top of page

Ein unvergessliches Silvester

  • lisaluger
  • 28. Apr. 2023
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Mai 2023

Nicaragua, Silvester 2008.

Silvester kommen und gehen. Manche sind mehr, andere weniger beeindruckende Feiern eines Jahreswechsels. Ein Silvester ist mir jedoch besonders in Erinnerung geblieben, der 31. Dezember 2008 in Poneloya in Nicaragua. Ein unvergessliches Silvester.


Ich saß auf dem Balkon unseres Hotelzimmers mit Strandblick und hielt Ausschau nach meinem Mann David. Ich hatte mich entschlossen, ihn nicht an den Strand zu begleiten, sondern noch etwas an meiner Dissertation weiterzuarbeiten. Aber jetzt hatte ich genug getan und wollte mich nun auch lieber zu ihm an den Strand gesellen. Nach einer Weile erblickte ich ihn noch zwischen den Wellen, aber offensichtlich hatte er auch genug und schwamm gerade zurück. Gutes Timing!


Also klappte ich meinen Laptop zu und ging hinunter zum Strand, um ihn mit einem Handtuch zu erwarten, wenn er aus dem Wasser stieg. Dann würden wir etwas gemeinsam unternehmen.



David und ich verbrachten gerade vier Wochen Ferien in Zentralamerika. Ich wollte ihm zeigen, wo ich in den 80er und 90er Jahren einige Zeit gearbeitet und gelebt hatte. Gleichzeitig konnte ich den Ferienaufenthalt auch dazu nutzen, um in einem wärmeren Klima an meiner Doktorarbeit zu schreiben.

David winkte und als er noch durch das kniehohe Meer auf mich zu watete, stutzte er plötzlich und schrie leicht auf. Er schaute stirnrunzelnd auf seinen leicht blutenden Fuß hinunter.

Was war geschehen? War er in eine Glasscherbe getreten? Das wäre durchaus möglich gewesen, denn in den letzten Nächten hatten Jugendliche hier am Strand Partys gefeiert.

Hinkend gelangte er ans Ufer und ich konnte den verletzten Fuß genauer in Augenschein nehmen. Es war keine Glasscherbe und auch keine Schnittwunde zu sehen, nur zwei kleine Einstiche, die bluteten. Was konnte das nur sein? Möglicherweise ein Stachelrochen?

David bestätigte meinen Verdacht. Er habe kurz vor dem Schmerz eine vage Bewegung im Wasser registriert.

Stachelrochen buddeln sich oft bei ruhiger See in einer Bucht in den von der Sonne aufgewärmten Sand. Wenn dann jemand zufällig darauf steigt, winden sie sich schnell aus dem Sand, stellen ihren langen Stachel auf und stechen zu. Das war hier höchstwahrscheinlich auch geschehen.

Ich wusste von einer Freundin, die vor Jahren, auch in Nicaragua, von einem Stachelrochen gestochen worden war, rein theoretisch, wie der Verlauf aussehen würde. Sie hatte einige Stunden unter enormen Schmerzen gelitten, aber weitere gesundheitliche Komplikationen hatte es nicht gegeben. Hoffentlich war das bei David auch der Fall.

Ich stützte David und gemeinsam hinkten wir zum Hotel zurück.

Die Nicaraguaner haben ihre Augen überall und registrieren alles, was ringsum geschieht. Zu der Zeit, als ich hier lebte und arbeitete, scherzten wir oft darüber, dass man stets unter Beobachtung stand. So auch diesmal. Zum Glück.

Einige Hotelangestellte, den Hotelbesitzer im Schlepptau, eilten neugierig herbei und wollten wissen, was geschehen sei. Sofort hagelte es von allen Seiten mehr oder weniger hilfreiche Vorschläge, was unter diesen Umständen nun am besten zu tun sei.

Einige sahen nur eine Überlebenschance für David, indem ich ihn in das 26 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Leon brachte, um den Fuß auf der Stelle amputieren zu lassen, denn das Gift würde sich schnell im ganzen Körper verbreiten und sehr wahrscheinlich zum Tod führen. Eile sei angesagt.

Andere schlugen vor, nichts zu machen und abzuwarten, was geschehen würde. Am nächsten Morgen könne man immer noch entscheiden, ob man ins Krankenhaus fahren müsse oder nicht.


Mir leuchtete der Vorschlage des spanischen Hotelbesitzers ein, der empfahl, den Fuß in einen Eimer mit heißem Wasser zu stellen und die Stichstelle mit Seife abzuschrubben, damit das Gift aus den Stichwunden sozusagen heraus gerieben und geschwemmt werde. In meinen Augen war das eine Behandlung, ähnlich der eines lästigen schmerzhaften Insektenstichs. Das kannte ich.


