Der lange Weg zum Abschied in Zeiten von Corona und Brexit
- lisaluger
- 20. Nov. 2022
- 25 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Juni 2023
LL: UK/DE: Wann immer ich mich für ein paar Wochen oder Monate im außereuropäischen Ausland aufhalte, ob im Urlaub oder zum Arbeiten, habe ich dieses diffuse Angstgefühlt, jemand aus meiner Familie könnte krank werden und ich wäre nicht rechtzeitig zu Hause. Dank des Internets ist diese Angst etwas geringer, denn nun kann man über Kontinente hinweg in Kontakt und auf dem Laufenden sein. Außerdem habe ich, seit ich vor 25 Jahren nach London übergesiedelt bin, das Gefühl, mehr oder weniger fast um die Ecke zu wohnen und im Zweifelsfall den 17 Meilen breiten Ärmelkanal schnell und problemlos überqueren zu können.
Ich sollte im Frühling 2021 auf schmerzhafte Weise eines Besseren belehrt werden. Die Nachricht von der tödlichen Erkrankung meiner großen Schwester, die neuen Reisebedingungen aufgrund des Brexit und die Einschränkungen und Bestimmungen wegen der Covid-19-Pandemie erweckten meinen fast vergessenen Alptraum vom Zuspätkommen zu neuem Leben. Zuerst gelähmt und hilflos, dann verzweifelt und schließlich entschlossen, nahm ich den Kampf um die Möglichkeit einer letzten Begegnung mit meiner todkranken Schwester auf. Diese Geschichte vom langen Weg zum Abschied in Zeiten von Corona und Brexit möchte ich hier erzählen.
Pandemiebekämpfung und Großbritannien
Als mein Mann und ich im Februar 2020 von unserer dreimonatigen ehrenamtlichen Tätigkeit in Indien nach London zurück kehrten, begegneten wir der allgemeinen Covid-Hysterie noch mit Skepsis. In Indien war die Pandemie noch kein Thema gewesen, sondern andere existentielle Probleme beschäftigten die Menschen. Allerdings wurde uns die Brisanz des Themas Pandemie in meiner Wahlheimat und in Europa sehr bald klar.
Lockdown und Isolierung waren angesagt, um der Verbreitung des Corona-Virus Einhalt zu gebieten. In allen Ländern wurden mehr oder weniger strenge Regelungen eingeführt, Maßnahmen ergriffen und unter Androhung von Strafe durchgesetzt. Grenzen wurden geschlossen. Quarantäne, Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen bedeuteten, dass Freunde und Familien sich nicht oder nur begrenzt besuchen konnten. Reisen ins Ausland wurden untersagt. UK, das Land in dem ich lebe, ist aufgrund der zögernden, verspäteten und unzureichenden Maßnahmen der Regierung besonders hart betroffen. Wir haben hier die höchsten Infektionszahlen und die höchste Todesrate (derzeit nahezu 127.000) in Europa und eine Vielfalt von Mutationen, die das Virus unberechenbar machen. Kein Wunder, dass ganz Europa seine Grenzen für uns dicht gemacht hat, um das mutierte britische Virus fern zu halten. Vergeblich, wie wir heute, April 2021, wissen. Reisen ist strikt untersagt. Covid hat unser Leben verändert und das in einem Maße, wie wir uns das nie hätten vorstellen können.
Die schlechte Nachricht
Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wird meine Schwester todkrank und ich will sie besuchen und ihr beistehen. Die Ärzte haben bei ihr einen inoperablen Glioblastoma Gehirntumor Stufe 4 diagnostiziert, den aggressivsten aller Gehirntumore. Was für ein Alptraum! Es zerreißt mir das Herz, dass ich nicht zu ihr kann. Als Public Health Expertin weiß ich aber nur zu gut, wie wichtig alle diese Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind und ich bin immer aufgebracht über jede Person, die beim Einkaufen oder im Bus keine Maske trägt, beim Joggen den Abstand nicht einhält und, noch schlimmer, sich durchmogelt und sich trotzdem weiterhin mit Freunden trifft oder in Urlaub fährt, ungeachtet der möglichen fatalen Auswirkungen.
Und nun stehe ich vor diesem Dilemma. Wochenlang hadere ich mit mir. Ich schwanke zwischen akzeptieren und rebellieren. Schließlich, bevor ich völlig durchdrehe, fange ich an, die Covid-Regelungen zu studieren, um dennoch einen Weg von England nach Deutschland zu finden, der innerhalb der Richtlinien liegt, also legal und für alle Beteiligten sicher ist. Ich hatte zu Beginn keine Ahnung, wie groß diese Aufgabe sein würde, mit wieviel Ungewissheit man lernen müsste zu leben und wie sehr man auf den guten Willen und auf die Unterstützung von Angestellten in Behörden und von Freunden angewiesen sein würde. Zum Glück stand David, mein Mann, während dieses langen Prozesses unterstützend auf meiner Seite. Sonst hätte ich vielleicht aufgegeben.
Jedes Land, das wir auf unserer Reise betreten müssen, hat seine eigenen Regelungen. England, Frankreich, Belgien und Deutschland verändern aufgrund der Dynamik der Pandemie permanent ihre Regeln. Die Bürokratensprache ist nutzerfeindlich und vage und kann leicht missinterpretiert werden. Dazu kommt noch der Brexit, dank dessen seit dem 1. Januar 2021 das Vereinigte Königreich nicht mehr in der EU ist, sondern einen Drittland-Status hat. Während innerhalb der EU Reisen noch weitgehend gestattet sind, ist die Einreise aus Drittstaaten zu diesem Zeitpunkt kaum möglich.
Klärungsbedarf, Klärungsbedarf, Klärungsbedarf….
Zunächst ist die Frage zu klären, ob ich reisen darf und es meinem britischen Ehemann, David, erlaubt ist, mich zu begleiten. Die Message eines jeden Landes lautet: Reisen sind unerwünscht, nicht erlaubt, nicht möglich. Aber, es gibt natürlich Ausnahmen von der Regel. Diplomaten, Geschäftsleute und Krankenpflegepersonal sowie Handelspersonen dürfen reisen. Ich kann mich vage erinnern, dass in dieser Zeit Prinz Charles mit seiner Frau Camilla zu einem Besuch in Griechenland währte. Naja, zu diesem Personenkreis gehören wir nicht und daher geht die Suche weiter.

Auch aus humanitären Gründen, wie zur eigenen medizinischen Behandlung oder wegen schwerer Krankheit oder des Todes eines Verwandten 1. Grades ist es gestattet zu reisen. Meine anfängliche Euphorie erhält jedoch schnell einen Dämpfer.
