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Knicks & Diener

  • Autorenbild: anon
    anon
  • 20. Nov. 2022
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Juni 2023

(DE) „Mach ein schönes Knickserl!“, wurde ich regelmäßig aufgefordert, wenn Besuch kam oder wir etwas entferntere Verwandte oder Freunde besuchten. Die Fertigkeit einen ordentlichen Knicks hinzukriegen, wurde mit mir trainiert, sobald ich sicher auf meinen beiden etwas pummeligen Beinchen stehen konnte. Man hatte schließlich Stil und wusste sich zu benehmen. Und ein knicksendes kleines Mädchen war ein Zeichen für Wohlerzogenheit und eine ordentliche Familie.

Kleine Mädchen wurden zur Damenhaftigkeit erzogen.
Vornehm und damenhaft sollte ich sein.

Hinter dieser eisernen Benimmregeln steckte meine Großmutter mütterlicherseits, die aus irgendeinem Grund Wert auf sehr gutes Benehmen legte. Was eigentlich verwunderlich ist, denn sie entstammte einer Bauernfamilie, die nicht besonders dünkelhaft war. Aber meine Oma hatte schon in ihrer Jugend so gar keine Lust auf Stallarbeit, weswegen sie sich zuerst als Küchenmagd und dann als Zimmermädchen im fürstlichen Haushalt der Thurn & Taxis verdingte. Ihre begeisterten Erzählungen vom Leben im Schloss begleiteten meine Kindheit und ich spürte auch, dass meiner Oma die vornehme Lebensart sehr gut gefallen hätte. Sie hielt sich schon für etwas vornehmer als ihre Umgebung und sei’s nur innerlich. Auf gute Manieren legte sie großen Wert, auch wenn sie relativ arm war.

Für mich hieß das, dass es neben dem Knicks, den in den 50er Jahren alle Mädchen vorzuführen hatten, noch eine Reihe von Benimmregeln gab.

"Grüße mit Namen und schau in die Augen!"

Beispielsweise musste ich beim Grüßen von Erwachsenen einiges beachten. Mit einem einfachen vagen „Grüß Gott“, irgendwie in die Luft gesagt oder gemurmelt, war es nicht getan. „Immer schön zuerst und laut und deutlich grüßen und den Namen sagen und in die Augen schauen!“, lautete die tägliche Mahnung meiner Oma, wenn ich unsere Wohnung verließ.

Da wir im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses wohnten, konnte sich das recht schwierig gestalten. Wenn, was des öfteren der Fall war, drei Nachbarinnen im Erdgeschoss beieinander standen und interessante Gespräche führten, musste ich dieses traute Zusammensein empfindlich stören, falls ich den Benimmregeln meiner Oma folgen wollte. Und selbstverständlich wollte ich.

„Grüß Gott, Frau Weinzierl!, Grüß Gott, Frau Karl!, Grüß Gott, Frau Holzmann!“, rief ich in die Runde und schaute jeder Nachbarin tief in die Augen. „Grüß dich Gott, Tanja!“, antwortete jede pflichtschuldigst und ich war aus der Begrüßungszeremonie entlassen und konnte draußen loslegen. Wahrscheinlich wussten die Frauen nachher nicht mehr so genau, wo sie gerade stehen geblieben waren. Aber egal, das musste sein in einem ehrenwerten Haus.

Für Peinlichkeit sorgten manche Nachbarn, wenn ich beispielsweise in mein Spiel versunken auf der Straße herumrannte und vergaß, jemanden zuerst zu grüßen, den ich kannte. Ein „Grüß-dich-Gott-Tanja!“, konnte dann schon mal in vorwurfsvollem Ton an mich gerichtet werden. „Kennst mich wohl nicht mehr?“, wurde etwas bissig nachgeschoben. Ich weiß nicht, was sich die Leute dabei dachten. Fühlten sich wohl alle mehr oder weniger als Mit-Erziehungsberechtigte?!

"Kriegt die Tante ein Bussi?"

