top of page

Kindheit im Kollektiv

  • Autorenbild: anon
    anon
  • 20. Nov. 2022
  • 21 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Aug. 2024

(DDR/DE) Mein Vater war der prägende und bestimmende Teil meines kindlichen Lebens. Aber eigentlich war er nie anwesend. Er war bestimmend über seine Nichtanwesenheit, die von ihm nicht erbrachte väterliche Vorbildfunktion, seine von ihm sehr ernst genommene und mit viel Aufwand erbrachte berufliche Arbeit und die damit verbundenen vielen Ortswechsel für die fünfköpfige Familie. An seinen Vorstellungen vom Leben im Sozialismus, seinen Überzeugungen und seiner Karriere orientierte sich die ganze Familie.

Geboren wurde ich 1954 in Ronneburg in der DDR als zweite Tochter eines Paares, das in dieser Zeit des Aufbruchs und der Ideale versuchte, die Vorstellungen einer sozialistischen Gesellschaft so gut wie irgend möglich zu verwirklichen.

Alles für den Aufbau

Mein Vater war der jüngste Sohn eines Bäckermeisters aus Görlitz und hatte im 2. Weltkrieg mehrere Brüder verloren. Es gibt Fotos dieser Brüder, wie sie stolz in Wehrmachtsuniformen posieren. Der verbliebene Bruder meines Vaters trat nach dem Krieg der Nationalen Volksarmee der DDR bei, was wohl mehr auf eine militärische Affinität schließen lässt, als auf eine sozialistische Überzeugung.

Mein Vater hingegen hatte eine Stelle als Kulturinstrukteur beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), der einzigen Gewerkschaft der DDR. Sie galt als verlängerter Arm der SED.

Meine Eltern waren beide in der SED und arbeiteten beide in der Gewerkschaft. Aber mein Vater war der führende gestaltende Kopf. Er studierte neben seiner Arbeit im Fernstudium Kulturwissenschaften, wurde dann Referent und stieg in den Strukturen der Gewerkschaft immer weiter auf. Zur Wende 1989 war er Abteilungsleiter beim FDGB-Bundesvorstand in Berlin und gehörte zu den führenden Gestaltern der Gewerkschaftsarbeit.



Als überzeugter Kommunist war er maßgeblich an der Entwicklung sozialistischer Kultur für Arbeiter beteiligt. Am bekanntesten ist das Projekt „Bitterfeld Weg“, das von 1957 bis 1965 lief. Die DDR-Führung versuchte Arbeiter und Schriftsteller zusammenzubringen. Schriftstellernde Arbeiter und malochende Schriftsteller sollten gemeinsam authentische sozialistische Literatur hervorbringen.

Das Projekt hatte nicht den gewünschten Erfolg, aber mein Vater engagierte sich darüber hinaus als Arbeiterschriftsteller, schrieb Stücke für DDR-Theater, war in der Organisation der Arbeiterfestspiele eingebunden und arbeitete in der Kampfgruppe mit, einer Organisation der Zivilverteidigung in der DDR.

Auch meine Mutter studierte Kulturwissenschaften und arbeitete zuletzt in Berlin als Leiterin des Klubhauses der Kabelwerke Oberspree. Als junge Ehefrau und Mutter setzte sie ihre Prioritäten ähnlich wie mein Vater. Sie arbeitete beim FDGB meist in einem Kreis- oder Ortsvorstand. In den späteren Jahren in Berlin war sie im Zentralhaus der jungen Pioniere tätig. Meine Mutter machte keine berufliche Karriere wie mein Vater. Die Karriere meines Vaters bestimmte die Ortswechsel und meine Mutter nahm dann die Arbeit an, die man ihr anbot. Mein Vater war das Familienoberhaupt, sie ordnete sich für seine Karriere und wohl auch aus Liebe unter.

Wochenkrippe – ein Modell-Projekt der DDR

Meine Eltern hegten keinerlei Zweifel an der Vereinbarkeit von beruflichem sowie gesellschaftlichem Engagement und dreifacher Elternschaft. Gesellschaft und Staat unterstützten diese Einstellung durch die Wochenkrippen.

Das war eine Einrichtung, in der die Kinder von Montag früh um 6 Uhr bis Samstagabend um 18 Uhr durchgehend ohne Beteiligung der Eltern betreut wurden. Sechs Wochen alte Säuglinge bis hin zu dreijährigen Kleinkindern, alle wurden am Montagmorgen in der Wochenkrippe abgegeben und nach einer Woche, am Samstagabend wieder abgeholt.

Niemand war politisch gezwungen, seine Säuglinge und Kleinkinder während der Woche in so einer Krippe unterzubringen, aber man konnte es. Der ursprüngliche Gedanke war, dass man so Schichtarbeiterinnen und -arbeiter entlasten würde und deren Kinder in staatlicher Obhut gut betreut und versorgt wären.

Meine Eltern waren keine Schichtarbeiter, hatten überwiegend geordnete Arbeitszeiten und ergriffen dennoch die Gelegenheit, ihre Kinder während der Arbeitswoche nicht versorgen und betreuen zu müssen. Da beide bei der Wismut in Ronneburg, einer Bergbaugesellschaft zum Uranabbau arbeiteten, er als Kulturinstrukteur und sie als Schreibkraft, stand es ihnen frei, ihre Kinder in der Wochenkrippe unterzubringen. Dies kam überwiegend ihrer Freizeitgestaltung zugute, da sie ja nicht in Schichten arbeiten mussten. Sie arbeiteten in der AgitProp- Gruppe (AgitProp = Agitation und Propaganda für die Parteigruppe) der Wismut mit, sangen im Chor und in der Heimatgruppe, spielten im Orchester und mein Vater konnte, ungestört von Kindergeschrei, in Ruhe sein Fernstudium absolvieren. Dieses Engagement war in der DDR erwünscht und wurde, beispielsweise durch dieses Kinderbetreuungsangebot, massiv gefördert.