Geschwister, so muss ich feststellen, sind Verwandte 2. Grades. Meine Enttäuschung ist groß und in dem ganzen Bestimmungschaos hätte ich das Naheliegende beinahe übersehen.
Wie in jedem Land sehen die Einreiseregelungen der Bundesrepublik Deutschland vor, dass deutsche Staatsbürger jederzeit nach Deutschland einreisen dürfen, ebenso ihre verehelichten Partner, auch wenn sie aus einem Drittstaat kommen. Okay.
Aber ich lebe seit 25 Jahren in England und habe seither keinen Wohnsitz mehr in Deutschland und bin keine deutsche Steuerzahlerin mehr. Um sicher zu gehen, frage ich bei der Deutschen Botschaft und der Bundespolizei an und bitte Freunde, die sich in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und dem entsprechenden bürokratischen Jargon auskennen, um ihre Interpretation der Regelungen. Die Bundespolizei teilt mir umgehend mit, dass ich als Deutsche einreisen darf und mein Ehemann ebenso, solange er mit mir reist. Okay. Meine Freunde bestätigen mir auch, dass ich richtig liege. Gut. Nun habe ich mich doppelt und dreifach abgesichert, bevor ich mich an die Vorbereitung und Umsetzung mache. Ist ja schließlich alles Neuland mitten in Europa, außerhalb der EU, mitten in einer Pandemie, jenseits jedweder Erfahrungswerte!
Der Teufel steckt wie immer im Detail!
Wie sollen wir reisen? Am schnellsten und billigsten ginge es natürlich mit dem Flugzeug (1 ½ Stunden London – Stuttgart), aber Direktflüge gibt es derzeit nur wenige. Von London nach Frankfurt wäre möglich, aber mit dem Umsteigen auf Bahn und S-Bahn, um nach Stuttgart zu gelangen, ist die Gefahr einer möglichen Covid-Infizierung höher. Das Risiko ist geringer, wenn man mit dem Auto von Haustür zu Haustür fahren kann und nur mal zum Tanken oder für eine Pinkelpause anhält. Okay, also das Auto!

Aber es ist Februar und die Straßenverhältnisse in Deutschland sind winterlich. Winterreifen und adäquate Bereifung ist gesetzlich vorgeschrieben. Winterreifen sind in England nicht bekannt. Es schneit nur alle paar Jahre und dann nur ein paar Zentimeter, die gleich wieder wegschmelzen. Also bestellen wir noch schnell All-Jahres Reifen, mit dem Schneeflockensymbol, damit wir legal reisen können. £460, eine sinnvolle Investition auch für zukünftige Reisen aufs Festland! Okay, auch das ist erledigt.
Seit dem Brexit sind unsere britischen Führerscheine in der EU nicht mehr gültig. Ich musste meinen deutschen Führerschein vor 20 Jahren gegen einen britischen tauschen, um legal hier, in UK, fahren zu können. Das heißt, wir müssen einen Internationalen Führerschein beantragen. Man kann das eigentlich problemlos in jedem größeren Postamt machen, aber noch weiß niemand genau, wie das geht und so dauert es eine Weile, bis der nette und hilfreiche Mensch am Schalter seine Kollegen konsultiert hat und wir endlich mit unseren frisch gestempelten Dokumenten das Postamt verlassen können. Alle haben wir nun in Sachen Brexit-Folgen etwas dazu gelernt.
Aber es gibt noch mehr Herausforderungen, die den neuen Zeiten geschuldet sind. Seit dem Brexit brauchen wir auch eine grüne Versicherungskarte für das Auto, um in der EU voll versichert zu sein. Als ich solch eine grüne Versicherungskarte von meiner Versicherungsgesellschaft anfordern will, geht das nur online und es dauert mindestens zwei Wochen, bis sie genehmigt und mir zugestellt wird. Wir planen jedoch in fünf Tagen loszufahren, da ich nicht weiß, wie lange meine Schwester noch durchhält. Die Schilderungen meines Neffen sind beängstigend und auch beim Skypen ist der Fortschritt der Krankheit deutlich zu erkennen. Schliesslich findet David eine Telefonnummer, die zu einer wirklichen Person gehört, mit der er richtig individuell sprechen und unser Anliegen vortragen kann. Natürlich, kein Problem! Sie verspricht uns, die grüne Versicherungskarte sofort auszustellen und uns per E-mail zuzusenden. Wir müssten sie nur selbst ausdrucken, am besten auf grünem Papier. Wirklich, innerhalb von 5 Minuten kommt die E-mail, ich finde irgendwo versteckt sogar noch grünes Papier. Alles klar. Am übernächsten Tag kommt die Versicherungskarte auch per Post – auf weißem Papier ausgedruckt.
Die Brexit-Hürden scheinen überwunden, nun machen wir uns an die Covid-Hürden!
Um mit dem Auto von England nach Deutschland zu kommen, kann man entweder die Fähre oder den Euro Tunnel nehmen. Auf der Fähre muss man das Auto verlassen und setzt sich dadurch einer potentiellen Ansteckungsgefahr mit Covid durch andere Passagiere aus. Während der Fahrt durch den Tunnel bleibt man im Auto sitzen. Also ist auch diese Frage geklärt. Obwohl der Tunnel teurer ist, nehmen wir die sichere Variante.
Die Fahrt nach Deutschland führt durch Frankreich und Belgien. Eine Durchsicht der umfangreichen Einreiseregelungen ergibt, dass in Frankreich eine strikte Ausgangssperre ab 18 Uhr herrscht. Das könnte problematisch werden! Zudem muss man vier eidesstattliche Erklärungen abgeben über den Reisegrund, den Gesundheitszustand, nämlich dass man keine Symptome einer Coviderkrankung hat, dass man die Coronaregeln kennt und sich unmittelbar nach der Einreise einer Quarantäne unterzieht etc. Wieder taucht das Brexit-Problem auf, dass Bürger von Drittstaaten nicht einreisen dürfen. Aber auch für Frankreich gilt: David ist mein legaler Ehemann und wird gemeinsam mit mir wie ein EU-Bürger behandelt. Aber besser wir führen unsere Heiratsurkunde mit, falls wir das beweisen müssen.