Damals, in den 50er Jahren, fiel es in Deutschland keinem Erwachsenen ein, sich mit Wangenküsschen zu begrüßen. Küsschen waren für enge Verwandte und für Festtage reserviert. Basta! Eine Bussi-Gesellschaft gab es noch nicht in Deutschland.

Außer für uns Kinder! Wenn man Pech hatte, dann wurde man im Überschwang eines gelungenen Kaffeeklatsches mit einer recht unbekannten Großtante schon mal gefragt: „Kriegt die Tante Mare, Anne, Rose … denn ein Bussi?“ Ich kannte das Fremdwort für diese Art von Fragestellung noch nicht, aber die Intention offenbarte sich mir instinktiv: Diese Frage war rein rhetorisch. Ein Nein wurde eigentlich nicht akzeptiert und die Erwachsenen quengelten so lang, bis man nachgab und vor lauter Freude dann auch noch recht arg geknuddelt wurde.

Die schöne Hand

Da war die Sache mit dem“Handgeben“ schon einfacher, außer man war Linkshänder. Es gab nämlich eine schöne Hand und die andere Hand. Und zur angemessenen Begrüßung hatte man die schöne Hand zu reichen. Die schöne Hand war die rechte Hand. Das war nicht verhandelbar.

Die andere Hand, also die linke, war pfui und die wollte daher niemand nehmen und schütteln. Eine Begründung für diese Geringschätzung der linken Hand wurde nicht geliefert. Wir Kinder der 50er Jahre schienen das Fragewort warum noch nicht so richtig entdeckt zu haben.

Wenn also Besuch kam oder wir jemanden besuchten, hielt ich mich strikt an das eingeübte Begrüßungsritual: Schöne Hand geben, Knicks machen, laut und deutlich namentliche Begrüßungsformel sprechen und in die Augen schauen. Das hatte ich drauf.

Im Gegensatz zu meinem kleinen Cousin, der offensichtlich dieses ganze Ritual verabscheute. Dabei hätte er ja den komplizierten Knicks – ein Knie beugen und das andere Knie gebeugt nach hinten führen – gar nicht machen brauchen. Für die Knaben war der „Diener“ erfunden worden, einfach ein leichtes Beugen des Kopfes, dem der Oberkörper in Maßen folgte. Richtige Herren machten das auch, wenn sie sich vorstellten. Nur mein Cousin mochte nicht so recht. Er versteckte sich sogar lieber, wenn er Gefahr lief, die Begrüßungszeremonie oder noch schlimmer die Abschiedszeremonie mit Küsschenwunsch absolvieren zu müssen.

Gedichtvorträge

Ich hingegen stellte mich immer dieser Herausforderung und mir wurde daher auch die zweifelhafte Ehre zuteil, bei diversen Festivitäten besinnliche Gedichte aufzusagen. Meine Mutter hatte so ein Büchlein, das immer zu Rate gezogen wurde, wenn Geburtstage, Hochzeiten, ja sogar Beerdigungen anstanden. Da ich noch nicht lesen konnte, übte man mit mir, bis ich die Verse konnte, und stellte mich dann vor Jubilare, Hochzeitsgesellschaften usw., wo ich die auswendig gelernten und natürlich in ihrer Bedeutung relativ unverstandenen Reime von mir gab. Im Hintergrund lauerte immer irgendeine weibliche Verwandte mit dem Gedichtbüchlein in der Hand, für den Fall, dass ich stecken blieb.

Bis heute ist es mir völlig schleierhaft, wieso dieses Theater gemacht wurde. Wem soll das Freude bereitet haben? War das eine Demonstration von Erziehungsleistung? Sollte das Wertschätzung für die zu Feiernden zeigen? Ich meine, immer gespürt zu haben, dass die geschätzten Geehrten nur gute Miene zum öden Spiel machten. Aber ich mag mich irren. Ich, als Kind, kam mir jedenfalls blöd vor und musste einfach daran glauben, dass die Erwachsenen schon wüssten, was sie taten.

