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Der Zirkusprinz

  • Autorenbild: anon
    anon
  • 27. Dez. 2022
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Juni 2023

DE) Vor einigen Monaten hatte ich meinen Job als Sozialarbeiterin gekündigt. Ich war müde und ausgebrannt und hatte es satt, mich um die Probleme anderer Menschen zu kümmern. Schließlich hatte ich genügend eigene, die gelöst werden mussten.


Außerdem wollte ich endlich mal wieder leben, Spaß haben, Freunde und Freundinnen treffen, ohne Gewissensbisse ausgehen bis in die Puppen und nicht dran denken, dass ich am nächsten Morgen früh aufstehen und fit sein muss. Der Sommer nahte und ich wollte alles Versäumte nachholen. Viel draußen sein, zu Fuß oder mit dem Fahrrad durch die Gegend streifen und die Natur genießen. Sobald die Temperaturen es zuließen, würde ich an meinen Lieblingsweiher im Wald fahren, um nackt zu schwimmen und danach stundenlang in der Sonne zu dösen. Am Abend, wenn ich nahtlos braun und erholt nach Hause zurückgekehrt war, würde ich ein leckeres Essen zubereiten und den Tag zusammen mit meinem Mann und einem Glas Wein im Garten ausklingen lassen. Auch würde ich wieder mehr auf mein Äußeres achten: mich ausgiebig pflegen, mal wieder zum Friseur gehen, mehr Zeit in Sport und Yoga investieren, um meine vernachlässigten Muskeln zu stählen, wieder öfter ausgefallene Klamotten tragen und vieles andere mehr… So war mein Plan.

Der Spruch, „Willst Du Gott zum Lachen bringen, dann sprich mit ihm über deine Pläne“, traf mich mit voller Wucht.

Es gab jetzt nichts mehr, das mich von den Problemen in meinem eigenen Leben ablenkte. Oft hatte die Belastung durch meinen Job eine gute Ausrede geboten, um mich nicht mit noch unliebsameren Dingen beschäftigen zu müssen. Nicht nur die Arbeit war jetzt futsch, sondern auch mein Einkommen.

War ich schon in meinem Job keine Großverdienerin gewesen, so musste ich jetzt also mit noch wesentlich weniger Geld auskommen. Na gut – damit hatte ich wenigstens gerechnet und wenn ich mich etwas einschränkte, würde ich schon zurechtkommen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass ich meinen über Jahre eingeschliffenen Rhythmus nicht so ohne weiteres ablegen konnte. Selbst nach mehreren Wochen wachte ich immer noch jeden Morgen spätesten um 6.00 Uhr auf.


Das Licht drang selbst durch die geschlossenen Rollos und das unverschämt muntere Gepfeife der Vögel ging mir so auf die Nerven, dass ich resigniert aufgab und den Tag schon müde begann. Meist blieb ich noch eine Weile im Bett, setzte mich auf und wartete, bis die Haustür ins Schloss gefallen war und mein Mann sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte. Ich wollte ihm nicht schon morgens missmutig und schlecht gelaunt über den Weg laufen. Ich schlich mich täglich am Crosstrainer vorbei und ignorierte, dass ich meine Tage ursprünglich immer mit dem Sonnengruß hatte beginnen wollen. Stattdessen begab ich mich erstmal hinunter in die Küche. Das Frühstücksgeschirr meines Mannes war wie immer noch nicht abgeräumt und die Tageszeitung lag zerfleddert und mit Kaffeeflecken und Bröseln versehen auf dem Tisch. Die Katze blickte mürrisch maunzend durch die Terrassentür und wartete auf Futter.