Da wir nur ca. 70 km von Calais bis zur Grenze nach Belgien durch Frankreich fahren müssen, nehme ich an, dass die Quarantänebestimmungen nicht auf uns zutreffen, was aber bei der Durchsicht der Schriftstücke noch nicht klar wird. In einem der Formulare finde ich schließlich eine Rubrik ‘Transit’ zum Ankreuzen. Das trifft auf uns zu und damit ist die Quarantäne vom Tisch! Hoffentlich haben wir nicht irgendwelche anderen Regelungen übersehen. Ich gehe davon aus, dass für Transitreisende die Ausgangssperre nicht gilt. Die Belgier sind etwas lässiger mit ihren Regeln. Ich habe zumindest keine Einschränkungen gefunden (noch nicht) und ich hoffe, dass der Transit ohne Probleme möglich ist. Wer weiß! Aber ich tue mein Bestes.
Um hinsichtlich der Covid-Regelungen der einzelnen Länder auf dem Laufenden zu bleiben, lade ich online-updates auf mein Handy. Nun erhalte ich ständig updates, die einander teilweise inhaltlich widersprechen, je nach Quelle und Land. Anstatt mehr Sicherheit zu gewinnen, verunsichert mich die Informationsflut so sehr, dass meine Zweifel an der Machbarkeit unseres Krankenbesuches immer größer werden.
Da ist die Sorge darum, ob wir unsere Verpflegung für die Quarantäne in Deutschland durch die Grenzkontrollen bringen, beruhigend konkret und handfest. Seit dem Brexit dürfen von Großbritannien auch keine Lebensmittel tierischen Ursprungs wie Fleisch- und Milchprodukte in die EU eingeführt werden. Die Medien sind voll mit Berichten von LKW-Fahrern, die sich bitterlich beschweren, dass ihnen an der Grenze ihre Schinken- und Käse-Sandwiches weggenommen werden. Na das kann ja heiter werden! Da wir nicht nur unseren Reiseproviant mitbringen, sondern uns auch auf eine 10-tägige Quarantäne vorbereiten müssen, sinnen wir auf praktikable Lösungen. So eine Menge Lebensmittel, kann man nicht so gut vor Grenzkontrollen verstecken. Und wir können ja schlecht am Ort unserer Quarantäne erst einmal zum Einkaufen in den Supermarkt gehen. Also muss eine Auswahl nach legalen und illegalen Lebensmitteln getroffen werden.
Das Zeitmanagement – eine hohe Kunst

Das Covid-Reiseverbot beinhaltet auch ein Transportverbot und Transportunternehmer, sei es Flug-, Zug- oder Schiffsgesellschaften, sind angehalten, niemanden zu transportieren, der/die nicht eine Erlaubnis hat zu reisen. Das heißt, wir müssen online eine Erklärung ausfüllen, unsere Reisedaten angeben, den Grund der Reise, Kontaktadresse bei Ankunft, wo wir unsere Quarantäne zu verbringen gedenken etc., damit eine Ausnahmeregelung genehmigt werden kann. Ich verstehe, dass dies notwendig ist. Bei einem Probelauf komme ich nicht weit, weil ab einem bestimmten Punkt ein negatives Covid-Testergebnis vorgelegt werden muss, bevor das Formular weiter ausgefüllt werden kann. So ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, was in diesem Formblatt genau gefragt wird und ob da vielleicht etwas drin versteckt ist, was die Reise unmöglich machen könnte.
Testen – ein Spagat zwischen Anforderung und Realität
Ein negativer Covid-Test ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Reise. Die Angaben hierzu sind präzise. Es muss der zuverlässigere PCR-Test sein, der nicht nach Antikörpern sucht, sondern feststellt, ob ein Virus präsent ist, und dessen negatives Ergebnis mittels einer Fit-to-travel Bescheinigung von einem anerkannten Labor bestätigt werden muss. Zwischen Testung und Einreise nach Deutschland dürfen höchstens 48 Stunden liegen. Das stellt ein Problem dar, denn die meisten Testresultate werden innerhalb von 24 bis 72 Stunden bekannt gegeben. Hinzu kommt, dass wir innerhalb der erlaubten 48 Stunden eine 16- stündige Autofahrt mit einkalkulieren müssen, mit möglichen Wartezeiten an den Grenzen, Staus oder einer Autopanne.
Außerdem scheint das Testen eine neue Goldgrube geworden zu sein. Es gibt jede Menge Anbieter. Die Preise für den PCR-Test schwanken zwischen £ 160 und £ 298 (das sind 180 bis 320 Euros) pro Person pro Test. Es gibt einige Labore, die Schnelltests anbieten, mit einem Ergebnis innerhalb von 3 bis 6 Stunden, aber die sind noch teurer. Es gibt mittlerweile auch Testurkunden und Bescheinigungen ohne Test zu kaufen. Anfang Februar wurde in den Medien berichtet, dass zunehmend Kriminelle von den strikter werdenden EU-Einreiseregelungen profitieren und gefälschte Testergebnisse und Dokumente zum Kauf anbieten. Der Preis liegt so um die £100. (110 Euros). So verführerisch das für manche klingen mag, wenn man sich dadurch den ganzen Stress sparen kann, für uns kommt das keinesfalls infrage, da wir ja wirklich negativ sein wollen und müssen, um meine Schwester, ihren Mann und ihr Umfeld im Heim nicht mit Covid anzustecken und das mutierte Virus nicht nach Deutschland einzuschleppen.
Also machen wir uns auf die Suche nach einer machbaren Testmöglichkeit. Eine Lösung findet sich, als wir mit unserem Apotheker darüber sprechen. Er führt Tests persönlich durch, schickt sie zu einem ihm bekannten Labor, das dann innerhalb von 12 bis 20 Stunden das Resultat und die dazugehörige ‘Fit for Travel’ Bescheinigung ausstellt und mailt. Er macht uns sogar einen Freundschaftspreis von £150 pro Person. Das klingt gut. Abgemacht.
Jetzt beginnt die Rechnerei! Unsere Reise ist für Donnerstag geplant. Um 5 Uhr morgens werden wir von zu Hause in London losfahren. Der Autozug von Folkestone ist für 08.20 Uhr gebucht. Das sollte uns genügend Zeit für das Abwickeln der Grenzformalitäten verschaffen. Wenn wir also am Mittwoch morgen um 09.30 Uhr getestet werden, dürfen wir von 19 Uhr an auf ein Ergebnis hoffen. Falls sich das Ergebnis verspäten und bis morgens um 5 Uhr noch nicht da sein sollte, dann, so beschließen wir, würden wir trotzdem losfahren und am Eurotunnel warten, bis es kommt, bereit den nächsten Zug zu nehmen. Falls der Test positiv sein sollte, (Man weiß ja nie!), müssten wir halt wieder nach Hause fahren und in 5 Tagen von vorne beginnen.