Allerdings zweifle ich daran. Denn ich musste einmal als kleines Mädchen ein Gedicht auf der Beerdigung eines kleinen Kindes aufsagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, außer gut gemeint, für die Mutter wirklich tröstlich gewesen sein soll.

Vornehme Zurückhaltung bei Tisch und das Anstandsstück

Auch in der Tischkultur zeigte sich das noble Wesen der Familie. Bei meiner Oma aß man selbst Brotzeit nie aus dem Einwickelpapier. Der Tisch wurde grundsätzlich ordentlich gedeckt und für die Wurstradl gab`s Gabeln zum aufnehmen, niemals durften die Finger benutzt werden. War dann das Brot mit Butter bestrichen und mit Wurst belegt, durfte man die Hände benutzen. Allerdings nicht bei meiner Patentante und ihrem Mann in Frankfurt. Dort war man als Haushalt eines Bankers in Führungsposition richtig vornehm und aß nicht nur das Mittagessen mit Messer und Gabel, sondern auch das Wurstbrot. Die Hände, selbst in peinlich sauber gewaschenem Zustand, durften bei Tisch niemals direkt mit Lebensmitteln in Berührung kommen. So war das Abendessen eine echte Herausforderung für mich. Eine runde Knackwurst oder auch Regensburger, die mein Onkel so gern aß, flutschte mir des öfteren quer über den Tisch. Aber meine Tante arbeitete eisern an meiner Damenhaftigkeit und mir verging der Appetit. Von meinen Frankfurter Aufenthalten kam ich immer schlanker zurück, als ich hingefahren war.

Überhaupt schienen in meiner Kindheit feine Tischsitten ein Zeichen für sozialen Aufstieg zu sein. Wer etwas auf sich hielt, hielt Maß.

Wiederum gab es eiserne Regeln, die nicht leicht einzuhalten waren, besonders für hungrige Kinder bei Lieblingsspeisen. Was auf den Teller kam, hatte man zu essen. Was aber noch nicht auf dem eigenenTeller war, konnte man nicht einfach nehmen. Alle Tischgenossen hatten zu fragen, ob sie noch etwas von diesem oder jenem haben dürften. Normalerweise war das kein Problem, wenn noch reichlich von allem da war. Im Gegenteil, so machte man die Hausfrau stolz.

Beim letzten Stück Fleisch, Knödel, Kuchen usw. war die Lage eine andere, eine völlig verquere.

Man durfte niemals fragen, ob man das letzte Stück haben könne, denn keiner durfte dem Fragenden sein Objekt der Begierde streitig machen. Zwangsweise wurde also zugestimmt, zähneknirschend, aber mit Anstand. Diese Regel widerspricht dem genetisch im Menschen angelegten Futterneid, würde ich sagen.

Die Gastgeberin jedoch konnte das Reststück anpreisen wie Sauerbier, alle lehnten ab. Einzig der letzte, der gefragt wurde, hatte eine echte Chance. Er konnte mit einem „Eh ich mich schlagen lasse!“ beherzt zugreifen und dabei auch noch gut dastehen.

Nicht umsonst hat dieses letzte Stück in der Umgangssprache einen Namen, nämlich Anstandsstückl.

Dieser Eiertanz um die Benimmregeln bei Tisch hat mich immer schon verwirrt. Es wurden so viele widersprüchliche Signale ausgesandt, dass man als Kind gar nicht wusste, was jetzt angesagt ist und was nicht.

Beispielsweise erinnere ich mich noch gut an einen Nachmittag im Dezember, als meine Eltern, meine Oma und ich bei einer alten Freundin meiner Oma zu Besuch waren. Sie hatte einen herrlichen Plätzchenteller auf den Tisch gestellt und forderte alle, aber ganz besonders mich auf, reichlich davon zu nehmen. So nahm jeder je ein Plätzchen, lobte den Geschmack und die Konsistenz und dann griff niemand mehr zu und die Gespräche gingen weiter. Ich hatte damit nichts am Hut. In meinem Kopf jedoch stritt ich mich mit meinem alter Ego.