Ich habe eine zwei Jahre ältere Schwester und einen drei Jahre jüngeren Bruder. Wir teilten alle drei das gleiche Schicksal der ersten Lebensjahre in Wochenkrippen – allerdings getrennt nach Jahren und Einrichtungen.

Ich habe eine Narbe an der Stirn, die mit meinem Wochenkrippen-Trauma zu tun hat.

Als ich als kleines vierjähriges Mädchen meine Mutter an einem Samstagabend begleitete, als sie meinen kleinen Bruder von der Wochenkrippe abholte, winkte mich eine Betreuerin ins Haus. In plötzlicher wilder Panik lief ich völlig kopflos davon und direkt in eine Schaukel. Ich trug eine blutende Platzwunde davon, deren Narbe man heute noch sehen kann, und erntete Unverständnis bei den Erwachsenen!

Ich hatte und habe bis heute für dieses Gefühl keine Worte. Ich denke, dass die frühkindliche seelische Prägung der Generation „Wochenkrippe“ ein tiefer Eingriff in die Psyche darstellt. Gerade weil dies so früh im Leben passierte, ist es schwer darüber zu sprechen. Manche Gefühle und Befindlichkeiten, die vielleicht typisch für mich sind, könnte man sich aufgrund der Wochenkrippen-Erfahrung erklären. Dazu gehört zum Beispiel dieses Angst- und Stresssymptom, welches mich lange bei kollektiven Veranstaltungen mit Erfolgsdruck beherrschte. Darauf gehe ich aber später noch ausführlicher ein.

In der DDR war dieses Kinderbetreuungsmodell jedenfalls bis Mitte der 60er Jahre als Errungenschaft des sozialistischen Arbeiterstaates umworben und hoch angesehen. Nach einigen Untersuchungen u.a. durch die Humboldt-Universität verschwanden die Wochenkrippen relativ zügig. Warum? Man hatte bei den Kindern eklatante kognitive Mängel und Entwicklungsrückstände festgestellt. Das war nicht im Sinne des Staates, sondern war kontraproduktiv für die Entwicklung von Wirtschaft, Politik und Kultur.

Holzdorf – ein bisschen Bullerbü, aber ein trauriges

1958 zogen wir nach Holzdorf, ein sehr kleines Dorf in der Nähe von Weimar, weil mein Vater an der dortigen FDGB-Schule eine Stelle als Dozent erhalten hatte.

Diese FDGB-Schule war ein mir damals riesig erscheinendes Fachwerk-Schloss mit dunklen Durchfahrten und integrierten Wohneinheiten für die Mitarbeiter.

Neben der Schule gab es noch eine Schäferei mit Schafen und Geflügelzucht. Wir Kinder streiften unbeaufsichtigt umher, immer auf der Suche nach kleinen Abenteuern. Meine Eltern waren wohl der Meinung, dass uns in diesem kleinen Ort nichts passieren könne. Aber Kinder schaffen es immer wieder, sich in Gefahr zu bringen.

Hinrichtung des Hahns

Lebhaft in Erinnerung ist mir noch der Hahnenüberfall. Wir Kinder spielten oft im Innenhof des Fachwerkschlosses. Da sich dort aber auch die Enten und Hühner der Schäferei aufhielten, mussten wir immer auf den schmierigen Kot auf den Pflastersteinen achten. Ich bin mit einem ausgeprägten Unrechtsbewusstsein ausgestattet und fand daher, dass die Enten kein Recht hätten, sich in unserem Hof zu tummeln. Also jagte ich sie mit einem Stöckchen bis zur Schäferei, was der dort regierende Hahn als Bedrohung empfand. Er flog mich an und hackte mit seinem Schnabel dicht unter mein Auge.

Zur Strafe wurde ihm am nächsten Tag in meinem Beisein der Kopf abgehackt. Ich hegte dem Hahn gegenüber keinerlei Rachegelüste, musste aber trotzdem mit und der Hinrichtung beiwohnen. Der Hahn tat seinerseits sein Bestes, um mich noch ein letztes Mal zu erschrecken. Nach der Hinrichtung flog er kopflos noch ein paar Meter auf mich zu.

Das ganze Erlebnis samt der Enthauptung ist bis heute ein Trauma für mich.

Aufsichtspflicht der großen Schwestern

Auch der unfreiwillige Badegang meines kleinen Bruders ist mir nach wie vor in lebhafter Erinnerung und das aus zweierlei Gründen.

Der eine Grund ist, dass mein gerade mal ein Jahr alter Bruder in der Obhut meiner sechsjährigen Schwester und mir (4 Jahre) beinahe ertrunken wäre.

Für die Werktätigen der FDGB-Schule gab es ein betoniertes Badebassin mit Eingangstreppe, welches im hinteren Bereich schon ziemlich tief war. Wir Geschwister spielten allein im Freien und gingen am Pool entlang, als mein Bruder hineinfiel. Er paddelte wie ein Hund mit Armen und Beinen. Da wir Mädchen auch nicht schwimmen konnten, hätte es nichts genützt, hinterher zu springen. Panik! Angst! Da erinnerte sich meine Schwester daran, dass sie kurz zuvor einen gebogenen Stock gesehen hatte. Mit diesem zog sie meinen Bruder an den Beckenrand und dann holten wir ihn gemeinsam aus dem Wasser. Mein Bruder war gerettet! Erleichterung!

Der zweite Grund ist, dass ich nun große Angst vor Bestrafung hatte, denn das Unglück war zu Hause nicht zu verheimlichen. Der Kleine war patschnass.

