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Ein Leben auf der Suche

  • Autorenbild: anon
    anon
  • 20. Nov. 2022
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Juni 2023

(DE) Wenn ich es mir genau überlege, dann bin ich eine Parzival. Ja, ja, ganz richtig, Parzival, aber weiblich.

Parzival, der junge Tor, der nach einer Begegnung mit Rittern in glänzenden Rüstungen nur noch ein Ziel kennt, ebenfalls ein prächtiger mächtiger Ritter zu sein, benimmt sich auf dem Weg dahin lächerlich, rücksichtslos und selbstherrlich. Er hält sich schon frühzeitig, nach dem Anlegen der mit Gewalt eroberten Rüstung, für einen Ritter und zieht kampfeslustig umher. Das Narrengewand unter der Rüstung bestimmt aber seine Wahrnehmung der Welt und auch sein Handeln.

Ja, so könnte man den Start in mein Erwachsenenleben beschreiben. Ich träumte davon, eine dieser Roman- und Filmfiguren der 50er und 60er Jahre zu werden. Eine schöne und eigenwillige sexy Frau, die weiß, was sie will und den Sinn des Lebens sowie die Liebe ihres Lebens findet.

Vorbilder
Die Frauen in meiner Familie entsprechen dem Idealbild der 50er Jahre.

Die Arzt- und Adelsromane meiner Großmutter sowie die Heimat- oder Doris-Day-Filme dieser Zeit befeuerten meine Vorstellung vom zu findenden Glück. Mein heiliger Gral.

Eine hübsche junge Frau zu sein, war einfach und ich wurde begehrt, aber unabhängig war ich ganz sicher nicht und ich hatte außer meinem kitschigen Bild vom Glück keine Ahnung davon, was ich eigentlich wollte, worin der Sinn des Lebens bestehen könnte.

Was meine Eltern vorlebten, war die Freude am Konsum. Moderne Wohnungseinrichtung, tolle Kleidung, gutes Essen, schickes Auto, Italienreisen und eben alles, was so nach und nach auf den Markt kam. Aber sie hatten ganz offensichtlich das Glück nicht gefunden. Weder liebten sie ihre Berufe und fanden darin Erfüllung, noch liebten sie einander oder unsere Familie. Höchstens das Bild, das wir nach außen abgaben, erfüllte ihr Leben mit etwas, das man als Sinn bezeichnen könnte. Also waren nur die Vorstellungen von Schriftstellern und Regisseuren für meine Suche zu gebrauchen. Und die erschufen hohe Ansprüche und gigantische Erwartungen oder abschreckende Szenarien von verpfuschten Leben, die es zu meiden galt. Schwarz-Weiß. Ähnlich wie bei Parzival war meine Unterweisung in Sachen Leben teilweise recht missverständlich und realitätsfern.


In der Schule und in meinem familiären Umfeld stellte ich meine Coolness demonstrativ zur Schau. Dahinter verbargen sich Fragen und die Suche nach Orientierung.


So zog ich also umher, immer auf der Suche nach Erfüllung in Beruf und Liebe und das auf hohem Niveau.

Von meiner Flucht aus einer todlangweiligen Lehre in eine akademische Ausbildung habe ich ja an anderer Stelle erzählt. Aber war ich jetzt auf meinem Weg? Wusste ich nun, was ich wollte oder hatte ich nur gewusst, was ich nicht wollte?

Tapsende Schritte ins Leben

Mein Freundeskreis, einschließlich der jungen Männer, die ich jeweils für die Liebe meines Lebens hielt, studierten, also studierte ich auch. Über das Was, machte ich mir keine großen Gedanken. Derjenige meiner Freunde, der besonders begeistert von seinem Studium war, diente mir als Vorbild. Ich war ja an Bilder gewöhnt, sie hatten mich geleitet. So studierte ich Germanistik, Geschichte und Sozialkunde für das Lehramt an Gymnasien. Dass ich durch meinen schulischen Werdegang gar nicht die Voraussetzungen (Latinum) für dieses Studium hatte, focht mich nicht an. Bei dem Versuch, diesen Mangel zu beheben, scheiterte ich kläglich. Wie gut meinte es das Schicksal mit mir, dass ich mit einem jungen Mann, schon wieder einer Liebe meines Lebens, nach Berlin gehen konnte, wo man kein Latinum für Germanistik und Sozialkunde brauchte.