Ich setzte Kaffeewasser auf und hätte mir am liebsten schon jetzt eine Zigarette angezündet. Tja – aber auch dieses Laster wollte ich eigentlich aufgeben, sobald es mit dem Berufsstress vorbei wäre. Also verkniff ich es mir, schaltete das Radio ein, brühte frischen Kaffee auf und kaute langsam auf meiner Marmeladensemmel herum, während ich die regionalen Nachrichten und die Todesanzeigen in der fleckigen Zeitung überflog. Keine besonderen Ereignisse, alles ging seinen gewohnten Gang.

Die Wettervorhersage für die kommenden Tage war nicht unbedingt berauschend. Es sollte ein verregneter Sommer werden und er wurde es auch. Wenn es gerade nicht regnete, dampfte die Erde und es wurde schwül und drückend. Im Garten wucherte und wuchs alles in erschreckendem Tempo. Das dichte, satte Grün der Bäume, Efeu, der bereits die Baumwipfel erklommen hatte und alles umschlang und erdrückte!

Der Knöterich war offenbar eine Allianz mit dem wilden Wein eingegangen und hatte den alten Geräteschuppen fast vollständig eingehüllt. Selbst im Inneren der Holzhütte wuchsen die Triebe in einem wilden Gewirr zwischen den Ritzen weiter. Dem Gras konnte man förmlich beim Wachsen zusehen und überreife, dicke Kornäpfel ploppten zu Boden.

Myriaden von Wespen freuten sich über die schnell faulenden Leckerbissen.


Es kam mir vor, als riefe alles höhnisch: „Wo bleibst du? Mach endlich, hol die Machete raus, wirf den Rasenmäher an, komm in die Puschen, du hast doch jetzt alle Zeit der Welt!“


Meinen Mann störte das alles überhaupt nicht. „Unsere grüne Hölle!“, rief er lachend, wenn er abends von der Arbeit zurückkam, öffnete sein wohlverdientes Feierabendbier und ließ sich im Liegestuhl nieder.

Überhaupt – seit ich zu Hause war, vergaß er oft und gerne, dass auch er einen Beitrag zur Hausarbeit zu leisten hatte. Um die Harmonie nicht zu gefährden, schluckte ich viel runter in dieser Zeit. Streit war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte. Also tat ich, was ich konnte und wofür meine Kraft ausreichte, und fand mich mit den Gegebenheiten ab. Schließlich hatte ich selbst es so gewählt.


Die Tage zogen einförmig und ereignislos an mir vorüber, wie Wolken, die der Wind vor sich hertreibt. Manchmal traf ich mich mit einer Freundin in der Stadt, um ein Glas Wein in einem der zahlreichen Straßencafés zu trinken. Aber die meisten meiner Freunde waren mit ihren Kindern und Familien in die Ferien irgendwo ans Meer gefahren. Ich fühlte mich oft einsam und nutzlos.


Die schwülen Tage wurden langsam weniger und manchmal, wenn ich morgens die Küchenabfälle zum Komposthaufen in den versteckten Teil des Gartens brachte, roch es schon nach Herbst.

Das Licht änderte sich und man spürte, wie die Tage kürzer und die Abende kühler wurden. Es machte mich wehmütig und sentimental, dass ich mich vom Sommer verabschieden musste. Manchmal versuchten wir, dem nahenden Herbst noch ein wenig zu entfliehen und verbrachten ein paar Tage in südlicheren Gefilden. Aber in diesem Jahr war eben manches anders.


Ich glaube es war ein Tag Ende Oktober, als ich im Keller Wäsche aufhängte.

Noch bevor ich geduscht und mich für den Tag bereit gemacht hatte, stopfte ich die Schmutzwäsche in die Waschmaschine und überlegte, welche Arbeiten ansonsten noch anstanden. In jeder Ecke dieses Hauses lauerte Arbeit. Die fleckigen Wände glotzten mich an und bettelten um einen frischen Anstrich. Die Farbe an den Fensterläden war abgeblättert und musste dringend erneuert werden. Alles Dinge, die wir Jahr für Jahr vom Frühjahr auf den Herbst verschoben hatten. Jetzt wäre der Zeitpunkt günstig. Nicht mehr zu heiß, noch nicht zu kalt, es würde alles noch wunderbar trocknen und über Zeitmangel konnte ich jetzt wahrlich nicht mehr klagen.