Uns, aber eigentlich hauptsächlich meine große Schwester, erwarteten Vorwürfe und Strafen, weil wir nicht auf ihn aufgepasst hatten.

Mein Vater schlug zu, wenn es sich grade ergab auch mit dem Pantoffel oder dem Teppichklopfer. Ich selbst war ein eher vorsichtiges zurückhaltendes Kind, aber meine lebhafte und aufmüpfige Schwester wurde oft gezüchtigt. Sie hatte dabei aber auch wirklich schlechte Karten, denn ihr wurde sehr oft die Oberaufsicht über ihre kleineren Geschwister übertragen. Ging etwas schief, war sie dran. Kein Wunder, dass sie sich uns Kleinen gegenüber nicht gerade fair und liebevoll verhielt. Andererseits war sie aber auch diejenige, die sich unserem Vater in den Weg stellte, wenn er doch mal den Kleinen verprügeln wollte.

Ich hingegen hatte nur Angst um meine Geschwister, besonders wenn sie von Strafen bedroht waren. Diese Hilflosigkeit ängstigte mich sehr. Bis heute mache ich mir ständig Sorgen um meinen Bruder und meine große Schwester, obwohl wir uns fast in nichts einig sind, wir unser Leben ganz unterschiedlich gestaltet haben und keine Auseinandersetzung scheuen.

Wie es hätte sein können – ein einmaliges Erlebnis

Das dritte Erlebnis meiner frühen Kindheit fand auch wieder mit meinen Geschwistern statt. Es hatte viel geschneit und wir besaßen einen einzigen Schlitten und durften Schlittenfahren gehen. Dazu liefen wir ohne Eltern etwa einen Kilometer bis zu einem Rodelberg, auf dem sich viele Kinder mit ihren Eltern tummelten. Ich hatte noch nie gerodelt und betrachtete die Sache eher skeptisch. Meine Schwester aber fand Rodeln toll. Sie rauschte wieder und wieder den Berg hinab. Sie nahm mich nicht mit und allein traute ich mich nicht. Ich hatte natürlich keinen Spaß beim Zuschauen und fror außerdem erbärmlich. Meine Handschuhe waren definitiv zu dünn und meine Hände daher eiskalt. Ich weinte vor mich hin und wäre viel lieber wieder zu Hause gewesen. Als meine Not am größten war, sprach mich der Vater eines Mädchens an und fragte nach dem Grund für meine Tränen. Als ich ihm sagte, dass mich entsetzlich frieren würde, besonders die Finger, nahm er meine Hände und rieb sie mit Schnee ein. Dabei sprach er freundlich und beruhigend mit mir und prophezeite, dass es mir gleich besser gehen würde. Ich war erst vier, aber diese Szene habe ich heute noch vor Augen. Die Erfahrung, dass Berührung Schmerz heilt und dass sich jemand nur um mein Wohlergehen bemüht, tat mir sehr gut. Ich wünschte mir so sehr, es wäre mein Papa gewesen, der sich um mich kümmerte.

Und einmal ist es tatsächlich passiert. Ich habe es erlebt, dass sich mein Vater intensiv um mich kümmerte.

Das hatte eine Vorgeschichte.


Der Schulhort, in den fast alle Kinder gingen, dauerte bis 16 Uhr. Ich lief dann allein oder zu zweit die vier Kilometer Heimweg nach Hause. Es hätte zwar einmal täglich einen immer völlig überfüllten Bus gegeben, aber in den kam man nur mit seiner Schülerfahrkarte und die hatte es in sich. Sie bestand nämlich aus dünnem Papier, hatte 31 kleine Vierecke, die beim Einsteigen gelocht werden mussten, und sie wurde daher im Laufe eines Monats immer unscheinbarer. Sie wurde so unscheinbar, dass man schließlich nichts mehr vorzuzeigen hatte und daher auch nicht in den Bus gelassen wurde.

Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, dass labbrige Dokumente kaum Überlebenschancen haben.

So war es natürlich auch bei mir als Schülerin der ersten Klasse.

Mit einem Klassenkameraden machte ich mich eines Tages im Winter auf den Heimweg, der immer an einem See vorbei führte. Natürlich war es uns Kindern strengstens verboten auf dem zugefrorenen See herumzulaufen und selbstverständlich hielten sich nicht alle daran. Man konnte den Weg so nämlich stark abkürzen. Am Ende des Sees, nahe am Ufer, hatten die älteren Schüler eine Rutschbahn präpariert und rutschten lachend und kreischend hin und her. Mein etwas dicklicher Freund stampfte unternehmungslustig mitsamt seiner Schulmappe auf die Bahn und ich hinterher. Dann ging alles ganz schnell. Er brach ein und ich rutschte hinter ihm ins kalte Wasser. Es ging mir nur bis zur Brust, aber mit meiner Mappe im Schlepptau hatte ich Probleme schnell wieder rauszukommen. Die anderen Kinder halfen und so standen wir bald durchnässt, frierend und völlig verängstigt am sicheren Ufer. Was jetzt? Unsere größte Sorge war die Bestrafung, die garantiert folgen würde.

Um unser Missgeschick geheim zu halten, gingen wir in den einzigen Konsum (Ladengeschäft) des Ortes, um uns an der Heizung aufzuwärmen und zu trocknen. Die Verkäuferin setzte uns jedoch kurzerhand vor die Tür und so blieb uns nichts anderes übrig, als nach Hause zu schleichen. Zuerst gingen wir zu meinem Schulkameraden nach Hause und klingelten schlotternd und zitternd vor Kälte und vor Angst an der Tür. Sein Vater öffnete, zog seinen durchnässten Sohn wortlos in den Flur und griff zur Lederpeitsche an der Wand, während er die Tür vor meiner Nase zuschlug. Als ich verdattert davor stand, hörte ich das Klatschen der Peitsche und lief in wilder Panik nach Hause, wo ich Ähnliches erwartete.