Entwurzelung

Aber die Entwurzelung führte nicht in die Unabhängigkeit und zu einer Sinnsuche frei von Zwängen und Konventionen. Die Angst vor dem Alleinsein war größer denn je. Ich suchte den Sinn immer weniger im Beruflichen, viel mehr in der Beziehung und im Familiären.

Die Sinnfrage stellt sich erst einmal nicht mehr!

Es war nicht gewollt, aber sicherlich auch nicht ganz ungewollt, dass ich noch vor dem Staatsexamen schwanger wurde und einen Sohn bekam. Mutter und Kind sind schon mal eine Familie. Und nach dem Sinn des Lebens muss man erst einmal auch nicht mehr suchen, der liegt im Gitterbettchen und schreit.

Obwohl ich mein Studium dennoch erfolgreich abschließen konnte, hatte der berufliche Werdegang vorerst keine Priorität.

Von der Vorstellung einer heilen Welt in der Kleinfamilie wollte ich mich aber nun trotzdem vehement absetzen. Der Zeitgeist, gebündelt in Literatur und Film, gebot das Überwinden von Konventionen. Aber was sollte die Alternative sein? Wie wurde man jetzt glücklich?

Alternative ohne Gralsversprechen

Wir bildeten eine Wohngemeinschaft mit Freunden, die auch ein gleichaltriges Kind hatten. Eine Heirat und ein Leben in der Kleinfamilie kam für mich nicht in Frage. Naja, mein Beitrag zur Revolutionierung der konventionellen Doris-Day-Ideale. Und ich suchte nach einer Tätigkeit jenseits der Kinderaufzucht.

An der Volkshochschule konnte ich zwei bis vier Mal pro Woche Deutsch als Zweitsprache bzw. Fremdsprache unterrichten. So war auch eine ideologisch fragwürdige, aber finanziell sinnvolle Heirat irgendwie zu verschmerzen. Und auch das Scheitern der Wohngemeinschaft als Lebenskonzept musste ich hinnehmen und war darüber, ehrlich gesagt, nicht sehr traurig. Wir lebten nun eng befreundet, aber getrennt in Kleinfamilien.

Zurück auf Anfang? Ich wurde krank. Zu Beginn unserer Anti-Kleinfamilien-Aktion musste mir ein Eierstock entfernt werden, nach der Rückkehr in ein konventionelleres Leben, amputierte man auch den zweiten Eierstock. Verwirrt und orientierungslos begann ich erneut an meinem Lebenskonzept zu basteln.

Waren wir eine glückliche Familie? Nein! War er die Liebe meines Lebens? Nein! War ich unabhängig? Nein! Wusste ich, was ich wollte? Ja! Den heiligen Gral des Lebens finden. Und da, wo ich war, war er ganz offensichtlich nicht! Ich hatte nun nicht einmal mehr die geringste Ahnung, wie er eigentlich aussehen sollte!

Die Widersprüchlichkeit in meinen Vorstellungen und Erwartungen habe ich damals nicht gesehen. Einerseits wollte ich Selbständigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Großes leisten, mit meinem Kind im Arm, geborgen in einer Gruppe von Gleichgesinnten, also das Ideal der 68er und später. Andererseits suchte ich Liebe, Geborgenheit, Familie, das kleine Glück in der Beziehung, also das Ideal meiner Kindheit, das sich mir in Filmen, niemals im realen Leben gezeigt hatte.

Neustart – nächster Versuch

Also hieß es aufbrechen und weiter suchen! Trennung, neue Beziehung, Umzug, eine neue Aufgabe.

Als Reporterin und Redakteurin hat man ein wenig Einfluss.

Ich begann Artikel zu schreiben und übernahm schließlich die Redaktion eines Anzeigenblattes und machte es zu einer auch redaktionell anerkannten Wochenzeitung in der Region. In meinen Berichten und Reportagen konnte ich auf Probleme aufmerksam machen, über politische Prozesse berichten, Kunst und Kultur kommentieren, Pressekonferenzen besuchen und dort Fragen stellen, Kommunal- und andere Politiker oder Stars interviewen. Das macht doch Sinn!

Ziel erreicht? Nach der ersten Euphorie, die durchaus ein paar Jahre andauerte, war klar, dass ich nicht wirklich etwas bewirken und gestalten konnte. Dazu war dieses regionale Anzeigenblatt zu klein und unbedeutend. Im Wesentlichen blieb alles beim Alten. Ich suchte in der Politik, Kunst und in der Esoterik nach Lösungen für die drängende Sinnfrage. Richtig fündig wurde ich nicht, aber es gab Ansätze.

