Menschen im Wohnblock der 50er Jahre: Teil 3
- titanja1504
- 20. Juli 2023
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Sept.
Kinder in unserer Straße
(DE) „Darf ich runter? Biiiitte!!!“, war meine tägliches Flehen an meine Oma. Das bedeutete, dass ich zum Spielen auf die Straße und in den Hof gehen wollte, wo bereits ein Dutzend Nachbarskinder ihr Unwesen trieben. Da wir im zweiten Stock wohnten und in den 50er Jahren niemand auf die Idee gekommen wäre, sich zum Zwecke der Aufsicht neben die spielenden Kinder zu setzen, begleiteten natürlich Ermahnungen die Erlaubnis. Ich durfte mich ausschließlich auf dem Bürgersteig vor unserem Block oder im Hof auf der Rückseite aufhalten. So konnte meine Oma von oben immer wieder einen Blick auf mich, ja auf die ganze Kinderschar werfen, wie das im Grunde die ganze Nachbarschaft tat.
Die Anordnung der sechs Wohnblöcke sorgte für best mögliche Übersichtlichkeit. Je drei Blöcke waren in U-Form um einen Hof angeordnet, der auf einer Seite offen war. Das andere Ensemble war spiegelbildlich gebaut, sodass die zwei Höfe von je ca. 30 x 50 Meter einander gegenüber lagen, lediglich durch einen Gehweg voneinander getrennt.
Diese Höfe waren keine Spielplätze und auch keine gartenähnlichen Grünanlagen, wie man sie heute gestalten würde. Sie dienten im Sommer zum Trocknen der Wäsche. Die Mülltonnen standen da. Ab und zu stellten Bewohner einen Stuhl ins Gras, um ein wenig draußen zu sein, denn Balkone gab es nicht. Der Hof war hauptsächlich eine Nutzfläche, auf die man vom Haus aus durch eine Hintertür im Keller gelangte. Man reparierte sein Rad im Hof oder bearbeitete irgendwelche Möbelstücke, weil das in der kleinen Wohnung kaum möglich war, klopfte Teppiche in Ermangelung eines Staubsaugers, hackte und stapelte Holz für den Ofen in der Küche und ratschte nebenbei mit den Bewohnern der Nachbarhäuser, die gerade vorbei kamen.
Für uns Kinder war der Hof ein Platz zum Spielen, wo wir lediglich geduldet wurden, mal mehr und mal weniger wohlwollend. Aber auch auf dem gepflasterten Bürgersteig vor dem Haus hatten wir Rücksicht auf Passanten und Bewohner zu nehmen. Selbstverständlich wurden wir ständig ermahnt, nicht so laut zu sein, egal wo wir herumtobten.
Und wir wurden immer wieder daran erinnert, ja mit keinem Fremden mitzugehen, selbst wenn derjenige noch so leckere Süßigkeiten verschenken oder einen gar zu sich einladen wollte, um beispielsweise junge Kätzchen anzusehen.
„Was musst du tun, wenn dich so jemand anspricht?“, lautete die Kontrollfrage. „Nichts annehmen! Nicht mitgehen! Weglaufen! Oma oder anderen bekannten Erwachsenen Bescheid sagen!“, war die richtige Antwort.
Mach dich nicht schmutzig!
Wenn dann alles soweit geklärt war, hatten wir freie Bahn für unsere Spiele. In Zeiten, in denen gerade viele Kinder auf der Straße und im Hof unterwegs waren, was meist an den Abenden in der wärmeren Jahreszeit der Fall war, spielten wir „Verstecksdi“ (Versteck dich!) oder „Fangsdi“ (Fangen) oder „Ochs-am-Berg-schau-um!“ oder „Indianer und Cowboy“ oder ähnliche Rollenspiele.
Und manchmal kam auch ein Ball zum Einsatz, mit dem aber abends nicht mehr Fußball gespielt werden sollte, sondern höchstens „Tratzball“. Dabei warfen sich zwei Spieler über eine gewisse Distanz einen Ball zu und in der Mitte versuchten ein oder zwei Spieler den Ball abzufangen. Wenn einem das gelang, löste man einen der Werfer ab.
