Lektion des Lebens
- lisaluger
- 28. Apr. 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Mai 2023
Santander, Spanien, August 1978.
Im August 1978 studierte ich an der Sommerschule der Universität von Santander Spanisch, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Im kommenden Schuljahr beabsichtigte ich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg zu machen und ein Prüfungsfach würde Spanisch sein. Unser Spanischlehrer an der Schule für Erwachsenenbildung in Berlin hatte diesen Sommersprachkurs zur Prüfungsvorbereitung vorgeschlagen. Vermutlich hatte er den Eindruck, dass wir ihn dringend nötig hätten. Fünf meiner Mitschüler und ich verbrachten also den Sommer in Santander.
Von Montag bis Freitag hatten wir vormittags vier Stunden Unterricht. Anschließend konnten wir entweder Hausaufgaben machen oder die Stadt sowie deren Umgebung und die Kultur des Landes erkunden.
Ich war 24 Jahre alt, das erste Mal in Spanien und fasziniert von allem, was ich ringsum sah und erlebte.
Da das Geld knapp war, hatten meine Mitschüler und ich uns überlegt, uns auf dem örtlichen Campingplatz für die Dauer unseres Aufenthalts niederzulassen.
Vor unserer Abreise hatte ich mir noch in Berlin für 59 DM ein kleines Ein-Mann-Zelt (damals war gendern noch kein Thema!) gekauft. Mein kleines Reich hatte zwar keinen Schreibtisch, an dem ich meine Hausaufgaben hätte erledigen können, aber mir machte campen trotzdem Spaß. Abends kochte immer jemand. Ich hatte kein Kochgeschirr eingepackt, musste also mit dem zufrieden sein, was angeboten wurde. Je nach Koch war das entweder Reis mit Zwiebeln und einem Würstchen reingeschnitten oder Bratkartoffeln mit Tomatenketchup. Naja, nicht so die erlesene spanische Küche, aber eben billig. Und darauf kam es an.
Der Norden wird oft als das grüne Spanien bezeichnet, denn im Gegensatz zum eher kargen restlichen Spanien findet man hier üppig bewachsene Landschaften und Berge.
Und das kommt nicht von ungefähr, wie wir bald feststellen sollten. Nach einer Woche fing es heftig an zu regnen. Nach ein paar Tagen war der Campingplatz ein Schlammplatz. Schließlich waren nicht nur mein kleines Zelt und alle meine Sachen nass, sondern mein Zelt wurde nachts auch noch aus der Verankerung gerissen und weggeschwemmt – mit mir drin. Die größeren Zelte meiner Freunde hielten besser durch.
Aber ich hatte genug vom Zelten in der Nässe. Ich hängte das Zelt im Sanitärbereich des Campingplatzes zum Trocknen auf und sah mich nach einer anderen Bleibe um. Kommilitonen vermittelten mir ein Zimmer in einer spanischen Familie. Es war okay und erschwinglich.
Morgens bekam ich einen Milchkaffee, bevor ich zur Uni ging. Mein Zimmer hatte ein großes Bett und ich vermutete, dass das Vermieter-Ehepaar ihr Schlafzimmer geräumt hatte und bei den Kindern schlief. So einen kleinen Nebenverdienst wollte man sich nicht entgehen lassen.
Manchmal roch mein Bettzeug nach fremdem Schweiß und ich nahm an, dass der Mann des Hauses, während in an der Uni war, seine Siesta in meinem (sorry seinem) Bett hielt. Aber das störte mich kaum. Hauptsache ich war im Trockenen.
Der 15. August, Maria Himmelfahrt, ist auch in Spanien ein Feiertag. Meine Vermieterin und ihre ganze Familie hatten vor, ihre Schwester zu besuchen und sie teilte mir mit, dass sie über Nacht wegbleiben würden. Aber ihr Bruder werde in dieser Zeit in der Wohnung sein und nach dem Rechten sehen. Er könne mir auch morgens das Frühstück machen. Okay. Ich sah in diesem Arrangement kein Problem.