Während ich so in meinen Gedanken versunken eine fertige Ladung Wäsche aufhängte, hörte ich Schritte auf der Treppe zum Eingang und schon schrillte die Klingel. Ich erwartete niemanden – wer sollte mich auch vormittags besuchen?


Gespannt eilte ich zur Haustüre und schloss auf. Vor mir stand ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er war von kräftiger Statur und hatte sein dunkles, mit Brillantine gefügig gemachtes Haar straff aus der Stirn gekämmt. Er hatte schön geschwungene Augenbrauen und einen offenen sympathischen Blick. Am markantesten an seiner Gestalt waren die dunklen Koteletten, die messerscharf ausrasiert über die Wangen, fast bis zum Kinn reichten. So einen Mann bekam man hier in unserer dörflichen Idylle äußerst selten zu Gesicht und mir war die Überraschung wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben.

Er grüßte mit einem Lächeln und entschuldigte sich dafür, dass er mich offensichtlich erschreckt habe.

In seinen Händen hielt er eine abgegriffene Plastikmappe, die er vor meinen Augen aufblätterte.

Er kam von einem Wanderzirkus, der ein Stück außerhalb unserer Siedlung sein Winterquartier aufgeschlagen hatte. Die Bilder in dem Ordner waren vergilbt und zeigten ein kleines Zirkuszelt, anrührend altmodisch und wie aus der Zeit gefallen. Dann folgten Bilder von ihm als Conferencier in einer Uniform mit goldenen Schnüren und Ornamenten über der Brust, auf einem weißen Pferd stehend, mit wehendem Umhang durch die kleine Manege reitend, dann als Jongleur – offenbar ein Zirkusprinz!

Andere Fotos zeigten eine Seiltänzerin, Clowns und einen Zauberkünstler, der dabei war, eine Dame zu zersägen. Auch sah man ein struppiges Dromedar, ein paar Esel, kleine Affen, die auf einem Gerüst herumturnten, sowie mehrere Ponys, die auf einer Koppel weideten.

Kurzum – er sammelte Spenden für Futter von Tier und Mensch, um den Winter ohne Vorstellungen und damit ohne Einkommen zu überstehen.


Tatsächlich hatte ich gerade – außer ein paar Münzen – kein Geld im Haus. Außerdem war ich selbst knapp bei Kasse und konnte mir eigentlich eine Spende kaum leisten. Dennoch war ich ein bisschen beschämt, als ich ihm meine Lage erklären musste. Er schien meine Worte nicht zu hören. Er sah mich nur mit ruhigen Augen an und lächelte. Dann sagte er einen Satz, der mir förmlich den Boden unter den Füßen wegzog: „Sie sind eine sehr schöne Frau. Darf ich Sie küssen?“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kam ins Stottern und Stammeln, mein Mund war trocken und ich schluckte, bevor die Worte aus mir heraus purzelten.

Nein, nein, nein! Gehen Sie um Himmels willen!


Als ich ins Haus zurückging, fiel mein Blick beim Vorübergehen in den Garderobenspiegel. Ich sah schrecklich aus. Heute Morgen war ich nur in eine alte, schlabbrige Jogginghose und in ein ausrangiertes T-Shirt geschlüpft. Meine langen Haare hatte ich achtlos zu einem Dutt hochgezurrt, der jetzt bereits im Auflösen begriffen war und schlampige Strähnen freigab. Auch geschminkt war ich nicht. Das machte ich meistens erst, bevor ich aus dem Haus zum Einkaufen oder sonst wohin ging. Einzig meine Augen hatten heute oder vielleicht auch erst in diesem Moment einen eigenartigen Glanz. Schön konnte ich nichts an mir finden….