Spätestens ab Donnerstagabend beginnt das große Bibbern. Wir waren in den letzten 10 Monaten extrem vorsichtig gewesen. Wir sind zwar beide gesund und haben keinerlei Vorerkrankungen, aber wir sind in der gefährdeten Altersgruppe. Meist gehen wir morgens schon vor 7 Uhr in unserem nahegelegenen Park spazieren, früh genug, um den Menschenmassen auszuweichen, die wenig später in den Park strömen, wie wir auf der Suche nach frischer Luft und Bewegung. Anschließend gehen wir zweimal pro Woche einkaufen und sind dann meist ab 9 oder 09:30 Uhr für den Rest des Tages zu Hause. Seit Monaten hatten wir niemanden zu Besuch, trafen uns mit Bekannten nur draußen an der frischen Luft und achteten dennoch auf Distanz. Eigentlich sollten wir also Covid-frei sein, aber vor ein paar Tagen hat im Bus eine Frau ohne Maske hinter Dave immerzu gehustet. Man weiß ja nie!
Quarantäne und Beherbergungsverbot in Deutschland
Im Zuge der Vorbereitung auf den Krankenbesuch bei meiner Schwester musste ich auch die rechtliche Lage in Deutschland klären.
Die Covid-Regelungen sehen in vielen Ländern neben den Einschränkungen Familie oder Freunde zu besuchen und bei ihnen zu übernachten, auch ein Beherbergungsverbot für Hotels vor. Für uns heißt das, dass wir in Deutschland keine Unterkunft haben, weder für die Quarantäne noch für die Zeit des Besuches bei meiner Schwester. Wir sind ein Ehepaar, also zwei Personen, und in Deutschland gilt zu der Zeit, dass nur eine Person aus einem anderen Haushalt aufgenommen werden darf. Aber sogar das Problem lässt sich, dank Freundschaft und Hilfsbereitschaft, schließlich lösen.
In meiner Heimatstadt in Bayern stellt uns ein Freund für die Zeit der Quarantäne seine Wohnung zur Verfügung und zieht währenddessen zu seiner Freundin. Er bietet auch an, den Kühlschrank voll zu packen, da wir durch die Brexitbeschränkungen kaum Lebensmittel mitbringen und während der Quarantäne nicht zum Einkaufen gehen können. Das ist großartig und ein schwerer Stein fällt uns vom Herzen.
Hinzu kommt, dass in Baden-Württemberg, wo meine Schwester lebt, teilweise das Beherbergungsverbot aufgehoben worden ist und mein Neffe für uns eine Ferienwohnung ganz in der Nähe des Pflegeheimes meiner Schwester gefunden hat. Sie ist frei und bezahlbar. Wir buchen sofort und sind überglücklich, denn wir haben dort auch eine Küche und können uns selbst versorgen. Restaurants sind ja geschlossen und täglich den Lieferdienst ordern, würde die Trostlosigkeit noch steigern. Also ist das auch bestens geregelt. Wir werden nicht hungern müssen und können uns beim Kochen etwas ablenken.
Wir werden also die 10 Tage Quarantäne im Bundesland Bayern verbringen. Auch hier sind die Covid-Regeln strikt und ich habe bereits mit dem zuständigen Gesundheitsamt telefoniert, um das genaue Vorgehen zu erfahren. Nach unserer Ankunft müssen wir dem Gesundheitsamt sofort unsere negativen PCR-Tests mailen und unsere Adresse während der Quarantäne bekannt geben. Für Reisende aus einem Hochrisiko- oder Virusmutanten-Gebiet wie England, ist eine 10-tägige Quarantäne trotz des negativen Tests Pflicht. Nach 5 Tagen kann man jedoch aus der Quarantäne mit einem neuerlichen negativen PCR-Test entlassen werden. Dieser Test kann online gebucht werden. Es ist ein Drive-in-Testzentrum, d.h. man fährt mit dem Auto zum Parkplatz der Teststelle und bekommt durch das Autofenster einen Gurgeltest verabreicht. Diese Flüssigkeit gurgeln wir dann eine Minute lang und spucken sie in einen Behälter, den wir einem freundlichen Helfer anvertrauen. Innerhalb von 24 Stunden sollen wir per E-mail über das Ergebnis informiert werden, das wir dann wiederum sofort an das Gesundheitsamt weiter mailen müssen. Wenn der Test negativ ausfällt, sind wir aus der Quarantäne zu entlassen. Im Falle eines positiven Ergebnisses, müssten wir weitere 5 Tage warten und uns nochmals testen lassen. Okay, das ist fair.
Da wir völlig isoliert von anderen Reisenden mit einem recht frischen negativen PCR-Test in der Tasche fünf Tage in Quarantäne verbringen werden, gehen wir eigentlich davon aus, dass ich die Besuche im Pflegeheim vorab planen kann.
Das besagte Pflegeheim hat, wie alle anderen auch, strikte Besucherregelungen, um einer Covid- Infektion vorzubeugen. Die Anzahl der täglichen Besucher und die Besuchszeit sind begrenzt und ohne täglichen Test geht sowieso nichts. Besucher werden außerdem nur mit Schutzkleidung und Maske ins Heim gelassen. Um sicher zu gehen, dass wir meine Schwester auch wirklich besuchen können, rufe ich an, stelle mich vor, kündige meinen Besuch an und erfahre so die Bedingungen. Ich buche online unsere Besuchszeiten für mich und meinen Mann. Also ist auch das geregelt und ich bin meiner Schwester zumindest organisatorisch schon sehr viel näher gekommen.
Es geht los!

Und nun geht alles schnell: Mittwoch morgens um 9.30 Uhr werden wir getestet. Dann packen. Um 18 Uhr erreicht uns die E-mail des Labors: Beide negativ!! Jetzt kann ich die digitale Einreiseanmeldung mit unserer Quarantäne-Adresse in Deutschland ausfüllen. Zum Glück tauchen im Formular keine weiteren Fragen auf, die ein Hindernis für die Reise darstellen könnten. Morgens um 5 Uhr fahren wir los, bewaffnet mit einem Aktenordner voller Formulare, Tests, eidesstattlichen Erklärungen und Beweisstücken für unseren Reisegrund, Heiratsurkunde etc.. Dies alles haben wir auch noch auf dem Handy und auf dem Laptop gespeichert. Man weiß ja nie!