Neugierige Nachbarn beobachten wie Dave seinen verletzten Fuss in heissem Seifenwasser schrubbt.
Neugierige Nachbarn beobachten wie Dave seinen verletzten Fuss in heissem Seifenwasser schrubbt.

Gesagt getan. Die Hotelangestellten brachten einen Eimer heißes Wasser und Seife und eine Bürste. Währenddessen hatte ich an der Einstichstelle gesaugt, um schon etwas von dem Gift aus dem Blutkreislauf herauszubekommen. Dann bürstete ich mit Seife den Fuß, bis er ganz rot war.

David ließ alles bereitwillig über sich ergehen. Er hatte bestimmt schlimme Schmerzen und war ganz blass, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Nach der Prozedur war er aber dennoch froh, dass er sich aufs Bett legen und ausruhen konnte. Ich hatte nicht einmal Aspirin oder andere Schmerzmittel bei mir, die ich ihm hätte geben können. Aber so wie ich ihn kenne, hätte er die Tabletten ohnehin nicht genommen.

Langsam entspannten wir uns und waren bereit nun auf Besserung zu warten.


Doch bald darauf klopfte es. Zwei der Hotelangestellten standen vor der Tür. Sie wollten mit mir sprechen. Sie seien nicht einverstanden mit dem, was der Hotelbesitzer vorgeschlagen hatte. Er sei nicht von hier, er sei aus Spanien und kenne die einheimischen Sitten und Gebräuche nicht. Er könne auch nicht einschätzen, wie gefährlich so ein Stachelrochen sein konnte. Sie schlugen vor, ich sollte zum örtlichen Heiler gehen. Der könne mich richtig beraten, denn er wisse Bescheid, wie man mit solchen Stichen und anderen Beschwerden umzugehen habe. Sie würden mich zu ihm bringen und ihn mir vorstellen.

Ich folgte den beiden jungen Frauen und war gespannt, was kommen würde.

Der Heiler lebte in einer kleinen Hütte am Ende des Dorfes. Ich musste mich ducken, um durch die niedrige Tür die Hütte zu betreten. Der alte bärtige Mann, der am Tisch saß und mir als der Heiler vorgestellt wurde, war wahrscheinlich nicht so alt wie er aussah. Ich schätzte ihn auf so um die 60, also nur ein paar Jahre älter als ich damals.

Wir saßen in einer Art Wohnzimmer. In der Ecke war eine alte Kommode mit Schubladen. Ich hatte erwartet, dass der Heiler von Kräutern, Wurzeln, Tinkturen usw. umgeben sein würde. Aber nichts dergleichen war zu sehen.

Die beiden jungen Frauen berichteten dem Heiler von David’s Verletzung und baten ihn in meinem Namen um Hilfe.

Er wiegte nachdenklich seinen Kopf hin und her. Schließlich gab er mir zu verstehen, dass eine Einlieferung ins Krankenhaus nicht nötig sei. Er könne helfen. Dann öffnete er eine Schublade und wühlte in den Medikamentenpackungen, bis er das fand, was er in diesem Fall für hilfreich erachtete. Er gab mir ein kleines Fläschchen und eine Spritze und erklärte mir, ich solle die Spritze mit der Flüssigkeit aus dem Fläschchen aufziehen und sie David in den unteren Rücken nahe der Wirbelsäule spritzen. Mit großen Augen sah ich ihn an und vergewisserte mich, dass ich ihn richtig verstanden hätte. Ich sollte meinem Mann eine Spritze mit einem völlig unbekannten Medikament setzen?

Ja, genau das. Er bestätigte es nochmals. Die Schmerzen würden dann schnell vergehen und bald könne mein Mann wieder laufen. Auf meine Frage, wieviel ich denn von dem Medikament spritzen sollte, bedeutete er mir so ungefähr 2-3 cm von der Flüssigkeit in dem Fläschchen.

Die Konsultation kostete mich inklusive Medikament 5 US$. (In Dollar bitte, nicht in der einheimischen Nicaraguanischen Cordoba-Währung! Schließlich war ich ja eine Gringa mit Dollar im Geldbeutel und Dollar waren immer willkommen) Danach wurden wir schnell hinauskomplimentiert und ich stand verblüfft auf der Straße. Die jungen Frauen waren zufrieden mit sich und ihrer Vermittlerrolle, überzeugt dass der Heiler mir helfen konnte.