Auch die Beziehung entsprach nicht meinen in sie gesetzten Hoffnungen. Lebensglück, Fehlanzeige! Wieder war nichts von der Gemeinsamkeit zu spüren, von der ich gelesen und die ich in Filmen gesehen hatte. Selbst Beauvoir und Sartre erschienen mir noch harmonischer als ich und mein Mann. Die Liebe meines Lebens war sogar zum Alptraum meines Lebens geworden.

Und da passierte etwas, das mich innerlich aus der Bahn warf. Ich wurde krank.

Krankheit – weiterer Versuch

Nach einer größeren Operation, in deren Vorfeld sich durchaus die Überlebensfrage stellte, war ich fähig, meinem unguten Lebensgefühl Taten folgen zu lassen.

Nach einigen halbherzigen Versuchen, nicht alle Brücken hinter mir abzubrechen, befand ich mich in der Lehrerausbildung in einer anderen Stadt, lebte dort mit meinem Sohn und einer Kollegin in einer Wohngemeinschaft und hatte mich von allem getrennt, was bedrückend gewesen war. Allerdings wurde nun offensichtlich, dass diese Suche und die damit verbundenen Orts- und Berufswechsel einen Preis hatten. Ich verlor auch Freunde und Möglichkeiten, die ich gemocht und genossen hatte.

Doch selbst dieses Abenteuer, das ich nun im Alter von 40 erlebte, brachte mich nicht an mein Ziel. Der heilige Gral des Lebensglücks war in seiner Gestalt so nebulös wie zu Beginn meiner Reise.

Ich erreichte mein Ziel, ausgebildete Lehrkraft mit zweitem Staatsexamen zu sein, aber ich erhielt aufgrund meines Alters und meines Berliner ersten Staatsexamens keine Stelle in Bayern.

Von nun an waren die Stationen meiner Reise, an denen ich aussteigen und umsteigen musste, nicht unbedingt frei gewählt. Aber die Hoffnung, den Gral zu finden, begleitete mich immer.

Sachzwänge – mehrere Versuche

Ich verkaufte zwei Jahre lang am Hauptbahnhof bei der Internationalen Presse Zeitungen, leitete zwei Jahre später Lehrgänge einer gemeinnützigen Einrichtung für Randgruppenjugendliche zum Erwerb eines Schulabschlusses. Musste wiederum ein paar Jahre später in die Freiberuflichkeit gehen und als Texterin und online-Redakteurin für Unternehmensberater arbeiten. Als die Konjunktur einbrach und die Unternehmen zu sparen begannen, musste ich mich arbeitslos melden. Schließlich konnte ich an einem städtischen Gymnasium einen Zeitvertrag als Teilzeitlehrkraft erhalten. Ich verdiente so viel wie ich Arbeitslosengeld bekommen hätte, aber ich tat etwas Sinnvolles. Die Schüler waren vielleicht teilweise anderer Meinung, aber nun gut. In meiner Geburtsstadt fand ich nach dem Auslaufen meines Zeitvertrages eine Anstellung an einer Privatschule. Allerdings konnte ich nach eineinhalb Jahren die Ausbeutung nicht mehr ertragen und oberflächlicher zu arbeiten, um nicht zusammenzubrechen, ist mir nicht gegeben. Es waren wöchentlich so viele Unterrichts- Vertretungs- und Betreuungsstunden zu leisten, dass ich nur noch mit Mühe Zeit für Vorbereitung und Korrekturen fand. Meinem Anspruch konnte ich so auf Dauer nicht gerecht werden.

Also bemühte ich mich wieder um eine Stelle an einer städtischen Schule in einer größeren Stadt.

Der Gral – zum Greifen nah

An der städtischen Gesamtschule kam ich dann dem heiligen Gral am nächsten. Ich durfte Unterricht ziemlich frei gestalten, in Teams mit offenen und kreativen Kollegen und Kolleginnen arbeiten, sowie Freundschaften schließen. Der familiäre Hintergrund der Schülerschaft war oft problematisch, Leistungsfähigkeit und Lernwilligkeit waren häufig gering und die Eltern oftmals nicht wirklich erreichbar. Aber wir kämpften um jede Schülerin und um jeden Schüler. Erfolge stellten sich durchaus ein. Das machte Freude, das machte Sinn! Allerdings bereitete ein Führungswechsel meinem Engagement ein vorzeitiges Ende. Ich konnte mich einfach nicht an die Ausschließlichkeit widersinniger Lehrmethoden und an ein Klima des Zwangs und der Angst anpassen.