London’s Straßen haben wir noch nie so leer erlebt. Auch die A2 und M2 Richtung Folkestone ist in unserer Richtung ziemlich frei, keine Staus trotz einiger Baustellen. Wir kommen gut durch, statt den üblichen 2 ½ Stunden für die 72 Meilen brauchen wir nicht einmal 1 ½ Stunden. Am Eurotunnel werden wir gleich herein gewinkt, keine Schlange, keine Wartezeit, wir haben nicht mal Zeit unsere Käse- und Schinkenbrötchen und den übrigen Reiseproviant zu verstecken. Schon sind wir durch die britische Grenzkontrolle, die nur unseren negativen Test, unsere Buchung und unsere Pässe sehen will. Unser Auto muss noch die übliche Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen.
Dann werden wir zur französischen Grenzkontrolle weiter gewinkt, die auch weiterhin, wie vor dem Brexit, auf der britischen Insel untergebracht ist, um eine schnelle Abwicklung und Weiterfahrt nach der Ankunft in Frankreich zu ermöglichen. Nun kommt also der Moment der Wahrheit, wie sich Brexit und Pandemie in der Realität auswirken. Die Grenzbeamten, wie die britischen auch mit Maske ausgerüstet, fragen nach den negativen Testergebnissen, unseren Pässen und nach dem Zielort. Deutschland – alles klar, Transit!
Da wir beide unterschiedliche Namen haben, werden wir noch gefragt, ob wir zusammengehören. Wir beteuern, wir seien verheiratet und noch bevor ich die Beweisführung mittels unserer Heiratsurkunde antreten kann, wird Davids Pass gestempelt, um das Einreisedatum festzuhalten. Drittstaatler dürfen nur noch 90 Tage am Stück in der EU bleiben. Wir bekommen beide Pässe zurück und die freundlichen Grenzbeamten wünschen uns eine gute Reise. Ich habe noch meinen aufgeschlagenen Aktenordner griffbereit auf meinem Schoß und frage frustriert, ob sie denn nicht einige von den vielen Formularen, die ich ausgefüllt habe, sehen wollen. Sie lachen nur, sagen, das sei nicht nötig und wünschen uns eine gute Zeit in Deutschland. Wir sind durch.
Endlich auf dem Weg

Das ging überraschend schnell. Wir sind sogar so früh dran, dass wir den Zug eine Stunde früher nehmen können. Großartig! Das wird unsere Fahrtzeit erheblich verkürzen. Wir fahren sofort auf den Zug in unser Autoabteil. Nach uns kommen noch zwei weitere Autos und das war’s. Der Autozug ist fast leer. Leider sind die Toiletten wegen der Pandemie geschlossen und wir dürfen das Auto nicht verlassen. Das können wir aushalten. Wir haben gerade noch Zeit, unsere Sandwiches zu verfrühstücken, dann kommen wir schon in Frankreich an. Auch hier keine weiteren Kontrollen. Nach dem Toilettenbesuch in der ersten Tankstelle geht`s gleich auf die Autobahn. Auch hier ist relativ wenig Verkehr und wir kommen gut durch. Keine weiteren Kontrollen an der belgischen und deutschen Grenze.
Angekommen – erschöpft, aber froh
In einer Rekordzeit, inklusive eines Tankstopps und eines Halts, um die Wohnungsschlüssel bei Freunden abzuholen, kommen wir nach 12 Stunden von Tür zu Tür in unserem Quarantäne-Quartier an. Dort finden wir einen Kühlschrank vor, der liebevoll mit allen möglichen Leckereien gefüllt ist, genug, um uns für 30 Tage Quarantäne zu versorgen. Unser Gastgeber hat auch eine Art Gebrauchsanweisung für die Wechselfälle des Lebens in seiner Wohnung hinterlassen. Er hat sich wirklich Gedanken gemacht. Telefonisch bedanken wir uns herzlich, denn persönlich geht ja nicht. Erschöpft legen wir die Füße hoch, trinken ein kaltes Bierchen aus dem Kühlschrank und kommen erst mal an. Wenn der Anlass nicht so traurig wäre, könnten wir unserem abenteuerlichen Trip fast etwas abgewinnen. Auf jeden Fall sind wir froh, nicht aufgegeben zu haben.
Am nächsten Tag melde ich mich telefonisch beim örtlichen Gesundheitsamt und sende, wie bereits von London aus abgeklärt, per E-mail unseren Quarantäne-Standort und unsere negativen Tests.
Als nächstes rufe ich im Pflegeheim an, um mich zu erkundigen, wie es meiner Schwester geht. Mein Herz wird schwer, als ich höre, dass das Heim einen Covid-Verdachtsfall hat und seit gestern alle Besuche erst mal gestrichen sind, bis geklärt ist, ob sich der Verdacht bestätigt.
Wie bitte?! Habe ich die ganze Reise mit dem riesigen Aufwand und den Kosten umsonst gemacht? Der freundliche Pfleger rät mir zu Optimismus, in ein paar Tagen könne das alles anders aussehen.
Wir verbringen unsere Quarantäne mit Gymnastik (2x 20 Minuten pro Tag), damit mangels Bewegung unsere alten Knochen und Muskeln nicht einrasten, essen und telefonieren mit der Familie und mit Freunden. Es fühlt sich seltsam an, in meiner Heimatstadt, wo ich so viele Menschen kenne, niemanden besuchen zu können. Zum Glück ermöglichen uns WhatsApp, Skype und Telefon den Kontakt in der Isolation.

Am Tag sechs unserer Quarantäne fahren wir zur Covid-Teststation, um uns vorzeitig frei zu testen. Hier erfahren wir, dass wir nach etwa 24 bis zu 48 Stunden das Ergebnis per E-mail erhalten werden. Das könnte knapp werden für unseren ersten Besuch bei meiner Schwester.
Das Warten ist nervenaufreibend.
Doch dann geht alles schnell. Wir erhalten die Nachricht, dass unser Test negativ ist. Ich maile das Testresult wie angefordert an das Gesundheitsamt.
Der Covid- Verdacht im Pflegeheim hat sich nicht bestätigt und die Besuchszeiten sind wieder eingerichtet.
Wir haben gerade noch Zeit, bei meinem Bruder Briefe und Päckchen für meine Schwester abzuholen.
Bürokratie blüht auch in diesen Zeiten!
Am nächsten Tag fahren wir früh los. Es sind 3 ½ Stunden zu der Stadt wo meine Schwester wohnt. Zwischendurch schneit es und wir sind froh um unsere neuen Ganzjahresreifen. Doch dann bekomme ich eine E-mail vom Gesundheitsamt. Zusätzlich zu der negativen Testbestätigung, die ich tags zuvor gemailt hatte, benötigen sie noch den Laborbericht. Ich schreibe freundlich zurück, ich hätte keinen Laborbericht erhalten und sei bereits unterwegs und in einem anderen Bundesland, nämlich Baden-Württemberg. In einer weiteren freundlichen E-mail werde ich darüber informiert, wie und wo ich den Laborbericht abfragen kann. Deutsche Bürokratie pur! Die beiden Behörden residieren im selben Haus und könnten eigentlich das Prinzip der kurzen Wege anwenden.