Mein Vater jedoch, der als einziger zu Hause war, reagierte diesmal völlig ungewöhnlich. Er sagte kein Wort, setzte mich zuerst in ganz kaltes Wasser in die Wanne, goss dann langsam warmes Wasser auf und verabreichte mir jede Menge Kamillentee. Langsam fing mein ganzer Körper an zu prickeln. Schließlich brachte er mich mit Wadenwickeln ins Bett und häufte mehrere Zudecken auf mich.

Es war eine Tortour, aber ich war dennoch froh, denn ich hatte keine Schläge, sondern die volle Aufmerksamkeit und Fürsorge meines Vaters bekommen. Ein nahezu einmaliges Erlebnis.

Geborgenheit – leider ein Fremdwort

In meinen frühesten Erinnerungen kommen meine Eltern weder vor noch nach solch dramatischen Erlebnissen vor. Sie waren nicht anwesend, nicht erreichbar, nicht zuständig und auch nicht verantwortlich.

An eine Umarmung oder andere Zärtlichkeiten meiner Eltern kann ich mich nicht erinnern . Die einzige Person in meinem Leben, die solche Erinnerungen in mir weckt, ist meine Oma mütterlicherseits, obwohl auch diese ziemlich spröde war. Sie wohnte aber in einer anderen Stadt und ich durfte sie nur in den Schulferien besuchen.

Die Oma väterlicherseits war hingegen sehr streng und zog nach dem Tode meines Opas für einige Jahre zu uns. Sie hatte einen ganz eigenen strengen und sparsamen Erziehungsstil.

Beispielsweise mussten wir, sobald meine Mutter das Haus morgens verlassen hatte, unsere schönen neuen Kleider aus- und altes Zeug anziehen. Vermutlich sollten die neueren Sachen geschont werden. Erst als eine Lehrerin unsere Mutter auf unser zerlumptes Erscheinungsbild ansprach, flog die Sache auf.


Es blieb meine ganze Kindheit hindurch immer dabei, dass meine Eltern um 7 Uhr das Haus verließen und vor 18 Uhr nicht zu Hause waren. In dieser Zeit waren Wochenkrippe, Kindergarten, Schule und Hort meine Aufenthaltsorte, aber meine Schwester praktisch die „Erziehungsberechtigte“, die von den Eltern eingesetzte Aufpasserin. Da sie kaum älter war als wir Kleinen, war sie natürlich komplett überfordert und ihr Umgang mit uns hatte wenig mit Geschwisterliebe und Zusammenhalt zu tun. Sie drangsalierte uns oft und daher fühlte ich mich auch in unserem Kinderzimmer nicht sicher. Es war kein Hort der Geborgenheit für mich.


Und auch im Schulhort, in den ich nach der Einschulung 1960 gehen musste, war es für mich nicht stressfrei. Es wurden nämlich täglich nach der Mittagsruhe um 14 Uhr russische Kriegsfilme auf einem Schwarz-weiß-Fernseher gezeigt. Zu Hause hatten wir keinen Fernsehapparat und daher war meine Schwester ganz fasziniert. Mir wurde bei dem Geheul der Bomben und dem Geratter der Panzer angst und bang und ich hielt mir Augen und Ohren zu. Aber das musste ich unauffällig tun und durfte auch nicht losheulen, denn wenn ich das getan hätte, wäre ich rausgeschickt worden und meine Schwester zur Beaufsichtigung mit mir. Was das bedeutet hätte, kann man sich vorstellen. Jede Menge Ärger mit meiner großen Schwester!


Ein behütetes Leben führte ich als Kind sicherlich nicht. Hinzu kamen die vielen Ortswechsel, die uns immer wieder zwangen neu anzufangen.

Unstetes Leben – immer wieder neue Anfänge

In meinem ersten Lebensjahrzehnt sind wir fünfmal umgezogen. Von Ronneburg, der Uran-Abbaustadt der Wismut Bergbau Gesellschaft zogen wir nach Holzdorf, von dort nach Grünheide, dann nach Alt-Buchhorst und zuletzt nach Ost-Berlin. Mit jedem beruflichen Aufstieg meines Vaters lernten wir einen neuen Ort, eine neue Schule, einen neuen Schulhort kennen. Wir Kinder wechselten also regelmäßig in unbekannte Strukturen.

Heute denke ich an diese Kindheits-Wechsel und habe das Gefühl, dass ich darunter gelitten und sowohl Verlustängste wie auch Überlebensstrategien entwickelt habe.

Als später andere Wechsel notwendig wurden – Systemwechsel bei der Auflösung der DDR und Berufswechsel – konnte ich gelassener damit umgehen. Ich hatte schon meine eigene Strategie entwickelt.

Oft erkannte ich, worauf es dabei ankam. Man musste die neue Situation analysieren, vorhandene Möglichkeiten recherchieren und Entscheidungen treffen.

Dann galt es die Ärmel hochzukrempeln und zu handeln. Jede große Veränderung, die Ortswechsel, Berufswechsel, Statuswechsel usw. erzwingt, bedeutet, Vertrautes hinter sich zu lassen, eröffnet aber auch neue Möglichkeiten und erweitert den Lebenshorizont. Unbewusst eingefahrene Gleise können verlassen und neue Wege und Ziele gefunden werden. Darin liegen auch Chancen.


Da gäbe es wieder andere Geschichten aus meinem Leben zu erzählen, aber ich möchte an dieser Stelle einbringen, dass man auch viel Positives aus negativen Lebenserfahrungen ziehen kann, wozu auch teilweise eine Erziehung im Sinne des Kollektivs gehört.