Als ich abends nach Hause kam, saß dieser Wohnungshüter im Wohnzimmer und schaute fern. Er freute sich, mich zu sehen, und lud mich ein, mich neben ihn auf die Couch zu setzen. Ich hatte aber keine Lust auf Smalltalk, zumal ich gesehen hatte, dass da eine halbleere Flasche Brandy auf dem Tisch stand. „Nein danke“, sagte ich freundlich, „ich bin müde und muss ins Bett.“ Aber das kam nicht gut bei ihm an. Er bestand darauf, dass ich mich setzen sollte, was ich dann auch zögerlich tat.
Es dauerte nicht lang, bis er näher und näher rückte und seinen Arm um mich legte. Das war nun eindeutig zu viel. Seine glasigen Augen stierten mich an und taxierten meinen Körper von oben bis unten. Etwas Speichel tropfte ihm vom offenen Mund. Ich versuchte, mich entschlossen seiner Umarmung zu entwinden und stand auf, um in mein Zimmer zu gehen. Er war jedoch schneller, trotz seiner Trunkenheit, und stellte sich in seiner vollen Breite vor die Tür, um mir den Zugang zu versperren.
Was sollte ich nun tun? Wie konnte ich mich aus dieser Situation befreien?
Ich ging langsam zurück und setzte mich auf die Couch und lächelte ihn an. Das wirkte. So gefiel ihm das. Er grinste und taumelte auf mich zu. Ich duckte mich, schlüpfte schnell unter seinen ausgebreiteten Armen durch und lief ins Schlafzimmer. Rasch wollte ich zusperren, aber da war kein Schlüssel. Für Schreck und Panik und Kopflosigkeit war keine Zeit. Ohne lang zu überlegen, schob ich schnell die schwere Kommode vor die Türe. Gerade noch rechtzeitig. Er trommelte mit seinen Fäusten gegen die Tür und brüllte, ich solle ihm gefälligst aufmachen und ihn reinlassen.
Ich atmete auf. Sollte er doch weiter gegen die Tür hämmern! Ich fühlte mich hinter meiner Barrikade sicher. Nach einer Weile gab er auf und es wurde ruhiger. Nur der Fernseher plärrte noch vor sich hin.
An Schlaf war dennoch nicht zu denken. Dazu war ich zu aufgebracht. Was bildete sich dieser Typ ein?! Was dachte er von mir?! Und woher nahm er sich das Recht, sich so zu benehmen?! Schon damals konnte ich nicht begreifen, dass manche Männer das Prinzip „Nein meint nein!“ nicht verstanden.
Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn als ich wach wurde, war es schon hell. Ich musste dringend zur Toilette. Aber konnte ich mich aus dem Zimmer trauen? Oder würde dieser Wüstling vor der Tür auf mich lauern und mich überwältigen? Ich hoffte inständig, dass er um diese Zeit seinen Rausch ausschlief. Meine Not wurde dringender und es blieb mir nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen.
Vorsichtig und möglichst leise schob ich die schwere Kommode zurück an ihren ursprünglichen Platz und öffnete die Tür einen Spalt. Und wirklich, der Typ hing auf der Couch, schnarchte und schlief tief und fest.
Leise auf Zehenspitzen schlich ich an ihm vorbei zur Toilette. Danach packte ich ein paar Sachen zusammen und verließ die Wohnung. Auf das Frühstück konnte ich an diesem Morgen verzichten. Ich hatte etwas anderes geplant.
Ich wollte alleine einen Ausflug machen. Zu diesem Zweck hatte ich mir für diesen Feiertag ein Fahrrad gemietet. Erleichtert, dass meine Flucht geklappt hatte, trat ich in die Pedale.
Bald war ich aus der Stadt und fuhr auf der wenig befahrenen Landstraße an Feldern und Wiesen vorbei. Wunderbar! Das Leben war wieder in Ordnung. Ich genoss meinen Ausflug.