Verärgert bin ich gerade am überlegen, ob ich diese E-mail einfach ignorieren soll, als ich über mein englisches Handy eine Textmessage von der Bundesregierung erhalte, die mich über die zugrunde liegenden Kriterien für die Bestimmungen und Maßnahmen gegen Corona informiert, mit Hinweisen auf die Quarantänepflicht bei der Einreise aus einem Virusmutanten-Gebiet. Panik! Habe ich vielleicht ein Update übersehen? Ich bin gerade noch dabei, die neuesten Richtlinien auf mein Handy herunterzuladen und zu studieren, da kommt bereits eine weitere Textmessage von der Bundesregierung, auf den ersten Blick die gleiche.
Jetzt setzt definitiv eine Art Verfolgungswahn ein, der größtmöglicher Verunsicherung geschuldet ist. Warum wurde die Bundesregierung auf mich aufmerksam? Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Bin ich jetzt auf der Fahndungsliste gelandet, weil ich mich (im Einklang mit den Richtlinien – oder zumindest so wie ich sie verstanden habe) mit einem negativen Test aus der Quarantäne entlassen habe? Dabei wollte ich alles richtig machen. Die Panik droht anzusteigen, aber ich zwinge mich zur Ruhe und konzentriere mich auf den Verkehr und die verschneite Strasse. Als wir in der Ferienwohnung ankommen, setze ich mich sofort mit der PCR-Teststelle in Verbindung, die mir umgehend den Laborbericht mailt. Ich sende ihn weiter an das Gesundheitsamt. Puh. Endlich ist auch das erledigt und die Horrorszenarien in meinem Kopf lösen sich auf. Ich bin wieder im legalen Bereich und ich kann beruhigt das Pflegeheim betreten.
Endlich, endlich am Krankenbett meiner Schwester!
Dort lerne ich die Prozedur kennen, die erforderlich ist, damit ich das Heim betreten darf. Erst wird ein Antikörpertest gemacht. Das geschieht mittels eines Stäbchens, das von einer Pflegerin in die Nase bis fast ins Gehirn hoch geschoben wird, so weit dass einem Tränen in die Augen schießen. (Nur so weiß man, dass es richtig gemacht ist, sagt die freundliche Pflegerin). In den 10 Minuten Wartezeit auf das Ergebnis sind Formulare auszufüllen. Dann heißt es Maske und Schutzkleidung anlegen und endlich darf ich auf die Station, wo meine Schwester liegt. Dort werde ich von einer freundlichen Pflegekraft in Empfang genommen, die mich über die Covid-Regeln (1 Stunde Besuchszeit für jeweils nur eine Person oder einen Haushalt) aufklärt und mir den Krankheitszustand meiner Schwester erläutert.
Schließlich, ich habe fast nicht mehr daran geglaubt, kann ich zu ihr. Wir sind beide sehr bewegt. Mir fehlen die Worte, als ich meine große und starke Schwester so schwer krank im Bett liegen sehe. Aber sprechen ist auch nicht nötig. Ich bin froh, ihre Hand halten zu können. Und sie hält die meine ganz fest und will sie nicht mehr loslassen.
Allein für diesen Moment hat sich dieser kolossale Aufwand gelohnt. Tags zuvor hatte meine Schwester schwere epileptische Anfälle erlitten und ist entsprechend müde und angegriffen. Sie kann nicht mehr sprechen, aber immer wieder liest sie die Briefe meiner Brüder durch und fährt mit dem Finger die handgeschriebenen Zeilen entlang, als ob sie die Worte fühlen wollte. Die Stunde Besuchszeit ist viel zu schnell vorbei und ich verabschiede mich bis zum nächsten Tag.
In den nächsten Tagen schläft sie viel und ich verbringe meine Besuchszeit damit, ihr beim Schlafen zuzusehen. Der Arzt hatte gesagt, es sei das Beste, wenn sie schlafen könne, damit sich ihr Körper wieder erhole. So bin ich einerseits froh, wenn sie schläft, aber andererseits habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davon läuft. Ich wollte aktiv sein und irgendwie helfen. Nicht hilflos rumsitzen.
Eigentlich hatten mein Mann und ich eine Woche am Krankenbett meiner Schwester geplant. Doch mir wird schnell klar, dass die Zeit zu kurz ist, bei einer Stunde Besuchszeit pro Tag, in der meine Schwester meist schläft. Es ist deprimierend und ich kann nicht einschätzen, ob ich sie vielleicht zu früh verlasse, wenn ich mich wahrscheinlich für immer nach einer Woche verabschiede. Kurzentschlossen verlängern wir unseren Aufenthalt um 8 Tage und ich suche das Gespräch mit dem behandelnden Onkologen und Palliativmediziner, um von ihm eine Einschätzung über den Krankheitsverlauf meiner Schwester zu erhalten.. Und obwohl er gerade im Urlaub ist, erklärt er sich bereit, mit mir zu reden. Was für ein Engagement! Ich bin beeindruckt.
Angst vor dem „Was, wenn…?“
Die nächsten Tage verbringen wir zwischen Pflegeheim, unserer Ferienwohnung, der Wohnung meines Schwagers, aber auch mit Spaziergängen und Einkäufen. Wir sind in permanenter Sorge, uns mit Covid anzustecken, schrecken vor jeder Person zurück, die uns zu nahe kommt und/oder ohne Maske herum läuft. Das hätte nicht nur zur Folge, dass wir meine Schwester nicht mehr besuchen und Covid vielleicht ins Heim einschleppen könnten, es würde auch unsere Rückreise bzw. Einreise in England verhindern, für die wir einen negativen PCR-Test brauchen. Wenn wir also positiv wären, müssten wir solange in einem Hotel in Deutschland bleiben, bis wir wieder negativ wären. Und wo sollten wir bleiben, wenn wir an Covid erkrankten? In Zeiten von Covid sind Besuche in Privatwohnungen nicht erlaubt und wenn wir positiv wären, würde uns ohnehin niemand unterbringen wollen. Noch nie fühlte ich mich in meiner Heimat so unsicher.