Das Kollektiv – eine prägende Erfahrung

Bedingt durch die vielen Umzüge, die wechselnden Dialekte und Gegebenheiten hatte ich keine festen Kindergarten- und Schulfreundschaften. Mir war dieser Mangel lange Zeit nicht klar.

Erst wesentlich später wurde mir bewusst, dass die Wochenkrippe und andere Kindereinrichtungen, die zu sozialistischem Bewusstsein und kollektivem Verhalten erziehen sollten, meine Wahrnehmung und meine Haltung im Leben stark geprägt haben.

In kollektiven Strukturen macht man schon als Kind die Erfahrung, dass man sich möglichst unauffällig und diszipliniert verhalten muss, wenn man wenigstens ohne Probleme oder vielleicht sogar erfolgreich sein wollte.

Es gab in meiner frühen Kindheit kein schützendes Elternhaus, keine Sicherheit und keine Zärtlichkeit, dafür aber Angst vor Sanktionen, Demütigung, Ablehnung und starken Anpassungsdruck.

Man hatte sich der Gruppe unterzuordnen und kollektive Entscheidungen mitzutragen, wenn man Anerkennung erhalten wollte. Gruppen- und Kollektivmeinungen waren absolut, kreative eigene Meinungen waren unerwünscht, wurden bekämpft und sanktioniert.

So ein Kollektiv war mehr als nur eine Gruppe. Hinter den Überzeugungen des Kollektivs stand die unstrittig wunderbare sozialistische Ideologie des Staates. Wer also aus der Reihe tanzte, stand im Verdacht, dem Kollektiv zu schaden. Das Ausgrenzungspotential ist so viel tiefer gehend und umfassender als bei einfachen Gruppen.

Als sehr fantasievolles Kind, das irrationale Ängste, aber auch eigenwillige Ideen und Perspektiven entwickelte, passte ich nicht hundertprozentig in diese Gesellschaft. Um mich trotzdem einzubringen und durchzusetzen, fehlte mir außerdem oft das Selbstwertgefühl.

Und so gab ich mir durch selbst gewählte Isolation einen Rahmen für meine eigene Welt. Allein mit mir war ich sicher und befreit. Da waren Fantasien und Kreativität erlaubt.

Andererseits bin ich bis zum heutigen Tag manchmal unter Stress nicht in der Lage, Gefühle gegenüber Mitmenschen und Gruppen auszusprechen, meine Ideen und Konzepte durchzusetzen und meine Rechte ohne Schuldgefühle einzufordern.

Wenn im Berufsleben Kollegien oder Abteilungen als Kollektiv auftraten und der Gruppendruck groß war, quälten mich regelmäßig Ängste vor Schuldzuweisung und Überforderung.

Dieses Phänomen trat auch später noch auf. Beispielsweise wenn es darum ging, in Fachschaftssitzungen der Fachlehrkräfte oder in Schulleitungssitzungen oder auch in ganz alltäglichen Teams seine Meinung zu bestimmten Themen zu äußern, geriet ich innerlich unter Druck.

Hatte ich ein Gefühl der Sicherheit, war ich selbst auch eloquent und sicher, fehlte mir die Sicherheit, reagierte ich unbewusst aggressiv, abweisend oder überhaupt nicht. Vielleicht ist das auch ein Verhaltensmuster, entwickelt aus den Erfahrungen in Kollektiven?

Funktionsweise von Kollektiven

Ich war immer ehrgeizig, wenn es darum ging, Aufgaben erfolgreich zu lösen. Ich investierte wirklich viel Zeit und Energie in meine Arbeit, aber oft war die stärkste Motivation für mein Engagement früher zur DDR-Zeit, nur ja Fehler zu vermeiden. Dabei meine ich Arbeiten und Handlungen, deren erfolgreiche Durchführung im Interesse der jeweiligen Gruppe standen, nicht in meinem persönlichen Interesse.

Bei Misserfolg drohten entsprechende Bestrafungen wie Herabwürdigung, Worturteile, Anprangerungen im Kollektiv, Denunziation bei Gruppenleitern.

Die Spirale aus tatsächlich gemachten Fehlern und dem krampfhaften Bemühen um Fehlervermeidung geriet, früher öfter als heute, mitunter außer Kontrolle.

Wenn der Stress sich dann aufbaute, machte sich in mir Hilflosigkeit und Überforderung breit und ich brach die Kontakte ab, egal ob Freundschaften, Beziehungen oder berufliches Umfeld. In der Isolation konnte ich dann zunächst innere Sicherheit empfinden und später auch Ruhe und Gelassenheit wieder aufbauen.

Erfolge im Kollektiv waren sehr erstrebenswert. Sie brachten allseits Anerkennung. Erfolge aber erforderten fehlerfreies Handeln für alle im Kollektiv.

Das große Staunen über Teams aus Individuen

Als ich nach der Wende zu Lehrerkollegien gehörte, in denen Teamarbeit als Zusammenarbeit auf der Basis von Kompromissen unter Berücksichtigung individueller Vorlieben verstanden wurde, war ich zuerst erschrocken, dann erstaunt und schließlich sehr befreit.

Ich erinnere mich an eine Teamsitzung der Mathelehrkräfte einer Jahrgangsstufe. Ich war neu an der Schule und anpassungsbereit. Die Teamleiterin und die meisten Kolleginnen und Kollegen sprachen sich für eine einheitliche Schulaufgabe aus, wozu auch der Lehrstoff eingegrenzt wurde. Die Sitzung dauerte gut eine Stunde und es wurde ein Beschluss gefasst. Als dann alle aufstanden, um ihrer Wege zu gehen, sagte ein Kollege, er werde nicht mitmachen, weil er in seiner Klasse mit dem Stoff noch nicht so weit sei. Er werde eine eigene Schulaufgabe später abhalten. Ich erstarrte innerlich und erwartete ein riesengroßes Drama, Grundsatzdiskussionen über Solidarität und Gemeinschaft und dergleichen mehr. Nichts davon geschah. Die Teamleiterin wie auch die Teammitglieder meinten nur: Ja wenn du das so machen willst, dann mach das nur.

