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Busgeschichten 6: Terrorverdacht

  • lisaluger
  • 20. Nov. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Juni 2023

-Fahrt mit dem 168er Bus durch London, August 2005-

(UK) Ich saß an diesem Morgen im 168er Bus in London und freute mich, dass ich meinen Lieblingsplatz im Doppeldeckerbus ganz vorne ergattert hatte. Auf dem Weg zum Einkaufen hatte ich es früher immer genossen, die Häuser Londons an mir vorbeiziehen zu lassen und meinen Gedanken nachzuhängen. So entspannt und gedankenverloren in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu sitzen und überhaupt mitten in die Stadt zum Shoppen zu fahren, war seit dem 07. Juli 2005 in London keine Selbstverständlichkeit mehr.


An diesem Tag, genau vor vier Wochen, war in London eine Serie von vier koordinierten Selbstmordanschlägen von islamistischen Terroristen verübt worden. Die Anschläge, durch Handys ausgelöst, hatten auf Pendler abgezielt, die während der morgendlichen Hauptverkehrszeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren. Drei U-Bahnen und ein Doppeldeckerbus waren Ziel der Terrorattacke gewesen, bei der außer den Terroristen 70 weitere Menschen ums Leben kamen und mehr als 700 verletzt wurden.


Nach diesem Anschlag war plötzlich die gedankenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr möglich.

Wir Londoner nahmen zwar zögerlich, aber stoisch unsere Routine wieder auf und fuhren mit Bus und Bahn zur Arbeit. Aber nun überlegte man genau, in welchen Wagon man einsteigen wollte. Er sollte nicht zu voll sein, damit man die Mitfahrenden besser im Blick hatte. Denn es galt das Risikopotential einzuschätzen. Bärtige Männer mit Rucksäcken versetzten einen durchaus in Alarmbereitschaft. Aber nicht jeder Bart war gleichermaßen verdächtig. Schnurrbärte, Drei-Tage-Stoppelbärte, Ziegen- oder getrimmte Vollbärte waren bei weitem nicht so beunruhigend wie urwüchsige und krause Vollbärte, wie viele gläubige Muslime sie tragen. Man konnte sich dieser Hysterie kaum entziehen und beäugte vor dem Betreten des Busses oder der Bahn misstrauisch die Menschen in den Verkehrsmitteln.


Aber was nützte es, wenn man beim Einsteigen sorgfältig das Risikopotential des Wagons oder Busses berücksichtigt hatte und dann an der nächsten Station ein bärtiger Rucksackträger zustieg und neben einem Platz nahm. Nicht ahnend, welche Schockwellen und Panikattacken er damit auslöste.

Und genau das passierte mir auf meinem Lieblingsplatz im 168er Bus.



Im 168er Bus durch Camden, London
Im 168er Bus durch Camden, London

Ich fuhr also in Gedanken versunken durch Camden, als sich jemand neben mich setzte, jemand aus der Risikogruppe: dunkler Vollbart, dunkler Teint und großer Rucksack.

Ich war sofort bis in die Haarspitzen angespannt. Sollte ich mich wegsetzen? Wie konnte ich mich unauffällig davonmachen? Nervös arbeitete ich an meiner Rettung.

Aber es schien zu spät zu sein, denn mein Nachbar holte sein Handy aus der Tasche und fummelte damit herum.

Das war`s also! Gleich drückt er den Auslöser und die Bombe im Rucksack explodiert!

Es blieb mir nur noch, die Augen zu schließen, mich innerlich von meinem Leben und meinen Lieben zu verabschieden und auf den Knall zu warten, der das letzte sein würde, was ich hörte.


Aber statt des Knalls hörte ich die dunkle Stimme meines Sitznachbarn, der schnell, hart und ärgerlich in das Telefon blaffte.

Weil ich von meiner Terrorhysterie so schnell noch nicht lassen konnte, versetzte mich auch dieses unfreundliche Telefongespräch noch in Panik. Ein akut verärgerter Terrorist ist ja schließlich noch gefährlicher als ein entspannterer Selbstmordattentäter!?


Doch Moment mal! Diese Sprache kenne und verstehe ich doch! Das ist Spanisch!

Natürlich lauschte ich nun dem Gespräch, verstand, entspannte und schämte mich gleichzeitig.


Am anderen Ende der Leitung war nämlich die Ehefrau meines Terrorverdächtigen, die einige Zutaten für die Einladung zum Dinner am Abend vergessen hatte. Sie verlangte nun, dass ihr Mann früher von der Arbeit nach Hause kommen und unterwegs die Zutaten besorgen sollte.

Das empfand der Ehemann seinerseits als Zumutung, warum auch immer, und sträubte sich mit Händen und Füßen gegen dieses Ansinnen.


Eigentlich war dieses Erlebnis ja zum Lachen. Aber was war aus mir geworden?! So viele Unschuldige hatte ich in den letzten Wochen verdächtigt, nur weil sie bärtig, dunkelhäutig und Rucksack-Träger waren. Mit der Angst hatten sich krude Vorurteile in mein Gemüt eingeschlichen. Eine erschreckende Erkenntnis!

(LL)

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