Hinzu kommt, dass Menschen in Deutschland in dieser Zeit panische Angst vor der britischen Virus-Mutation haben. Wir fühlen uns wie Aussätzige, eine Zumutung für die Bevölkerung und nicht willkommen, obwohl wir negativ sind und so viele Tests über uns hatten ergehen lassen wie kaum jemand sonst. Trotzdem vermeiden wir es, in der Öffentlichkeit Englisch miteinander zu sprechen, um ja nicht als Ausländer erkannt zu werden, und hoffen auch, dass unser Auto mit dem britischen Kennzeichen niemanden provoziert, Frust und Angst an unserem Fahrzeug auszulassen. Doch die Nachbarn wissen Bescheid, erkundigen sich nach dem Befinden meiner Schwester und lassen uns in Ruhe.
Das gesamte erschreckende Ausmaß
Die Tage verfliegen wie im Wind mit regelmäßiger Berichterstattung an meine Brüder, damit, mich um meinen Schwager zu kümmern, und mit Freundinnen meiner Schwester zu telefonieren, die sich um sie sorgen. Es ist in Zeiten von Covid für Familienmitglieder und Freunde oft ein großes Problem, Kranken beizustehen. Wer berufstätig ist und vielleicht sogar beruflich mit vielen Menschen zusammenkommt, sieht das Risiko einer Ansteckung und nimmt schweren Herzens Abstand von einem Krankenbesuch. Andere haben selbst Vorerkrankungen, aufgrund dessen sie extrem vorsichtig sein müssen, um sich nicht anzustecken. Sie tun gut daran, Reisen, Menschenansammlungen und Hospitäler zu vermeiden. Wie und warum auch immer, Kranke sind in der Pandemie von Isolation und Einsamkeit am härtesten betroffen.
Ich erlebe Gott sei Dank noch ein paar gute Stunden bei meiner Schwester. An manchen Tagen ist sie klar und aufgeweckt, an anderen Tagen geht es ihr schlechter und ich befürchte, dass ihr Ende nah ist. Aber immer wieder gelingt es ihr, eine schlechte Phase zu überwinden und sich wieder etwas zu stabilisieren. Wenn sie klar ist, rufe ich meine Brüder oder Neffen über Whatsapp an, damit sie sie sehen und zu ihr sprechen können. Meine Schwester war immer schon eine starke Persönlichkeit und gab nie auf. Das zeigt sich auch bei ihrer Krankheit. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass mein Schwager, ihr Ehemann seit 50 Jahren, seit längerer Zeit unter Wortfindungsschwierigkeiten und Demenz leidet und sie die letzten Jahre alles für ihn getan hat und im Grunde genommen seine Pflegerin war. Ich vermute, es ist die Sorge um ihren Ehemann, die meine Schwester trotz ihrer schweren Krankheit noch am Leben erhält.
Ein schwerer Abschied, vielleicht für immer
Mir ist himmelangst vor dem Abschied. Ich fühle mich schuldig, meine Schwester zurück zu lassen und in mein Leben zurück zu kehren. Aber die Ärzte sagen, es könnte Tage, Wochen oder Monate dauern, bis sie sterben würde. Theoretisch weiß ich, dass ich natürlich nicht wochenlang bei meiner Schwester am Krankenbett sitzen und ihre Hand halten kann, bis sie stirbt. Wir könnten uns das finanziell auch gar nicht leisten, obwohl ich zusammenzucke bei dem Gedanken, dass Kosten ein Faktor sind. Und dennoch, es ist so. Wäre es leichter wiederzukommen, würde ich mich besser fühlen. Aber das ist in Zeiten von Corona und Brexit nun mal nicht möglich.
Außerdem habe ich ein Leben mit zahlreichen Verpflichtungen in London, auch wenn ich Rentnerin bin. Alles vernünftige Argumente, aber sie verjagen meine Schuldgefühle nicht wirklich.
Dann ist es so weit. Es ist der Tag vor unserer Abreise und ich muss mich von meiner Schwester verabschieden. Gerade an diesem Tag geht es ihr nicht gut. Sie erkennt David und mich nicht mehr. Sie erkennt nicht einmal ihren Ehemann. Vielleicht ist es gut so, denn es wäre für uns beide sehr schmerzhaft, uns vielleicht für immer voneinander zu verabschieden. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie sich instinktiv ausgeklinkt hat, um den Abschiedsschmerz zu vermeiden. Am nächsten Tag, als ihr Sohn zu seinem wöchentlichen Wochenendbesuch kommt, geht es ihr wieder besser. Sie erkennt ihn und lächelt, als er ihr ein paar witzige Geschichten aus seiner Arbeitswelt erzählt. Es wird wohl noch eine Weile auf und ab gehen.
Bedingungen für die Rückkehr
Der Rückreiseprozess ist wie die Anreise nervenaufreibend. Zwei Tage vor unserer Rückreise steht wieder ein PCR-Test an, den wir in einem 25 km entfernten Drive-In Testzentrum machen. Und das Warten und Bangen beginnt von neuem. Dieses Mal haben wir 72 Stunden Zeit vom Zeitpunkt des Tests bis zur Einreise in England. Die E-mail kommt am Vorabend der Abfahrt gegen 21 Uhr. Dann gilt es, das online-Einreiseformular für Großbritannien auszufüllen und den Nachweis zu erbringen, dass wir rechtmäßig in England einreisen dürfen.

Außerdem haben wir genaue Angaben zu machen, wo wir gedenken, unsere 10-tägige Quarantäne zu verbringen, und es ist der Nachweis zu führen, dass wir online das obligatorische Testpaket für alle Reisenden nach UK bestellt und bezahlt haben. Wir müssen nämlich am 2. und 8. Tag unserer Quarantäne uns selbst testen. Der Preis für die Selbsttests beträgt £205 pro Person.
Diese Maßnahme erscheint sogar mir etwas übertrieben, wenn man bedenkt, dass wir während unserer Zeit in Deutschland mindestens 14 mal getestet worden sind und mit einem negativen Testergebnis von Tür zu Tür nach England reisen und bei unserer Reise, außer einmal beim Tanken und beim Gang zur Toilette, mit keiner Menschenseele in Kontakt kommen werden.
Doch wir müssen ja schon froh sein, dass Deutschland, obwohl die Covid-Infektionen enorm steigen, noch nicht zur Kategorie der Länder auf der roten Liste gehört. Reisende von diesen Ländern müssen zwangsweise ihre 10-tägige Quarantäne in einem Hotel verbringen, zu einem zum Himmel schreienden Preis von £ 1750 (Euros 1950), allerdings inklusive Essen und Sicherheitsdienst. Es ist erst kürzlich bekannt geworden, dass die Hotels für Unterkunft und Verpflegung lediglich £750 erhalten. Der Rest ist offensichtlich für die Sicherheitsdienste gedacht.