Diese Regel für das Ballspielen nach dem Abendessen und vor dem Zubettgehen hatte einen ganz praktischen Grund.
Wenn Schul- und Kindergartenkinder zu dieser Tageszeit noch miteinander auf der Straße spielen durften, wurden sie eindringlich ermahnt, sich nicht mehr schmutzig zu machen und beim Fußballspielen war die Gefahr, im Dreck zu landen, viel zu groß.
Vor dem Abendessen waren nämlich schon Hände und Gesicht und, falls nötig, auch die Füße gründlich gewaschen worden. Diese Prozedur lief in der Küche ab, bei der Wasser erst warm gemacht werden musste, bevor man die Spuren des Tages mit Waschlappen und Bürste abschrubben konnte. Ein Bad hatten wir ja alle nicht. So einen Aufwand wollte sich keine Mutter und keine Oma ein zweites Mal am Abend antun.
Ansonsten kann ich mich nicht an großartige Reglementierungen unserer Spiele erinnern. In den 50er Jahren war sicherlich nicht nur in unserem Milieu das Spielen der Kinder keine pädagogische Fördermaßnahme, die durch Erwachsene und pädagogisch wertvolles Spielzeug gesteuert worden wäre. Im Gegenteil, die spielenden Kinder sollten möglichst wenig stören, dann war alles in Ordnung.
Und, ehrlich gesagt, wir brauchten auch keine Anregungen. Uns fiel immer etwas ein.
Phantasie statt Fertigspielzeug
An schönen Nachmittagen im Sommer schleppten wir jede Menge Decken in den Hof und erklärten sie zu Wohnungen, Inseln, Schiffen und dergleichen mehr.
Wir spielten darauf mit unseren Puppen „Vater-Mutter-Kind“, wobei wir die Jungs natürlich nicht dazu brachten, die Vaterrolle in unserem Spiel zu übernehmen. Meist übernahm ein Mädchen den männlichen Part und weil Väter ja sowieso nie zu Hause sind, hatten die Vater-Mädchen nicht wirklich viel zu tun. Ein Teil der spielenden Kinder langweilte sich also immer und suchte Ablenkung.
Heute, da es ja fertige Spielhäuser auf Spielplätzen gibt und jeder für ein paar Euro ein kleines Zelt kaufen kann, kann sich niemand mehr vorstellen, was für ein inspirierender Gedanke es war, aus diesen Decken mit Hilfe von Leinen und Wäscheklammern überdachte Behausungen selbst zu bauen. In diese zeltartigen Unterkünfte zogen dann durchaus Jungs mit ein. Und wie das Leben nun mal so spielt, wurde eines der Puppenkinder krank und der männliche Doktor musste kommen. Und so begann das Doktorspielen, bis schließlich einer meinte, wir sollten uns im Schutz des Decken-Zeltes alle gegenseitig den nackigen Po zeigen. Haben wir dann auch gemacht. Mulmig war uns schon dabei, aufregend war’s allerdings auch. Und eigentlich sollte das ein Geheimnis sein. Aber meine Mutter hat mit ihrer Spürnase natürlich das Geheimnis aus mir heraus geholt. Seltsamerweise erfolgte jedoch keine Reaktion. Nur ein wissendes Kopfnicken. Rätselhaft! Besonders da sie ja einigen Aufwand betrieben hatte, um zu erfahren, was wir da im Zelt gemacht hatten. Aber mir war’s natürlich recht.
Schlechtes Wetter und kein Kinderzimmer!