„Die Plätzchen sind echt gut. Und es sind noch viele davon auf dem Tisch“, ging mir durch den Kopf.

„Ja, aber alle haben nur eins genommen, also darf man nur eins nehmen!“, mahnte die andere.

„Aber die Tante hat doch gesagt, ich darf so viel essen wie ich will“, maulte ich.

„Das sagt man halt so“, klärte mich die andere auf. „Es wäre unhöflich, wenn du nochmals zulangst ohne zu fragen.“

„Fragen kann ich auch nicht, weil Kinder Erwachsenen ja nicht ins Wort fallen und sie im Gespräch unterbrechen dürfen. Und die reden hier die ganze Zeit ununterbrochen!“, wandte ich genervt ein.

„Hak`s ab, du kriegst keins mehr!“, sagte die andere.

Das war dann doch zu viel. Ich griff einfach zu, in der Hoffnung, dass das eh keiner mitkriegen würde.

Großer Fehler! Ich musste den Tisch verlassen und wurde geächtet, allerdings nicht von der freundlichen Gastgeberin. Die beteuerte immer wieder, dass sie die Plätzchen ja zum Verspeisen auf den Tisch gestellt habe. Half alles nichts! Ich hatte eine Anstandsregel gebrochen. Aber ich muss sagen, es hat sich dennoch gelohnt. Die Plätzchen waren wirklich sehr lecker.

Andere Zeiten - keine Anstandsregeln?

Heute gibt es den Knicks und den Diener Gott sei Dank nur noch, wenn man beispielsweise bei der Queen eingeladen ist, was ja ausgesprochen selten passiert, besonders in Deutschland.

Ich wüsste auch nicht, dass Kinder noch gezwungen würden, die „schöne Hand“ oder Bussis zu geben. Aber vielleicht irre ich mich auch?!

Überhaupt habe ich den Eindruck, dass den Kindern heutzutage weniger Höflichkeits- oder Benimmregeln aufgedrückt werden. Als Lehrerin habe ich oft erlebt, dass einen die Schülerinnen und Schüler meist freudig und gern begrüßen, wenn man ihnen irgendwo über den Weg läuft. Ganz natürlich.

Im Gegensatz zu früher sehen die Kinder der Nachbarschaft allerdings keine Notwendigkeit zum Grüßen, selbst wenn ich sie zuerst mit einem freundlichen Hallo anspreche. Wir sehen uns alle jeden Tag, aber wir sind uns fremd. Jedenfalls ist es in der Großstadt so.

Ich habe den Eindruck, dass Höflichkeit und gutes Benehmen in unserer Gesellschaft keinen großen Wert darstellen. Die Erwachsenen sind häufig keine Vorbilder in der Öffentlichkeit. Beim Passieren einer Schwingtür beispielsweise schauen sich die wenigsten um, ob ihnen jemand folgt, sodass man die Tür noch etwas länger festhält, bis der andere sie übernehmen kann. Mir passiert es durchaus immer wieder, dass die Tür vor meiner Nase zufällt. Oder umgekehrt, es schlüpfen sogar noch etliche durch die von mir festgehaltene Tür an mir vorbei. Ein Dankeschön höre ich niemals. Ob die sich etwas dabei denken?

Ein Segen ist es aber auf jeden Fall, dass diese scheinheiligen und absurden Tischregeln nicht mehr so stringent gehandhabt werden. Bei uns in der Familie gibt es jedenfalls keine Anstandsstückerl mehr. Und Plätzchenteller leeren sich wie von Zauberhand. Und wenn einmal alle dasselbe wollen, dann wird geteilt. Wer seine Wünsche äußert, dem kann man sie auch erfüllen, würde ich sagen. (TA)


Es wäre interessant zu erfahren, ob es noch andere oder sogar mehr Benimmregeln in anderen Familien oder Ländern gab.

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