Ohnehin scheinen viele Menschen oder Organisationen in UK von der Covidkrise zu profitieren. Die Kosten für die Tests sind in Deutschland wesentlich geringer. Die Tests im Pflegeheim sind kostenlos. Der PCR-Test in Bayern zum Freitesten aus der Quarantäne war ebenfalls kostenlos. Der PCR-Test in Baden-Württemberg für die Rückkehr nach England kostete ca. £59, (Euros 65) plus 5 Euro Verwaltungsgebühr. Zum Vergleich, PCR-Tests in UK kosten zwischen £160 und £300, das obligatorische Testpaket von 2 Tests während der 10-tägigen Quarantäne £205 pro Person. Ich frage mich, wer verdient daran?
Die Rückkehr
Die Rückfahrt nach England verläuft reibungslos. Lediglich an der Grenze zu Frankreich ist die Autobahn vorübergehend gesperrt und Reisende müssen ihren negativen Covid-Test vorzeigen, bevor sei wieder weiter fahren dürfen. Am Eurotunnel gibt es kaum Probleme. Die Franzosen sind locker. Sie sind lediglich an den negativen Covid-Tests interessiert und wieder nicht an den vielen Formularen, die ich in meinem großen Ordner bereit halte. Sie stempeln Davids Pass, weil er ja ein so genannter Drittstaatler ist. Wir entschuldigen uns spaßhaft für die zusätzliche Arbeit und beteuern, dass wir nicht für den Brexit gestimmt haben. Sie lachen und winken uns durch.
Eine etwas längere Wartezeit gibt es auf der britischen Seite, da die Überprüfung aller Einreise-Formulare, der negative Test, die Bestätigung des Quarantäneortes und des Testpakets etc. seine Zeit dauert. Noch länger dauert es, wenn zudem die Bestätigungen nicht ausgedruckt vorliegen, sondern erst am Handy gesucht werden müssen. Im Auto vor uns sind vier Insassen. Unsere Hoffnung, einen früheren Zug zu bekommen, schwindet, als wir zähneknirschend abwarten müssen, bis auch das letzte Dokument am Handy gefunden und überprüft worden ist. Bei uns dagegen geht alles schnell. Wir werden sogar vom Kontrolleur gelobt, dass wir so gut vorbereitet seien! Na das kommt mit der Erfahrung, die wir auf unserer Reise machen mussten, um einen Krankenbesuch in Zeiten von Brexit und Covid machen zu können.
Zurück und ein letztes Mal in Quarantäne und testen
Die 10-tägige Quarantäne zu Hause verläuft ohne größere Probleme. Wir hatten vor der Abreise in Deutschland im Supermarkt unsere Lebensmittelbestände noch aufgestockt und sowohl Nachbarn wie auch Freunde in London versorgen uns mit essentiellen Lebensmitteln, die nicht so lange frisch bleiben wie beispielsweise Milch, und stellen zur Begrüßung selbst gemachten Kuchen und Blumen vor unsere Wohnungstür. Der erste Test kommt verspätet per Post erst am 3. Tag abends an. Wir lernen uns selbst zu testen und hoffen, dass wir nicht zu zimperlich sind, sondern ausreichend Spezimen in unserem Rachen und in unserer Nase zusammengekratzt haben, damit es für einen negativen Test reicht. Wir bringen unsere kostbaren Tests am Tag darauf zum Briefkasten. Der Zweck einer Quarantäne ist ja eigentlich, dass die Menschen das Haus nicht verlassen sollen. Naja, eine logistische Lücke von vielen.

Der Test des 8. Tages kommt rechtzeitig an und wir können ihn am selben Tag noch zum Briefkasten bringen. Das Warten ist nicht mehr so nervenaufreibend, denn wir sind relativ sicher, dass wir in den letzten Tagen in unserer Wohnung nirgendwo ein Virus aufgefangen haben. Trotzdem wollen wir aus der Quarantäne raus und unser Leben von vor fünf Wochen wieder aufnehmen. Leider erhalten wir unser negatives Testergebnis erst am 13. Tag unserer 10-tägigen Quarantäne, denn die Royal Mail brauchte sage und schreibe 3 Tage, um unsere als Priorität (Priority Mail) gekennzeichneten Testspezimen zum Labor zu transportieren!! Bei diesem Preis hätte ich einen besseren Service erwartet.
Es war nicht leicht, aber die richtige Entscheidung!
Hat sich all die Mühe gelohnt? Sicherlich! Ich wäre verrückt geworden, nicht zu meiner Schwester zu können. Vor Ort zu sein und ihre Hand zu halten, war das Wichtigste für mich. Das wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es gibt mir Seelenfrieden. Aber mit ansehen zu müssen, wie diese fürchterliche Krankheit meine große Schwester dahinrafft, ohne dass ich ihr Leiden auch nur ansatzweise lindern könnte, war schwer und bleibt auch im Gedächtnis ebenso wie ihr Kampf um jeden Tag, den sie noch mit ihren Lieben verbringen kann.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit bei all den hilfsbereiten bekannten und unbekannten Menschen bedanken, die uns während der Vorbereitung und der Reise im Rahmen der Covid- Regelungen geholfen und damit ermöglicht haben, dass wir meine Schwester besuchen konnten. Ohne ihre tatkräftige Unterstützung und Ermunterung weiter zu machen, hätte ich vielleicht doch vorzeitig das Handtuch geworfen. Ich habe in diesem Prozess eine tiefe Menschlichkeit erfahren von Freunden und wildfremden Menschen, von der ich seit langer Zeit angenommen hatte, dass sie nicht mehr existiert. Ich habe mich geirrt. Das soll mir eine Lehre sein.
Im Rückblick wird mir auch klar, wie privilegiert David und ich sind, weil wir als Rentner flexibel mit unserer Zeit umgehen können. Wie mag es den vielen Menschen ergehen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, aber in den Arbeitsprozess eingebunden sind und deshalb nur sehr begrenzte Zeit zur Verfügung haben? Allein die Zeit für Quarantäne! So viel Urlaubstage muss man erst einmal haben. Und welcher Arbeitgeber wird oder kann so großzügig oder flexibel sein, sich auf einen Urlaubsantrag einzulassen, der von Testergebnissen abhängt und nicht präzise geplant werden kann? Ganz zu schweigen von den Kosten.
Das Leben vor dem Brexit, aber vor allem vor der Pandemie erscheint mir im Licht meiner jüngsten Reiseerfahrungen so unkompliziert. Hoffentlich weiß ich das noch, wenn wenigstens die Corona-Krise der Vergangenheit angehört.
Meine Schwester ist vier Wochen nach meinem Besuch verstorben.
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