Bei schlechtem Wetter war es natürlich schwierig, sich zum Spielen zu treffen. Keines von uns Kindern hatte ein eigenes Kinderzimmer und wir besuchten uns nur äußerst selten zu Hause. Spielende Kinder waren in den oft überfüllten winzigen Wohnungen nicht gerade erwünscht. Die meisten durften bei Regen einfach nicht raus. Wenn aber doch, trieben wir uns unerlaubterweise im Treppenhaus herum. Leise, ganz leise! Wir saßen dann auf den Stufen und erzählten uns flüsternd Gruselgeschichten oder spielten Schule mit Schiefertafeln und Abakus. In der Schule musste man ja auch leise sein, hatten wir Kindergartenkinder von den Schulkindern gehört. Wie im wirklichen Schulleben wurde es natürlich immer lauter. Sobald sich ein Nachbar oder eine Nachbarin durch den Lärm belästigt fühlte, mussten wir uns trollen und dann blieb nur der Rückzug in die kleine Wohnung mit den langweiligen Erwachsenen, die nicht im Traum daran dachten, sich mit dem Kind zu beschäftigen. Einen Fernseher hatte kaum jemand und wenn doch, waren die Sendezeiten so spärlich, dass fernzusehen nicht als ernsthafte Freizeitbeschäftigung in Frage kam.
Eigentlich erinnere ich mich nur an eine Nachbarin, die als Kriegswitwe gut situiert war, und deren beide Söhne schon aus dem Haus waren. Sie hatte im ursprünglichen Schafzimmer ein Wohnzimmer mit Fernseher eingerichtet und da durften drei oder vier brave Kinder manchmal „Lassie“ oder „Fury“ oder eine ähnliche Kindersendung gemeinsam anschauen. Aber das war höchstens ein- zweimal pro Woche der Fall.
Ich weiß eigentlich nicht, was die anderen Kinder gemacht haben, wenn das Wetter so schlecht war, dass man auf keinen Fall draußen spielen konnte, aber ich hatte jedenfalls Alternativen.
Zum einen waren meine Großmütter begnadete Erzählerinnen ihrer Lebensgeschichten und zum anderen malte mein Großvater Ölgemälde nach Postkartenmotiven. Da durfte ich dabeisitzen und ebenfalls malen. Wir beide, stundenlang friedlich vereint in unserer Kunst! Wenn ich dann mit meinem Kunstwerk zu meiner anderen Oma zwei Haustüren weiter nach Hause kam, meinte die nur, dass ich entsetzlich nach Rauch stinken würde. Mein Opa war nämlich Kettenraucher.
Freundschaften
Wenn ich an die Kinder in meiner Straße denke, dann weiß ich nicht, ob es eine beste Freundin oder einen besten Freund für mich gab, denn die Intimität, die gemeinsames Spielen in einem Kinderzimmer gehabt hätte, war in dieser Zeit nicht möglich. Wir trafen uns fast ausschließlich im Hof, wo alle waren.
Aber die gleichaltrige Ursula, ein Mädchen aus dem Nachbarhaus, stand mir wohl am nächsten. Wir gingen gemeinsam in den Kindergarten und wurden auch gemeinsam eingeschult.

Sie hatte eine Narbe im Gesicht und sprach etwas komisch, weil sie mit einer Lippen- und Gaumenspalte, auch Hasenscharte genannt, geboren worden war. Die plastische Chirurgie war in den 50er Jahren noch nicht so gut entwickelt und daher waren die Folgen der Operation deutlich sicht- und hörbar.
Ursula war herzlich und temperamentvoll und ich kann mich nicht erinnern, dass sie wegen ihrer Narbe von den anderen Kindern je gehänselt oder ausgeschlossen worden wäre. Ich hoffe mal, dass mich meine Erinnerung nicht trügt.
Sicher bin ich mir jedoch, dass Ursula niemals neidisch auf mich war, obwohl ich grundsätzlich schon als Kindergartenkind modisch herausgeputzt wurde.
Meine Mutter und meine Großmutter väterlicherseits wetteiferten darum, wer das Kind mit Kleidchen und Röckchen ausstatten dürfe, als gäbe es nichts Wichtigeres auf Erden.