Ich jedoch war in höchstem Maße alarmiert, denn ich hatte die Aufschrift auf dem Medikamentenfläschchen gelesen. Es war eine Epidural Steroid Medikation, die normalerweise von Ärzten oder ausgebildeten Krankenpflegern in den Epiduralraum um das Rückenmark gespritzt wird. Das Medikament wird zur Schmerzlinderung und als lokale Anästhesie während Geburten, Kaiserschnitt oder bei bestimmten Arten von Operationen verabreicht oder auch bei starken Rückenschmerzen, die durch einen Bandscheibenvorfall oder durch Ischias verursacht werden.

Ich wollte mir zwar das Medikament noch genauer in aller Ruhe ansehen (einen Informationszettel gab es dazu leider nicht), dachte aber nicht im Traum daran, meinem geschätzten Ehemann dieses Mittel zu verabreichen. Die Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen bei unsachgemäßem Gebrauch waren, so weit ich wusste, gefährlich und konnten zu allergischen Reaktionen, zu kurzfristigen oder auch permanenten Nervenschädigungen und Lähmungen führen.

Ich konnte nicht begreifen, wie leichtfertig dieser Heiler solche Medikamente nicht nur selbst verabreichte, sondern sie an Menschen wie mich weiter gab, die nicht im Geringsten qualifiziert waren, solche Injektionen zu geben. Das war unverantwortlich und verdammt gefährlich.

Ich weiß, solche Methoden sind weit verbreitet in Entwicklungsländern, in denen der Zugang zu Ärzten schwierig ist. Dennoch konnte ich das nicht einfach hinnehmen. Ich nahm mir vor, diese Praxis später mit einer mir bekannten nicaraguanischen Ärztin zu besprechen, die im Gesundheitsministerium arbeitete. Vielleicht konnte sie eine entsprechende Fortbildung der Heiler oder zumindest der Gemeindekrankenschwestern anregen.

Zurück im Hotel zeigte ich David die Spritze und das Medikament und gab vor, ihn damit behandeln zu wollen. Trotz seinen Schmerzen rannte er mir davon und ich jagte ihm mit meiner Spritze durchs Hotelzimmer hinterher. Nein. Keine Angst. Das hätte ich ihm niemals angetan. Mittlerweile ging es ihm auch schon etwas besser und wir konnten die Gestaltung unseres Silvesterabends in Angriff nehmen.


Gerade als wir uns auf den Weg in ein Restaurant machen wollten, ging das Licht aus. Er war stockfinster. Nicht nur in unserem Hotelzimmer und im Hotel. Der ganze Ort war in Finsternis getaucht. Aus Erfahrung wussten wir, dass es in Nicaragua sinnvoll ist, immer Kerzen oder Taschenlampen bereit zu halten. Also zündeten wir eine Kerze an und warteten erst einmal ab.

Es blieb jedoch dunkel und nach einer Stunde waren wir so hungrig, dass wir uns dennoch auf den Weg in den Ort machten.

Wir humpelten, David auf mich gestützt, die Straße entlang. Es war stockfinster. Nicht einmal ein Mond, der uns hätte leuchten können. Die einzigen Lichter waren Kerzen oder Feuerstellen in den Hütten, an denen wir vorbei kamen. Einige Bewohner schaukelten im Dunkeln auf ihrer Terrasse in ihren Schaukelstühlen und riefen uns einen Gruß zu. Offensichtlich hatten die Einheimischen wesentlich schärfere Augen als wir, denn wir sahen kaum etwas.

Nur die Taschenlampe zeigte uns den Weg. Als wir an unserem Lieblingsrestaurant, Salinas, ankamen, sahen wir in der Küche ein Kerzenlicht flackern. Der Koch und sein Helfer bereiteten offensichtlich bei dieser spärlichen Beleuchtung Essen vor. Die Küche funktionierte also, wenn auch rudimentär.


Was war passiert? Der Besitzer wusste Bescheid. Ein Betrunkener, der am Strand mit seinen Freunden zu viel gefeiert hatte, sei auf dem Nachhauseweg nach Leon mit seinem Auto gegen einen Strommasten gerast und hatte damit die Stromversorgung der gesamten Region lahmgelegt. Es bestehe keine Chance, dass an diesem Silvesterabend noch ein Ingenieur kommen und den Schaden reparieren würde. Das sei erst am nächsten Morgen bei Tageslicht möglich, erfuhren wir. Die ganze Region würde also Silvester im Dunkeln verbringen müssen.