Solche Erfahrungen reduzierten meinen Anpassungs- und Mitmach-Druck. Wirklich befreiend!

Auch hatte ich inzwischen eine eigene Familie und entwickelte mit meinen Lieben und Freunden andere Strategien im Umgang mit anderen Menschen, die womöglich mein erfolgreiches Funktionieren einfordern könnten. Nur manchmal brechen die alten Muster noch auf. Aber nun bin ich ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert.

Nutzeffekt der Sozialisation im Kollektiv

Allerdings muss ich auch sagen, dass diese Prägung durch kollektive Strukturen nicht nur negative Verhaltensweisen hervorbrachte. So sehr meine Individualität, das Abweichende vom Konsens, mich während meines Lebens in DDR-Strukturen einengte und verunsicherte, so sehr kam die Orientierung am Erfolg des Kollektivs meiner Freude an gelungenen Problemlösungen zugute, die der Arbeit eines Teams zugeschrieben wurden. Ich brauche keine Profilierung, keinen Konkurrenzkampf, keinen Wettbewerb. Ein erfolgreiches Projekt ist der Erfolg vieler und ich freue mich über das Gelingen, über die Anerkennung meiner persönlichen Leistung und lege großen Wert darauf, dass auch die Leistung anderer entsprechend gewürdigt wird.

Das, so habe ich gesehen, ist nicht selbstverständlich in der stark individualisierten Gesellschaft der im Westen sozialisierten Menschen. Konkurrenzkämpfe und Profilierungsbestrebungen beeinträchtigen oft erfolgreiche Teamarbeit.

Unerfahren im Herstellen von Nähe

Mit beginnender Pubertät, also Ende der 60er Jahre in der DDR, wurde der Wunsch nach Freundschaft und Nähe immer größer. Ich wollte auch einen vertrauten Menschen, eine beste Freundin, an meiner Seite haben.

Da ich gut in der Schule war und leicht lernte, bot ich den anderen Mädchen meine Hausaufgaben zum Abschreiben an. Weil ich ja nie erlebt hatte, wie sich Freundschaft entwickelt, nahm ich an, dass Nützlichkeit der beste Einstieg wäre. Und ich hatte Recht. Tatsächlich ergatterte ich eine wirklich beste Freundin, die ich hingebungsvoll verteidigte, wenn sie, egal von wem, angegriffen wurde und der ich immer zustimmte. Es war für mich keine Frage, ob sie im Recht oder im Unrecht war, ob es stimmte, was sie sagte, oder ob es falsch war. Ich stand an ihrer Seite. Loyal oder solidarisch, wie auch immer man das nennen mag. Jedenfalls unterstützte ich sie hingebungsvoll bis hin zur Selbstaufgabe.


Ich hatte ja keinerlei Erfahrung im Hinblick darauf, wie Freundschaft funktioniert. Dass es reichen könnte, Zuneigung füreinander zu empfinden, Spaß und Geheimnisse miteinander zu teilen, sich zu öffnen und so zu sein, wie man wirklich war, konnte ich nicht glauben. Gemäß meiner Sozialisation strengte ich mich an, gab mir Mühe und schoss beizeiten über das Ziel hinaus.

Um Freundinnen zu beeindrucken, gab ich mich in der Schule recht aufmüpfig und frech den Lehrkräften gegenüber. Das gab zwar Ärger, aber durch meine guten Leistungen konnte ich mir das leisten.

Dennoch wurde ich, so sehe ich das im Rückblick, meist als die renitente Kleine belächelt. Die Wirkung meiner Aufstände glich wohl eher einem Sturm im Wasserglas.

Ich hatte nun zwar Freundinnen, aber entspannt war das Verhältnis nicht.

Einzig zu meinem jüngeren Bruder hatte ich in meiner Kindheit ein liebevolles Verhältnis. Er war der einzige Mensch meiner Kindheit, dem ich ohne Vorbehalte begegnen konnte. Wir spielten miteinander, besuchten gemeinsam Museen oder lasen Bücher. Für meine Verhältnisse standen wir uns sehr nah. Allerdings waren wir auch zusammen nicht stark genug, um uns gegen den Druck unseres Vaters zu wehren. Mein Bruder ist drei Jahre jünger. Oft sah ich mich als die Fürsorgliche ihm gegenüber. Wenn wir nach der Schule allein zu Hause waren, bereitete ich uns kleine Mahlzeiten zu, kochte Tee oder ging mit ihm zum Spielplatz. Dazu gehörten auch gefährliche Spielplätze in Bombentrichtern im Wald oder in alten Ruinen. Ich nahm ihn auch das erste Mal mit zur Disko, als er 14 Jahre alt war. Er war aber nicht mein „bester Freund“ und es gab auch nicht unbedingt vertrauliche Gespräche. Dazu war der Altersunterschied wohl zu groß.


Als mein Bruder 1977 im Alter von 20 Jahren nach Westberlin floh, brach der Kontakt fast ab. Wir hatten kein eigenes Telefon, weswegen Gespräche kaum möglich waren. Nach der Wende mussten und durften wir unsere Beziehung komplett neu aufbauen.

In den späteren Jahren meines Lebens musste ich mir Freundschaften und Nähe nicht mehr mühsam täglich verdienen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich drei Kinder habe, die ich bedingungslos lieben konnte. Das hat vielleicht meinen Kopf in Sachen Zwischenmenschlichkeit etwas zurückgedrängt und dafür dem Gefühl mehr Raum gegeben.