Während aber meine Mutter, die als gelernte Textilverkäuferin einen gewissen Hang zur Exklusivität in Sachen Bekleidung hatte, bei einer sehr teueren Schneiderin in der Stadt, Tante Sissi genannt, für mich schneidern ließ, beauftragte meine Oma väterlicherseits eine befreundete Schneiderin im Block um die Ecke, die von ihr liebevoll ausgesuchten Stoffe zu Kleidchen für mich zu verarbeiten. Während meine Oma ihr Augenmerk auch auf Praktisches legte, achtete meine Mutter auf Schönheit. So kam es, dass einmal sogar ein Modefotograf meine Mutter darum bat, mich in dem entzückenden Sommerkleidchen mit passendem Hütchen fotografieren zu dürfen. So kam es aber auch, dass Schwiegertochter und Schwiegermutter über die Bekleidungshoheit immer wieder in heftigen Streit gerieten.
Mir war es natürlich herzlich egal, woher meine Kleider kamen, und für meine Freundin, die nicht entsprechend modisch und maßgeschneidert angezogen wurde, spielte das wahrscheinlich auch keine Rolle, denn ich kann mich nicht erinnern, dass das ein Thema zwischen uns gewesen wäre.
Auch bezüglich der Ausstattung mit Spielsachen konnte ich mich nicht beklagen. Ich bekam alles, was an neuem Spielzeug auf den Markt kam. Den Hula-Hoop-Reifen, der 1958 nach Deutschland kam, nannten bald fast alle ihr eigen, aber einen richtigen Roller mit Gummireifen hatten nur wenige. In freudiger Erwartung schleppte ich Sandspielzeug, Puppen und Puppenausstattung, Spiele und anderes Kleinspielzeug sowie meinen Roller in den Hof, denn das Schönste für mich war ja, dass die anderen Kinder meist gern damit spielen wollten.
Ich kann mich nicht an Neid erinnern und ich war weder stolz auf meinen Besitz noch hütete ich ihn. Im Gegenteil! Alle konnten von mir aus alles benutzen. Oft saß oder stand ich dann dabei, wenn die Kinder mit meinen Spielsachen spielten und freute mich, dass die anderen so eine Freude an meinen Sachen hatten.
Ich hatte einfach keinen ausgeprägten Besitzerstolz. Sehr zum Leidwesen meiner Familie! Die konnte mein Verhalten einfach nicht begreifen. Manchmal griffen sie ein, manchmal setzten sie mich unter Druck, ja nicht wieder alles zu verleihen. Das brachte mich in eine arge Zwickmühle und widerstrebte meinem Naturell.
Vielleicht war diese gewisse Gleichgültigkeit bezüglich der Besitztümer aber auch ein Grund dafür, dass ich keine Probleme mit den anderen Kindern bekam.
Mir war nicht klar, dass meine Eltern beide hauptsächlich arbeiteten, um sich etwas leisten zu können. Dazu gehörte auch, dass ihre kleine Tochter alles, was man sich nur wünschen konnte, haben sollte. Dass ich das in ihren Augen nicht entsprechend zu schätzen wusste, hat sie durchaus verstört, besonders meinen Vater. Mir wären ein paar Geschwister aber viel lieber gewesen als der relative Luxus, mit dem ich überhäuft wurde.
Bunte Kinderschar
Im Hof war auch noch ein etwas jüngeres Mädchen namens Jutta aus unserem Block drei Haustüren weiter. Es schien mir, als befänden wir uns in einer ähnlichen Situation, was uns in gewisser Weise verband.
Während meine Freundin Ursula in einer ganz normalen Familie mit Mutter, Vater und einer kleinen Schwester lebte, hatte Juttas Mutter sie ebenfalls, wie meine Mutter, ganz jung bekommen und Jutta lebte daher genau wie ich hauptsächlich bei ihrer Oma. Auch Jutta war Einzelkind und hatte eine berufstätige Mutter. Die betreuende Oma allerdings hatte neben einigen Töchtern im Alter meiner Eltern noch eine Jüngste, die nur ungefähr drei Jahre älter war als ihre Enkelin. Also spielten wir mit Tante und Nichte gleichermaßen. Eine Hierarchie gab es diesbezüglich nicht. Dennoch beneidete ich Jutta um diese Tante, die eigentlich wie eine große Schwester war.