Also bat ich wie so viele andere Mitglieder des Kollegiums um Versetzung, die fast allen bewilligt wurde. Aber nun war ich in der Welt eines normalen Gymnasiums gelandet, in der Lehrkräfte z.T. schon ein Berufsleben lang arbeiteten, Veränderungen nicht so gern gesehen wurden, Teamarbeit kein Thema und die Unterstützung einer neuen Kollegin sehr begrenzt war. Eltern waren nun durchaus präsent, aber oftmals fordernd und misstrauisch der Lehrkraft gegenüber.

Einzig das vom Direktor initiierte Projekt, ausländische Kinder und Jugendliche ins reguläre Schulsystem, sogar ins Gymnasium zu integrieren, war wieder nach meinem Geschmack. Es machte Sinn. Ich sollte es anleiten, konzipieren und das Team führen. Ja, das kam dem heiligen Gral wieder nah. Dieses Pilotprojekt hochzuziehen, war mir eine große Freude, aber auch sehr viel Arbeit. Nun, im Alter von 63 Jahren, konnte ich nach all den Jahren der ständigen Neuanfänge diese Leistung gerade noch ein Jahr lang erbringen. Aber meine Kraft schwand. Ich fühlte, dass ich diesen heiligen Gral nicht mehr wirklich in Händen halten würde.

Den Traum von der Liebe des Lebens hatte ich schon Jahrzehnte vorher aufgegeben und nun auch noch den Traum vom Sinn meiner Arbeit, von einer wirklich großen bleibenden Leistung. Meine Zeit war vorbei. Es brach mir das Herz, besser gesagt, ich erlitt in den ersten Ferientagen des Jahres 2016 einen Herzinfarkt.

Am Ende der Suche

Ich habe überlebt, aber ich kehrte nie mehr zurück.

Wenn ich auf mein Leben zurück blicke, sehe ich eine Frau, die mehrere Berufe erfolgreich ausgeübt hat, was aber nie zum erträumten Ziel führte. Beziehungen waren nicht einmal annähernd erfolgreich. Schließlich konnte sie die meiste Zeit ihres Lebens nicht einmal an einem Ort verweilen.

Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr ca. 20 Mal umgezogen und ich habe nicht das Gefühl, je auf der Gralsburg gelandet zu sein. Hier endet die Nähe zur Suche Parzivals. Er findet zum wahren Rittertum, gründet und lebt in einer glücklichen Familie, erweist sich des Grals für würdig…

Ich hingegen habe weder den Sinn noch die Liebe meines Lebens entdeckt, also meinen heiligen Gral nicht gefunden. Ich habe immer gesucht und niemals wirklich aufgegeben. Und, das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen, ich bin nicht der Meinung, dass der Weg das Ziel sein kann.

Würdigung der Suche

Aber habe ich Grund mich zu beschweren? Bei wem auch immer.

Ja, ich habe keinen festen Boden unter meinen Füßen. Ja, ich habe das Lebensglück in vielerlei Hinsicht, aber vor allem im Sinne meiner etwas naiven Vorstellungen, nicht gefunden. Ja, ich bin nicht die geworden, die ich mir vorgestellt hatte. Ja, ich habe alle Träume meiner Jugend losgelassen.

Aber ich bin jemand, der noch immer zu lernen bereit ist.

Ich habe mein Leben mit Hoffnungen auf die Zukunft verbracht und lerne nun im Alter von 67 Jahren in der Gegenwart zu leben.

Ich versuchte ein Leben lang meine Vorstellungen von Leben und Liebe zu verwirklichen. Heute bemühe ich mich, keine Vorstellungen mehr zu entwickeln, um mal zu schauen, was es noch so gibt für mich.

Ich habe vielfältige Erfahrungen, Erkenntnisse und Kenntnisse in meinem Rucksack und das ist auch eine Last, aber hauptsächlich ein Schatz. Ich möchte ihn anschauen, das Schöne würdigen, das Nützliche benutzen und das Nutzlose entsorgen. Vielleicht ist mein heiliger Gral darunter und ich hab ihn im Eifer des Gefechtes meines Lebens bloß nicht entdeckt. (TA)

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