Eine gute Tat
- lisaluger
- 24. Sept. 2023
- 5 Min. Lesezeit
(DE) Berlin, Juni 1978
Gerne schmunzelt man über den alten Witz von zwei engagierten jungen Pfadfindern, die ihre Pflicht, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen, zu ernst nehmen und eine alte Frau über die Straße zerren, ohne zu merken, dass sie die Straße gar nicht überqueren möchte. Tja, übereifrige Leute schießen halt gern mal über das Ziel hinaus. „Mir könnte das eher nicht passieren!“, dachte ich zumindest.
Eines Abends wurde ich jedoch eines Besseren belehrt. Ich wollte etwas Gutes tun, aber die gute Tat entwickelte sich anders als gedacht.
In einer lauen Sommernacht im Juni 1978 war ich mit einer Studienfreundin gegen 1 Uhr nachts in Berlin- Kreuzberg unterwegs. Wir waren nach einem geselligen Abend gerade aus einer Kneipe gekommen und schoben unsere Fahrräder bis zur nächsten Kreuzung, um noch ein wenig zu reden. Danach würden sich unsere Wege trennen.
Da sahen wir am Oranienplatz eine alte Frau zusammengesackt am Bürgersteig sitzen. Sie sah aus, als wäre sie gerade zusammengebrochen. Wir eilten zu ihr, um ihr zu helfen und notfalls einen Krankenwagen zu rufen. Die alte Frau griff sich ans Herz und jammerte: ”Oh, mein Herz! Oh, mein Herz!” Als wir den Notarzt rufen wollten, wehrte sie sich vehement. Sie wohne gleich um die Ecke und wenn sie erst zu Hause wäre, dann wäre alles gut. Sie fragte uns, ob wir sie nach Hause begleiten könnten.
Aber natürlich, es war ja gleich um die Ecke und wer wollte schon eine arme alte und gebrechliche Frau nachts auf der Straße allein sitzen lassen.
Also machten wir uns auf den Weg. Wir hakten sie von beiden Seiten unter und mit der anderen, freien, Hand schoben wir unsere Fahrräder. Die Adresse, die sie uns nannte, Waldemarstraße, war wirklich nur fünf Minuten entfernt. Das würden wir schon schaffen!
Aber wir kamen nur langsam voran, denn die alte Frau musste immer wieder anhalten und verschnaufen und jammern: ”Oh, mein Herz! Oh, mein Herz!” Etwas mulmig war uns schon zumute. Wir hätten lieben einen Krankenwagen gerufen, aber sie beteuerte, sie sei okay, sie wolle nur nach Hause.
Endlich, nach langen 20 Minuten, kamen wir bei ihrem Wohnblock an. „Seitenflügel, 3. Stock“, murmelte die alte Frau. Also gut, wir hatten sie so weit geschleppt, nun konnte wir doch diese alte gebrechliche Frau nicht vor der Haustür stehen lassen. Natürlich mussten wir unsere Aufgabe zu Ende bringen.
Die Haustür war zum Glück offen und so schleppten wir sie langsam zum Seitenflügel. Als wir jedoch begannen, die alte Frau die Treppe hochzuhieven, stellten wir fest, dass das doch nicht so einfach war. Ihre Beine hatten keine Kraft und die Frau war viel schwerer als wir gedacht hatten. Wir probierten es mit schieben und ziehen und kamen langsam eine Stufe nach der anderen hoch. Eine äußerst Schweiß treibende Tätigkeit. In dem engen Treppenhaus merkten wir dann, dass die gute Frau ziemlich streng nach Alkohol und Urin roch. Naja, wer weiß, was für ein trauriges Leben sie hat! Wir zogen und schoben also weiter. Was hätten wir zu dem Zeitpunkt auch anderes tun sollen! Aber schließlich blieben wir stecken. Keine Chance! Nichts ging mehr! Nun war guter Rat teuer.