Mitte der 50er Jahre kamen zu den angestammten Bewohnern des Blocks noch Vertriebene oder Flüchtlinge aus dem Osten hinzu. Ich erinnere mich an eine Frau im Alter meiner Großmütter, die ihre einzige Enkeltochter, die in meinem Alter war, betreute, während ihre Tochter, wie meine Mutter, arbeiten ging. Das Mädchen, dessen Namen ich vergessen habe, weil sie nach kurzer Zeit zu ihren Eltern ziehen konnte, lud mich manchmal ein, mit zu ihrer Oma zu kommen. Diese überaus freundliche Oma sprach ganz anders und sie kochte anders. Schlesische Küche! Ich fand das sehr interessant und freute mich immer, wenn ich etwas probieren durfte. Sie redete mit uns Kindern über „Kindersachen“, aber ich kann mich nicht an Erzählungen von früher erinnern. Über Flucht und Vertreibung hat sie nie gesprochen. Ich habe sie auch nicht mit den Nachbarinnen beim Ratschen gesehen. Ob sie die Distanz wollte oder ob sie von den Einheimischen geschnitten wurde, kann ich nicht sagen. Als ihre Enkelin nicht mehr bei ihr lebte, dachte auch ich nicht mehr an sie und verlor sie aus den Augen.
Von all den Jungs, die auf der Straße vor unserem Wohnblock mit uns spielten, sind mir nur zwei in Erinnerung geblieben.
Knut war Einzelkind wie ich. Seine Familie wohnte im obersten Stock eine Haustür weiter. Er war bestimmt nur zwei Jahre älter als ich, aber in meinen Augen bewundernswert. Wahrscheinlich spürte ich instinktiv, dass diese Familie anders war als meine. Und Kinder finden ja immer die Andersartigkeit besonders interessant.
Seine Eltern waren darauf bedacht, dass aus dem Sohn was wird und nicht dass er alles hat. Er hatte manchmal so „Verpflichtungen“ wie Musikunterricht, glaube ich mich zu erinnern. Eine Arbeiterfamilie war das jedenfalls nicht, denn sie achteten irgendwie auf unverbindlich freundliche Art auf Distanz. Will heißen, man sah Knuts Mutter nicht mit anderen Müttern des Blocks ratschen. Knut war ellenlang und spindeldürr, obwohl er Berge von Brotzeitbroten zum Fernsehen bei der Nachbarin mitbrachte und auch allein verzehrte. Ich hielt ihn für sehr klug und verkündete zu Hause immer wieder, dass ich Knut auf jeden Fall einmal heiraten würde.
Binisodum
Ein anderer gleichaltriger Junge namens Gerd aus demselben Haus, der mehrere ältere Brüder hatte, tobte mit uns herum und war daher nicht so beeindruckend. Jedenfalls für mich.
Aber er und zwei in unserem Viertel berüchtigte Brüder haben mich einmal reingelegt, was ich bis heute nicht vergessen habe.
Die beiden Jugendlichen, die mit ihrer alleinstehenden Mutter im Wohnblock um die Ecke wohnten und des öfteren mit der Polizei zu tun hatten, standen mit Gerd zusammen gelangweilt vor dessen Haustür. Ich bewunderte diese „halbstarken“ Jugendlichen sehr, obwohl sie das genaue Gegenteil zu meinem Knut waren. Sie sahen so gut aus! Gegelte Haare, Lederjacken und lässige Körperhaltung.
Aus sicherer Distanz himmelte ich die beiden an. Und dann geschah das Unglaubliche. Sie winkten mich zu sich. Ich konnte es gar nicht fassen, dass diese weit über mir Kindergartenkind stehenden Wesen etwas von mir wollten. „Geh, lauf doch mal schnell zur Apotheke und hol für ein Zehnerl Binisodum für uns! Da, hast ein Zehnerl. Aber pass auf, dass d`as ned verlierst!“, sagten sie zu mir, fast wie Erwachsene zu einer Erwachsenen.
Ja selbstverständlich wollte ich das machen. So eine Gelegenheit Eindruck zu machen, kriegt man ja nicht alle Tage!
Stolz marschierte ich also zur Apotheke in der Parallelstraße und verlangte strahlend ob meines Auftrags Binisodum für ein Zehnerl.
