete sich im Hausflur, im Keller, auf dem Wäschespeicher oder auf der Straße und man kam ins Gespräch.
Es gab aber auch gezielte Kommunikationsstrategien.
Nicht nur meine Oma mütterlicherseits stand im Sommer bei schönem Wetter auf ein Kissen gestützt am weit geöffneten Fenster, um ein bisschen die Leute auf der Straße zu beobachten. Aber natürlich blieb es nicht beim Schauen. Ein Gruß, eine Bemerkung, eine Frage nach dem Befinden… und ab ging die Post! Da verging die Zeit wie im Flug und nach einer oder zwei Stunden wurde das Fenster zufrieden ob der netten Gespräche wieder geschlossen.
Vereinsamt in seiner Wohnung im Wohnblock zugrunde zu gehen, war damals kaum möglich.
Es wäre einfach aufgefallen, wenn man einer Nachbarin nicht immer wieder über den Weg gelaufen wäre.
Ich wohne heute, im Jahr 2023, seit 16 Jahren in einem dreistöckigen Mietshaus aus den 30er Jahren in München und sehe meine Nachbarn fast nie. Drei von acht Parteien kenne ich nicht persönlich und die Bewohner der Nachbarhäuser sind überwiegend Fremde, mit denen ich noch nie ein Wort gewechselt habe. Familien mit Kindern treffen sich auf dem Spielplatz im Hof, aber nicht alle erwidern meinen Gruß, wenn ich vorbeigehe.
Ich weiß, es gibt auch andere Hausgemeinschaften, in denen sich die Bewohner bewusst und proaktiv um die „Gemeinschaft“ bemühen. Aber selbstverständlich ist das nicht.
In unserem Wohnblock in den 50er Jahren, wäre so ein bewusster Akt der Nachbarschaftspflege aber nicht nötig gewesen. Gnadenlos und ganz selbstverständlich wurde jede und jeder angesprochen, alles andere galt als unhöflich bzw. unfreundlich oder sogar als arrogant und eingebildet. (TA)
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