Da erinnerte ich mich, dass die Kneipe an der Ecke noch offen hatte. Vielleicht konnte ich von dort Hilfe holen! Gesagt, getan. Ich ließ die alte Frau in der Obhut meiner Freundin und lief zur Kneipe. Dort sah ich mich nach möglichen Helfern um. Sie mussten nicht nur stark, sondern auch willig genug sein, sich auf diese ungewöhnliche Aufgabe einzulassen. Schließlich fand ich zwei junge Männer, die sich bereit erklärten, für kurze Zeit ihr Bier unter der Aufsicht von Freunden zurück zu lassen und mir zu helfen, diese hilflose alte Frau nach Hause zu bringen. “Kein Problem, Mädel, das kriegen wir schon hin!” Gutmütig und optimistisch folgten sie mir ins Treppenhaus.
Die alte Frau begrüßte sie mit ihrem Oh-mein-Herz-oh-mein-Herz-Jammern, was die beiden hilfreichen Männer auch prompt anspornte und sie machten sich an die Arbeit. Aber auch für diese beiden starken Jungs war es nicht so einfach. Die Frau war wirklich schwer und kaum zu bewegen. Also schoben und zogen wir zu viert, Stufe um Stufe, mit kurzen Verschnaufpausen. Die alte gebrechliche Frau fühlte sich schwerer an als ein Kartoffelsack von 100 kg. Einer der Jungs hatte seine Schulter unter ihr Hinterteil geschoben um einen besseren Hebelansatz zum Schieben zu haben. Als wir wieder gerade schoben und zogen und er mit seiner Schulter hievte, entfleuchte der alten Frau lautstark ein langer Furz.
Der junge Mann an ihrem Hinterteil ließ die alte Frau vor Schreck fast nach hinten fallen. Wir hatten Mühe, den Treppensturz zu verhindern. Das enge Treppenhaus füllte sich bald mit fürchterlichem Gestank. Obwohl wir kaum wagten tief einzuatmen, kicherten wir vor uns hin, ob dieser absurden Situation. Gleichzeitig versuchten wir aber auch leise zu sein, um die Nachbarn nicht zu wecken.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichten wir den dritten Stock. Wir atmeten erleichtert auf. Allerdings hielt die alte Frau eine weitere Schwierigkeit für uns bereit. Sie habe keinen Schlüssel, murmelte sie etwas unverständlich. Während wir noch rätselten, was denn nun zu tun sei, versuchte sie uns zu beruhigen: „Die werden mich schon reinlassen oder?!“
Das war nun definitiv alles andere als beruhigend. Sie hatte zu keinem Zeitpunkt erwähnt, dass sie mit anderen Menschen in der Wohnung lebte. Und wieso war es fraglich, ob sie sie hereinlassen würden? Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht!
Besser wir hielten uns von nun an bedeckt. Wir lehnten die alte gebrechliche Frau gegen die Wand, läuteten Sturm und liefen schnell in den zweiten Stock, um von unserem Versteck aus zu beobachten, was nun passieren würde. Und wirklich, nach einer Weile hörten wir Geräusche aus dem Innern der Wohnung. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Eine türkische Frau im Nachthemd kam heraus und rief jammernd: “Nein, nicht schon wieder!” Aber dann zog sie resigniert die alte Frau in die Wohnung und machte die Tür hinter ihr zu.
Wir vier sahen uns bestürzt an. Ach du meine Güte! Was hatten wir hier nur angestellt? Vermutlich hatte die alte Frau früher in dieser Wohnung gelebt, die nun an eine türkische Familie vermietet worden war. Vielleicht war die alte Frau obdachlos oder in einem Pflegeheim untergebracht, aus dem sie manchmal ausbüxte. Wie auch immer, es gelang ihr offensichtlich hin und wieder gutgläubige Helfer dazu zu überreden, sie in ihr altes Zuhause zu schleppen.
Denn wer wollte schon eine alte gebrechliche Frau nachts alleine auf der Straße sitzen lassen?
Von diesem Schreck mussten wir uns erst einmal erholen. Wir vier Helfer gingen etwas bedröppelt zurück in die Kneipe, irritiert, verärgert, mit einem schlechten Gewissen der türkischen Familie gegenüber, aber auch amüsiert. Bei einem kühlen Bier bekamen wir langsam wieder einen klaren Kopf und staunten nicht schlecht über die Kaltschnäuzigkeit mit der die gebrechliche alte Frau diese Aktion durchgezogen hatte.
(LL)

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