„Kind“, meinte die Apothekerin, „ein Bin-i-so-dumm gibt es nicht.“ Und jetzt verstand sogar ich.
Ich schlich zurück und gab kommentarlos das Zehnerl an die grinsenden Buben zurück.
Und ich hab niemandem von meiner Blamage erzählt. Gott sei Dank hat keine Nachbarin gesehen, dass ich die Straße überquert hatte, was ja strengstens verboten war. Ich hätte mir zusätzlich noch jede Menge Ärger eingehandelt.
Ein Mädchen mit Geschichte
Eine anderes, ich glaube etwas älteres Mädchen in unserem Wohnblock, hieß Silvia und wohnte eine Haustüre weiter. Ihr wäre das garantiert nicht passiert. Ich bewunderte sie sehr, denn sie wirkte auf mich so erwachsen und vornehm. Allein schon der Name Silvia erschien mir außerordentlich herrlich.
Als ich erfuhr, dass sie ein Adoptivkind war und von ihrer Tante und ihrem Onkel nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen worden war, vertiefte das meine Verehrung noch. Warum, kann ich aber nicht sagen. Vielleicht spürte ich, dass sie ein Mensch mit einer Geschichte war und ich fühlte mich zu Geschichten nun mal hingezogen.
Allerdings bestand da immer auch eine gewisse scheue Distanz, die es zwischen Ursula und mir nicht gab. Daher habe ich sie auch nie über ihre leiblichen Eltern ausgefragt. Silvia war ein sehr braves Mädchen. Wenn sie gerufen wurde und heim musste, gab`s kein Aufmucken, keine Betteleien um Verlängerung wie bei uns anderen. Es wirkte fast so, als geschähe dieses Heimgehen mit ihrem ausdrücklichen Einverständnis. Ich wär gern auch so gewesen, aber das war mir nicht gegeben. Als ich meine Beobachtung einmal zu Hause erzählte, meinten die Erwachsenen, dass Silvia bestimmt besonders brav sein müsse, weil sie ja adoptiert sei. Andernfalls…! Ja, was andernfalls? Genauer wollte mir das niemand erklären.
Damoklesschwert - Heim für schwer erziehbare Kinder
Das war eines der vielen Rätsel meiner Kindheit. Was passierte nicht nur adoptierten Kindern, wenn sie nicht brav waren?
Ich kann mich erinnern, dass mein Vater, wenn er mit mir schon im Kindergartenalter ein ernsthaftes Gespräch führte und mir dabei das Gefühl gab, ich sei jetzt schon so vernünftig, dass man mit mir wie mit einer Erwachsenen reden könne, von Heimen für schwer erziehbare Kinder erzählte. Wenn also Kinder schlimme Sachen machen würden, würde die Polizei sie abholen und dorthin bringen. Da könne nicht einmal er als Vater etwas dagegen unternehmen.
Das war schon eine beängstigende Vorstellung.
Aber was waren denn so schlimme Sachen, die man als Kind machen konnte? Genau wollte er sich da nicht festlegen und so musste ich zwischen den Zeilen lesen, wenn das Heim für schwer erziehbare Kinder in erzieherischen Monologen auftauchte.
Beispielsweise führte er so ein Gespräch mit mir, als ich einmal verkündete, ich sei jetzt dieser Familie überdrüssig und würde in die weite Welt gehen. Mein Körbchen hatte ich schon gepackt und war direkt auf dem Weg in eben diese weite Welt. Während sich meine Mutter ausschüttete vor lachen, nahm mich mein Vater beiseite und klärte mich über die Folgen so einer Tat auf: Polizei! Heim für schwer erziehbare Kinder!
Mich hat diese Option eingeschüchtert, weil mir mein Vater den Eindruck vermittelte, als würde sogar er in so einem Fall die Kontrolle verlieren.
Rückblickend hatte er nicht ganz unrecht. Die Rechtslage war noch Jahrzehnte nach den 50ern verheerend. Der Begriff der „Kindeswohlgefährdung“ war in den 50er Jahren weiter gefasst und eine Anhörung der Eltern oder gar des Kindes stand im Ermessen des Gerichts. Eltern, besonders die rechtlich ja hauptsächlich verantwortlichen Väter, konnten alles noch verschlimmern, wenn sie mit der Maßnahme des Jugendamtes nicht einverstanden waren und sich dagegen wehrten, dass man ihr Kind in ein Heim einwies.