Aber dieser Hang zur Loyalität beispielsweise mit Kolleginnen und Kollegen ist immer noch sehr stark, allerdings inzwischen ohne den Wunsch nach inniger Freundschaft. Auch meine Schülerinnen und Schüler konnten jederzeit auf mich zählen. Ich bin zwar immer noch klein von Wuchs, aber wenn ich später aus gutem Grund auch mal renitent wurde, belächelte mich niemand mehr. Das ist das, was blieb.

Ich wurde einerseits durch meine Sozialisation im Kollektiv geprägt, mit den beschriebenen Verwerfungen und Konsequenzen, aber auch durch negative und positive Vorbilder in der Familie und in meinem ganz persönlichen Umfeld.

Mein Vater – Kommunist und absoluter Herrscher in der Familie

Mein Vater war in seinem Rollenbild als Bürger der DDR ein überzeugter Kommunist, in seinem Rollenbild als Ehemann und Vater aber völlig in althergebrachten Konventionen stecken geblieben. Er war die Autorität, der Bestimmer, der Tyrann, der Kinder–Bestrafer. Er erwartete, dass bei seinen Witzen gelacht wurde, auch wenn wir sie nicht verstanden, und dass wir uns durch seinen Sarkasmus nicht verletzt zeigten. Eine falsche Reaktion konnte dabei durchaus in Gewalt enden.

Ich empfand seine Worte und sein Verhalten oft als erniedrigend. Wenn beispielsweise mein Bruder wieder einmal schlechte Noten nach Hause gebracht hatte, zog mein Vater ihn an den Ohren durch die Wohnung und verspottete ihn als „Graf Koks von der Gasanstalt“.

Ich erinnere mich auch, wie mein Vater eines Tages unser Kinderzimmer betrat und mit seinen Fingern über die Oberfläche des Kachelofens strich, dann über die Gardinenstange und schließlich hinter dem Schrank. Dabei sagte er immer: Dreck! Dreck! Dreck! Zum Schluss rieb er seinen schmutzigen Finger in meinem Gesicht und unter meiner Nase ab, wobei er mich verächtlich ansah. Ich fühlte mich so gedemütigt, wagte aber keine Widerworte. Meine damals 14-jährige Schwester wäre mit ihm in den Ring gestiegen, auch wenn es ihr dann übel ergangen wäre. Aber ich, gerade mal 12 Jahre alt, hatte zu dieser Zeit zu viel Angst.

Meine Mutter verhielt sich nicht so, hielt ihn aber in seinen Aktionen auch nicht zurück. Außerdem hatte sie unter seiner ständigen Untreue zu leiden.

Als Arbeiterschriftsteller sowie Mitbegründer und Gestalter des „Bitterfeld Weges“ schrieb er Bücher und Dramen für Arbeitertheater, ganz im sozialistischen Sinn, und hatte viele Kontakte in die Kulturszene. Dabei lernte er auch viele Künstlerinnen kennen und betrog meine Mutter häufig mit ihnen bis zur endgültigen Scheidung 1970.

Mein Vater heiratete wieder und lebte mit seiner neuen Frau und ihren beiden gemeinsamen Kindern in Berlin. In dieser Familie wurde er zu einem ganz anderen, liebevolleren und interessierterem Vater, wie ich später erfahren sollte.


Für mich war die Scheidung meiner Eltern zunächst auch die vollständige Trennung von meinem Vater. Ich habe ihn bis zu seinem Tod 1993 nur noch zweimal kurz gesehen. Das zweite Treffen fand bei der Geburtstagsfeier meiner Schwester 1992 statt. Damals war er bereits schwer vom Krebs gezeichnet. Er unterhielt sich ein paar Minuten mit mir und wünschte mir Glück im Leben.

Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass sich mein Vater nur mit mir befasste. Eine traurige Tatsache. Erst viel später konnte ich ihm seine Distanz und Lieblosigkeit sowie sein Desinteresse an mir vergeben. Dieses Vergeben war ein langer Prozess des Nachdenkens über ihn und seine Geschichte, über seine Verluste in den Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges und das Wissen um die Umstände, die zu seiner ersten Ehe geführt hatten. Außerdem brauchte ich dieses Vergeben für einen persönlichen Abschluss in meiner eigenen Geschichte.

Meine Mutter – kein Fels in der Brandung

Meine Mutter hingegen war nach der Scheidung eine gebrochene Frau, die ganz in ihrer Arbeit aufging. Wir Kinder konnten ihr keinen Halt geben.

Monatelang war sie in Tränen aufgelöst und sah keinen Ausweg aus ihrer Situation. Ich fühlte mich hilflos und wütend, weil ich ihr in dieser Trauer nicht helfen konnte. Gleichzeitig war ich die ganze Zeit unbeschreiblich wütend auf meinen Vater als den Verursacher dieser Trauer.

Viel später erkannte ich, dass unsere Mutter uns mit ihren Tränen und ihrer Wut, mit ihrer Weltsicht sicher manipuliert hatte. Sie sorgte durch Leiden, Vorwürfe und Wut dafür, dass wir unseren Vater ablehnten und gegen seine neue Frau voreingenommen waren.

Es zeigte sich in dieser Zeit aber auch, dass unsere Mutter unseren Vater liebte, uns Kinder jedoch nicht ausreichend lieben konnte. Anders kann ich mir die häufige emotionale Distanziertheit im Umgang mit uns Kindern nicht erklären.

Ihr laste ich dies aber weniger an, denn sie war schwach, selbst ein Adoptivkind und früh entwurzelt.

Meine Eltern und der Zeitgeist in der DDR

Gleichwohl sind meine Eltern bis heute in meiner Erinnerung nicht die Personen, die mein Leben und meine Entscheidungen mit ihrem Verhalten, ihrer Empathie oder ihrer Hilfe positiv geprägt hätten. An ihnen orientierte ich mich bewusst nicht.