Okay, dann machen wir das Beste daraus, sagten wir uns. Wir bestellten etwas zu trinken und zu essen und setzten uns auf die Veranda des Restaurants und harrten der Dinge, die da kommen würden. Mit dem Bier kam eine kleine dünne Kerze, die jedoch viel zu schnell herunterbrannte. Sie würde uns nicht lange leuchten.


Dann kam der Fisch, den wir bestellt hatten. Wir trauten unseren Augen nicht, aber nicht wegen der Dunkelheit, sondern wegen der Üppigkeit des Mahls. Wir hatten erwartet, dass der Koch in seiner schlecht beleuchteten Küche bei Kerzenschein nur notdürftig improvisieren könne. Was wir hier jedoch vor uns hatten, war ein ungefähr 50 cm langer knusprig gebratener Fisch mit dem üblichen Krautsalat, schwarzen Bohnen und gebratenen Plantanenchips als Beilage. Das war beeindruckend! Großartig! Das war mehr als genug für uns beide. Das Wasser lief uns im Mund zusammen. Wir machten uns hungrig über den Fisch her. Doch das schwache Kerzenlicht reichte nicht aus, um eventuelle Gräten zu erkennen. Aber David hatte eine Idee. Schlauerweise hatte er eine Kopftaschenlampe eingesteckt. Die war nun sehr hilfreich. Wir rückten näher zusammen und beim Schein seiner Taschenlampe auf dem Kopf genossen wir unseren Fisch.


Mittlerweile waren, durch unser Kerzenlicht oder den Schein der Taschenlampe angezogen, noch weitere Gäste ins Lokal gekommen. Auch sie waren kreativ. Beim Schein ihrer Handys genossen sie ihr Bier und ihr Silvestermahl.

Wir lobten den Koch und Restaurantbesitzer für das gute Essen. Er freute sich, dass es uns geschmeckt hatte und wir uns nicht durch den Blackout haben abhalten lassen. Er war aber auch sehr verärgert. Er hatte viel Geld und Mühe in die Vorbereitungen in ein Silvestermahl gesteckt, von Krabbencocktails bis Lobster und viele andere Köstlichkeiten. Aber nur wenig Gäste waren zum Essen gekommen. Die meisten waren wohl frustriert bereits ins Bett gegangen. Er wolle jetzt das Restaurant schließen, denn nun würde keiner mehr kommen, meinte er enttäuscht.

Zu normalen Zeiten hätte man man das Essen einfrieren können, aber bei einem Blackout geht das nicht. Der Fisch und all die Meerestiere mussten am Morgen leider weggeworfen werden. Der Besitzer war wütend. Das würde dem betrunkenen Autofahrer teuer zu stehen bekommen. „Warte Bürschchen, das wirst du bereuen!", drohte er und rechnete in Gedanken bereits den Schadensersatz aus, den er von ihm einfordern wollte.


Wir machten uns langsam auf den Heimweg. Gestärkt durch Bier und Fisch ging es David noch viel besser. Das Bein tat nicht mehr so weh und er hinkte nur noch leicht.

Als wir in die Nähe unseres Hotels kamen, staunten wir nicht schlecht. Wir sahen Licht und hörten Musik. Hatte das Hotel einen Generator?

Nein. Die Lösung des Rätsels war einfacher. Der Hotelbesitzer tanzte mit seiner Freundin im Schein seines Pickup-Auto-Scheinwerfers zu Musik, die aus dem Autoradio kam. Genial! Die Stimmung war gut. Eine Gruppe von Nachbarskindern saß auf der Mauer und schaute neugierig dem Spektakel zu. Die beiden Feiernden luden uns zu ihrer Party ein.

Und so kam es, dass wir am Ende eines ereignisreichen Tages, sechs Stunden nachdem David von einem Stachelrochen gestochen und ihm der Fuß nicht abgenommen worden war, im Schein eines Autoscheinwerfers zu Salsa Musik aus dem Autoradio tanzten.

Es war alles gut. So konnten wir trotz aller Widrigkeiten das alte Jahr, das uns an seinem letzten Tag noch ordentlich Schwierigkeiten bereitet hatte, gebührend verabschieden und das neue lachend und tanzend begrüßen.


Das war wirklich eine unvergessliche Silvester Nacht. Sie wird uns lange in Erinnerung bleiben.

(LL)

Comentarios


20200429_074336.jpg

Wollen Sie über neue Beiträge informiert werden?

Dann tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse unten ein. Danke!

Danke!

bottom of page