Allerdings gab es in dieser Zeit der restriktiven Erziehungsmethoden auch Eltern, die bei anhaltenden Konflikten mit ihren Kindern von sich aus die Polizei riefen und sie ins Heim einweisen ließen. Dort würde man ihnen schon Respekt und Moral beibringen!
Die Grausamkeiten dieser Heimerziehung sind heute noch Gegenstand vieler Arbeitskreise.
Die Gesellschaft der 50er und ihre Moral
Genau betrachtet zählen meine Eltern zu den Jugendlichen im Wohnblock der 50er Jahre, denn sie waren 1949 gerade einmal 16 Jahre alt, bei meiner Geburt 1953 waren sie 19 und 1960 erst 27 Jahre jung.
Mein Vater und wohl auch mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, zählten eher zu den Halbstarken als zu den braven Bürgerkindern der Nachkriegsgesellschaft.
Einige der Kinder, die wie meine Eltern in den 30er Jahren geboren worden waren und nur einen totalitären Staat, die faschistische Ideologie und den Krieg kannten, nahmen sich nun als Jugendliche, als Halbstarke, ihre Freiheiten. Amerikanische Clubs, Musik, Tanzen, Filme und Feiern! Meine Eltern hatten das Glück, einen Ausbildungsplatz ergattert zu haben, sie arbeiteten hart und sehr lange während der Woche, aber am Wochenende ging man aus und feierte mit den amerikanischen GIs in den Tanzlokalen und Clubs.
Wenn dann die MP (military police) in die Lokale kam, um die Sperrstunde durchzusetzen und die amerikanischen Soldaten in die Kasernen zurück zu scheuchen, manchmal auch zu prügeln, wie mein Vater oft erzählte, legten sich die deutschen Jugendlichen mit der amerikanischen MP an, ja sie wurden handgreiflich und es ging hoch her. Die jungen Halbstarken wollten sich von keiner Obrigkeit mehr etwas sagen lassen.
Selbstverständlich gehörte mein Vater auch zu den Protestierenden, als 1951 die Vorführung des Films „Die Sünderin“, mit Hildegart Knef in der Hauptrolle, von der Kirche mit allen Mitteln verhindert werden sollte. Es kam zu Polizeieinsätzen mit Helm und Knüppeln, die der Regensburger Oberbürgermeister veranlasst hatte. Aber viele Menschen, darunter eben auch viele Jugendliche, wollten sich zu diesem Zeitpunkt einfach keiner Autorität mehr beugen.
Leider nur ein kurzer Moment der Befreiung von spießbürgerlicher Moral in der Geschichte Regensburgs und einiger anderer Städte der BRD!
Diese moralische, kirchlich katholisch begründete Aufregung über die Andeutung von Nacktheit in dem Film „Die Sünderin“ fiel bei den Bewohnern unseres Wohnblocks vermutlich nicht auf fruchtbaren Boden. Mit Kirche und Moral hatte man es in der Arbeiterschicht und im Prekariat nicht so sehr. Das moralisierende Großbürgertum lebte nicht in solchen Siedlungen und die eher für Anstand und Sitte eintretenden kleinbürgerlichen Angestellten und Beamten hielten sich mit ihrer Meinung in diesem Umfeld bedeckt.
Und ich muss sagen, dass ich als uneheliches Kind zweier Jugendlicher so gar keiner Diskriminierung oder irgendwelchen scheelen Blicken ausgesetzt war. Das war einfach kein Thema und auch keine Schande in unserem Wohnblock. Höchstens Pech für die jungen Eltern! (TA)
Links zu einzelnen Themen des Artikels:
(Die Links wurden sorgfältig ausgewählt. Dennoch ist RememberRelateReflect.com für Inhalt und Funktionalität und Sicherheit dieser externen Links nicht verantwortlich.)