Später führte mich der Weg am Strand entlang. Die Sonne schien heiß. Da niemand in der Nähe war (vielleicht waren die alle in der Kirche) zog ich mein Kleid aus und radelte im Bikini weiter. Ich freute mich über die Sonne und den Fahrtwind auf meiner Haut und fühlte mich großartig.

Nach einer Weile radelte ich auf einem Weg zwischen Feldern, die durch kleine Mäuerchen oder Hecken voneinander getrennt waren. Das war etwas umständlich, denn ich musste jedes Mal absteigen und mein Rad über die Barriere hieven. Aber was macht das schon, wenn man ansonsten so voll Freude und Lebenslust ist. Ich pfiff ein Liedchen, während ich vor mich hin radelte.
An einem dieser Mäuerchen kamen mir hilfreiche Arme entgegen, die das Rad und mich über das Hindernis hoben. Die hilfreichen Arme gehörten zwei Männern, einer ein Teenager, der andere so um die Mitte 30, die ich vorher nicht gesehen hatte. Sie waren überschwänglich bemüht, mich von jeglichem Ballast zu befreien, denn beim Hinüberheben zogen sie mir gleichzeitig den Bikini aus.
Was soll das denn? Nein! Nicht schon wieder! Ich zog blitzschnell mein Bikinihöschen hoch und hielt mein Rad schützend vor meinen Körper. „Nein! Nein! Nein! Mit mir nicht!“, gab ich ihnen laut und vernehmlich zu verstehen.
Aber sie wollten das nicht hören, nicht verstehen und es interessierte sie auch nicht, was ich wollte oder nicht wollte. Sie begrapschten mich weiterhin und es war völlig klar, worauf das hinauslaufen sollte. Ich war in einer prekären Situation. Was konnte ich tun?
Es war niemand in der Nähe. Niemand, der mir helfen konnte. Aber das konnten die Beiden ja nicht wissen. So atmete ich tief ein und ließ einen lauten schrillen und langen Schrei los. Iiiiiiiiiiihhhh!!!! Ich war über mich selbst erstaunt. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so etwas konnte. Mein Schrei zeigte jedoch zuerst keine Wirkung, also ließ ich noch einen los. Ich schrie wieder laut und lang. Die beiden schauten sich an, ratlos, zuckten die Achseln und verschwanden schließlich über die Hecken.
Ich hob mein Fahrrad mit ungeahnten Kräften wieder über die Mauer. Zog eiligst mein Kleid an und radelte, was das Zeug hielt. Weg von hier! Weg von dieser vermeintlichen Idylle, zurück in die Zivilisation.

Als ich im nächsten Dorf ankam, saß da ein kleiner Junge auf der Straße und spielte mit Steinen. Ich setzte mich eine Weile zu ihm. Außer Atem. Dann kamen mir die Tränen. Es sah so unschuldig aus, wie dieses Kind spielte. Der Kontrast zu meinen Erlebnissen der letzten Stunden machte mich einfach fassungslos. Nach einer Weile beruhigte ich mich, schwang mich auf mein Rad und fuhr in die Stadt zurück.
Ich besuchte meine Freunde auf dem Campingplatz. Sie saßen zusammen, alberten herum, lachten ausgelassen und unbeschwert. Männer, so ging es mir durch den Kopf, wie gut haben es Männer. Sie würden das, was ich gerade durchgemacht hatte, nie erleben. Sie hatten keine Ahnung davon, wie es Frauen und Mädchen ergehen konnte. Sie würden das nicht verstehen, dass man als Frau immer auf der Hut sein musste, immer dezent gekleidet, um ja nicht Männer zu provozieren.
Ich konnte an diesem Tag nicht mit ihnen lachen. Die albernen Scherze wirkten nicht bei mir. Sie machten mich eher traurig.
Ich machte mich auf, packte mein inzwischen getrocknetes Zelt ein und ging nach Hause, in der Hoffnung, dass die Familie zurück war und ich dem Wüstling-Bruder nicht mehr begegnen müsste.
Ich habe niemandem von diesen Erlebnissen erzählt, aber ich habe meine Lektion des Lebens gelernt.
(LL)
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