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Eine unheimliche Begegnung

  • lisaluger
  • 8. Dez. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Juni 2023

Ecuador, Mai 1980

Ich stand bis zu den Knien im Wasser des Rio Napo und wusch meine Jeans. Wir waren am frühen Nachmittag mit dem Bus in Misahualli angekommen. Am nächsten Morgen sollte es mit dem Boot weitergehen, tief in den Dschungel Ecuadors.


Meine Jeans war von der Reise ziemlich verdreckt und ich hatte das dringende Bedürfnis am nächsten Tag mit sauberen Hosen in den Dschungel vorzudringen. Im Hostel, in dem ich untergekommen war, gab es aber tagsüber kein Wasser. Erst gegen Abend könne man damit rechnen, vielleicht, meinten die Betreiber. Darauf konnte ich aber nicht warten, denn bekanntermaßen trocknen Jeansstoffe nur langsam und bei der hohen Luftfeuchtigkeit würde eine Nacht nicht ausreichen, um am Morgen in eine halbwegs trockene Jeans steigen zu können.


Also tat ich das, was ich auf meiner Reise in Südamerika oft gesehen hatte, ich ging zum Waschen an den Fluss und kam mir dabei sehr cool vor. Ich war schließlich keine dieser Reisenden, die bei kleinsten Problemen hilflos zu zetern begannen. Ich lernte von den Einheimischen! Also stand ich im Rio Napo und rubbelte und walkte meine Hose im frischen Flusswasser und fühlte mich gut dabei.

Rio Napo in Ecuador
Rio Napo in Ecuador

Dieses gute Gefühl fand jedoch schlagartig ein Ende, als sich zwei vorbeigehende Gringos (westliche Ausländer) bei meinem Anblick die Frage stellten, ob es wohl Piranhas im Fluss gebe. Das Ergebnis dieser Erörterung wartete ich nicht ab, sondern sprang augenblicklich mit einem Satz aus dem gerade noch friedlich plätschernden Wasser. Die Begutachtung meiner Beine und Zehen ergab jedoch keinerlei Knabberspuren. Noch war also nichts passiert.


Ich sah mich um. Tatsächlich, es waren außer mir keine Frauen am Fluss, um Wäsche zu waschen. Das war eigentlich ein übliches Szenario, das ich während meiner Reise immer und überall beobachtet hatte und weswegen ich auch so selbstverständlich in den Fluss gestiegen war.

Verunsichert versuchte ich nun die Jeans vom trockenen Ufer aus im Fluss zu waschen, was einige Verrenkungen nötig machte. Das war weniger erfolgversprechend, aber dafür umso anstrengender.


Während ich noch mit meinem speziellen Waschvorgang beschäftigt war, trat aus dem dichten Gebüsch ein einheimischer indigener junger Mann hervor. Er war groß und stattlich und trug einen traditionellen Poncho. Als er näher kam, erkannte ich extrem verlängerte Ohrläppchen mit einem mindestens zehn Zentimeter langen Loch in der Mitte. In seinem Nasenflügel steckte ein kleines Holz- oder Knochenstückchen. Die ganze Erscheinung war abenteuerlich, faszinierend und furchteinflößend zugleich. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn unverhohlen anstarren.


Zu allem Überfluss kam er auch noch direkt auf mich zu. Was um Gottes Willen konnte der von mir wollen!? Mir war mulmig zumute. Als er bei mir angekommen war und mir gegenüber stehen blieb, bekam ich es mit der Angst zu tun. Sollte das ein Überfall oder ein gewalttätiger Übergriff auf eine naive Touristin werden?

Ein wenig zittrig lächelte ich mein freundlichstes Lächeln, begrüßte ihn auf Spanisch mit „Hola“ und hoffte, dass er die Furcht in meinen Augen nicht sah und mein Herz nicht klopfen hörte.


Der junge Mann sagte nichts, deutete aber fordernd auf mein Schweizer Taschenmesser, das neben mir auf einem Stein lag. Aha, das wollte er also! Dieses Taschenmesser hatte ich extra für diese Lateinamerikareise erstanden. Es hatte mir gute Dienste geleistet. Was sollte ich ohne das Messer machen?! Aber wenn er nur das haben wollte und mich ansonsten nicht angriff, sollte es mir recht sein. So ein Messer ließ sich ja ersetzen.


Ich gab ihm also schicksalsergeben mein Taschenmesser. Wortlos nahm er das Messer, öffnete die verschiedenen Funktionen, bis er zu der kleinen Schere kam. Dann nickte er zufrieden und begann den abgetretenen Saum seiner Hose mit dieser Minischere abzuschneiden. Er prüfte mit Kennerblick, ob er gerade geschnitten hatte und begann dann das zweite Hosenbein zu bearbeiten.

Nach getaner Arbeit begutachtete er seine Schneiderarbeit, besserte hier und da nochmals nach, schnippelte noch ein paar lose Fäden ab und klappte schließlich zufrieden das Taschenmesser zu, bevor er es mir zurückgab. Er hob die Hand zum Gruß und verschwand zwischen den Büschen so lautlos und gemessenen Schrittes, wie er gekommen war. – Ich war sprachlos. Das war alles, was er gewollt hatte! Sich mein Messer ausleihen, um seinen Hosensaum auszubessern!


Ich schämte mich für meine Angst, die auf schlimmsten Vorurteilen beruhte. Wie schlecht hatte ich von ihm gedacht. Wie wenig wusste ich wirklich über die Leute, deren Land ich seit ein paar Monaten bereiste!


Später am Abend, als ich vom Abendessen in mein Hostel zurückkehrte, begegneten wir uns auf der Straße. Er nickte zum Gruß. Ich lächelte zurück. Wir teilten ein gemeinsames Erlebnis. Meine vermeintlich unheimliche Begegnung ist mir in Erinnerung geblieben. Ich habe meine Lektion gelernt.

(LL)

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