Ich war verwirrt und aufgewühlt und amüsiert zugleich. Keine Ahnung, warum mich dieser fremde Mann so aus der Ruhe brachte. Wenn ich so aufgedreht bin und inneres Chaos ausbricht, hilft es mir manchmal, zu Staubsauger und Putzlappen zu greifen und so wenigstens für Ordnung in meinem häuslichen Umfeld zu sorgen. Ich machte Musik an, spürte alle Spinnweben mit dem Staubwedel auf, saugte alle Teppiche ab, schrubbte Bad und Küche, machte dazwischen ein Tänzchen mit dem Besen. Sogar für ein paar Fenster reichte meine Energie noch aus. Ich hatte viel geschafft und war zufrieden mit meinem Werk.

Ich war müde geworden und ein Blick auf die Küchenuhr zeigte, dass ich noch Zeit für ein kurzes Nickerchen hatte, bevor mein Mann aus der Arbeit zurückkam. Ich legte mich auf die Couch im Wohnzimmer, deckte mich zu und ich muss schnell und fest eingeschlafen sein.

Ich räkelte mich genüsslich und spürte, dass jemand neben mir lag und sich an meinen Rücken schmiegte. Eine Hand schob sich unter meine Taille und zog mich näher zu sich heran. Eine Hand streichelte sanft an meinem Oberschenkel entlang. Warmer, feuchter Atem strich über meinen Nacken, jemand schnupperte an meinen Haaren und hauchte in mein Ohr. Ein wohliger Schauer flutete meinen ganzen Körper. Langsam drehte ich mich um und blickte in ein braunes warmes Augenpaar. Unser Blick war wie ein Versprechen und tiefes Einverstandensein mit dem, was nun geschehen würde.

Unsere Lippen suchten sich mit unglaublicher Zartheit und Sanftheit. Wir hörten unseren Atem schwerer werden und die Welt um uns herum versank in einem leidenschaftlichen Kuss….


Erbarmungslos schrillte die Türklingel im Dauerton. Ich schreckte hoch und war schlagartig ernüchtert. Da war kein Zirkusprinz – mein Mann war in der Zwischenzeit von der Arbeit nach Hause gekommen und ich hatte ihn ausgesperrt. Ich eilte zur Haustüre und öffnete ihm noch schlaftrunken. „Was ist denn mit dir los?“, fragte er und ich antwortete: „Nichts, gar nichts! Ich bin auf der Couch eingeschlafen“. „Ah, ich seh´ schon, dass du heute fleißig warst, ist ja alles blitzeblank. Da hast du dir ein Nickerchen schon verdient. Zum Glück habe ich Pizza fürs Abendessen mitgebracht.“ Ja, wirklich ein Glück!


Noch oft dachte ich an den Zirkusprinzen. Was wäre passiert, wenn ich ihn hereingebeten hätte? Wenn wir uns wirklich geküsst hätten? Wie oft im Leben passiert es, dass ein Mann an der Haustür klingelt und einen küssen möchte?

Vergangenes Wochenende war ich mit meinem Mann im Supermarkt zum Einkaufen. Beim Ausgang war eine hölzerne Standtafel aufgestellt, auf der das Konterfei eines Clowns abgebildet war, der um Spenden für einen Wanderzirkus bat. Über seinem Bild war eine blecherne Kasse mit einem Schlitz für den Geldeinwurf befestigt. Ich hatte vergessen Geld einzustecken und bat meinen Mann, mir auszuhelfen. Er gab mir eine Zwei-Euro-Münze. Ich sagte: „Nein, bitte, es sollte schon ein Schein sein.“ Verwundert über meine Großzügigkeit, aber ohne zu fragen, steckte er mir einen Schein zu.

Als wir nach dem Abendessen ein Glas Rotwein tranken, erzählte ich ihm die Geschichte. (ML)




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