Diesen Platz haben andere eingenommen.

Meine Oma beispielsweise imponierte mir mit ihrer Stärke, ihrer Durchsetzungskraft und mit ihrer Fähigkeit, Gefühle zu benennen. Daran nahm ich mir ein Beispiel.


Meine Lieblingslehrerin war eine sehr mütterliche Frau. Sie erkannte nicht nur meine Stärken, sie förderte diese auch und half mir erfolgreich über die Hürden der Pubertät zu kommen. Sie wurde mir ein Vorbild sowohl in emotionaler Hinsicht wie auch bei meiner Berufswahl. Ich wurde Lehrerin.


Letztendlich frage ich mich oft, welche Schuld meine Eltern trifft. Sie waren Kriegskinder, selbst emotional entwurzelt, wollten Kämpfer einer neuen Zeit sein, glaubten an die DDR als die bessere Gesellschaftsform und gingen in ihr auf. Sie opferten die Beziehung zu ihren Kindern, nahmen die Entfremdung billigend in Kauf, brachten sich um die Chance, Liebe und Verantwortung ihren Kindern gegenüber zu entwickeln.

Sie waren nicht die einzigen, die so handelten.


Die Wochenkrippen wurden in der DDR lange vielen Eltern angeboten und entsprechend haben auch viele Kinder Ähnliches erlebt. Oft waren Wochenkrippen die einzig angebotene Betreuungsform. Wussten die Eltern damals, was sie taten, als sie uns Kinder wochenweise hergaben und in der Verwirklichung ihrer idealistischen Vorstellungen oder auch nur ihrer Karrieren aufgingen? Waren ihnen entspannte Feierabende so viel wert? Wie ich schon am Anfang schrieb, nutzten meine Eltern die freien Abende für gesellschaftliche und gesellige Unternehmungen.

War ihnen bewusst, dass sie sich um das Erlebnis betrogen, ihre Kinder gestaltend aufwachsen zu sehen?

Hätten sie sich gegen dieses verlockende Angebot überhaupt wehren können? War Zweifel in dieser gesellschaftlichen Atmosphäre und Überzeugungen möglich? Oder reichte ihnen das Zusammensein am Sonntag?


Eines ist jedenfalls klar. Das Kind in die Wochenkrippe zu geben, war kein Zwang. Es gab sicher Sachzwänge und Notwendigkeiten, die sich aus der Arbeitswelt ergaben, aber es gab keine Wochenkrippen-Pflicht. Eltern hatten durchaus Handlungsspielraum.

Meine Eltern haben sich für Beruf, Karriere und Freizeitgestaltung entschieden. Das ist bitter, auch wenn ich immer wieder versuche, sie zu entschuldigen. Sie waren noch jung und außerdem Kriegskinder, eine Generation der Sprachlosigkeit und Entfremdung. Eventuell fiel es ihnen daher leichter, ihre Kinder abzugeben. Außerdem ging die Arbeitszeit von Montag bis Samstag und sie waren beide werktätig.

Aber ich wünsche mir inständig, dass es diese Art der Entfremdung in Familien nie wieder gibt

Meine Chance als Mutter und Bürgerin der DDR

Ich selbst habe drei Kinder und war die meiste Zeit berufstätig. Im Gegensatz zu meinen Eltern habe ich meine Kinder selbst aufgezogen und betreut.

In den 80er Jahren hatten sich die Zeiten im Vergleich zu meiner Kindheit stark verändert. Ich konnte das großzügige Angebot der DDR annehmen und mit Elterngeld jeweils ein Jahr pausieren. Es gab einen sogenannten Haushaltstag für Mütter, an dem sie sich frei nehmen konnten. Im Dienst gab es sogar Stundenermäßigungen je nach Anzahl der Kinder. Wenn man kranke Kinder zu Hause betreuen musste, konnte man das bei vollem Lohnausgleich tun. Und ich nahm diese Angebote wahr, um für meine Kinder da zu sein.

Meinen eigenen Kindern war ich so stets nah. Sie zu umarmen und liebevoll zu umsorgen, verbunden mit Aufrichtigkeit, Humor und Herzlichkeit, ist mir von Anfang an ein natürliches Bedürfnis gewesen. Ich musste mir nichts überlegen, die Gefühle waren einfach da.

Meinen Kindern und mir ist dies sehr gut bekommen. Wir haben noch heute ein sehr enges vertrauensvolles Verhältnis, obwohl sie weit verstreut mit ihren Familien leben.

Es ist mir gelungen, mich nicht von der Kälte und Einsamkeit meiner Kindheitserfahrungen beherrschen zu lassen, sondern als Mutter meinen eigenen Weg zu finden.

Mit der Geburt meines ältesten Sohnes Matthias und den damit verbundenen Gefühlen öffnete sich eine Tür zu ganz neuen Erfahrungen. Ich durfte erstmals bedingungslose Liebe geben und erfahren. Ich erlebte Gefühle der Verantwortung und der Nähe in einem Maß, wie es mir vorher noch nie begegnet war. Das erste Lebensjahr mit ihm war ein permanentes Staunen und Entdecken. Die Dankbarkeit, so einen Winzling begleiten zu dürfen, ihm Vertrauen und Liebe mitgeben zu können, brachte in mir ein Gefühl von Stärke und Verantwortung hervor.

In dieser Zeit begriff ich auch das Glück, dass die DDR, die noch 30 Jahre zuvor nur die Wochenkrippe anzubieten gehabt hatte, nun die Beziehung zwischen Mutter bzw. Eltern und Kind tatkräftig unterstützte. (KK)


Comments


20200429_074336.jpg

Wollen Sie über neue Beiträge informiert werden?

Dann tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse unten ein. Danke!

Danke!

bottom of page