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Busgeschichten 7 – Eine verpasste Chance

  • lisaluger
  • 20. Nov. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Juni 2023

-Begegnung auf der Fahrt von Popayan nach Pasto, Kolumbien,

März 2015-


Mein Mann David und ich hatten früh aufstehen müssen, um den Bus nach Pasto um 6 Uhr morgens zu erwischen. Was uns erwartete, konnten wir uns leicht ausmalen. Da der Bus vor gut acht Stunden in Bogota losgefahren war, würde er voll besetzt sein und die Luft im Inneren zum Schneiden von all den menschlichen Ausdünstungen der seit acht Stunden schlafenden Passagiere. Wir hofften inständig, passable Sitzplätze für die sechsstündige Fahrt nach Pasto zu ergattern. Alles andere war nebensächlich. Zum Glück stiegen ein paar Leute in Popayan aus und wir zwängten uns eiligst in die nächstbesten freien Sitzplätze. Dass wir nicht nebeneinander sitzen würden, spielte keine Rolle. Im Gegenteil. So lernt man immer wieder neue Zeitgenossen kennen.


Aber um diese Zeit schliefen die meisten Fahrgäste in ihre Decken gehüllt. So auch mein Sitznachbar. Ich versuchte mir einen ersten Eindruck von ihm zu verschaffen, indem ich seine Kleidung in Augenschein nahm.

Meiner Einschätzung nach war er ein alter indigener Landarbeiter. Viel konnte ich nicht von ihm sehen, denn er hatte einen alten Poncho umgehängt, der auch sein Gesicht verdeckte. Außerdem trug er einen typischen Hut, wie ich ihn bei den indigenen Männern Südkolumbiens schon oft gesehen hatte. Dieser Hut hatte im Falle meines Nachbarn eine wichtige Funktion. Er fixierte den Poncho, sodass er nicht herunterrutschen konnte. Fürs erste konnte ich also keine Konversation mit dem indigenen Landarbeiter erwarten, weswegen ich meine Aufmerksamkeit der Landschaft widmete.


Die Anden sind spektakulär. Hohe Berge, tiefe Abgründe und enge Serpentinen. Ich konnte mich nie daran sattsehen.


Fahrt durch wundervolle Andenlandschaft
Fahrt durch wundervolle Andenlandschaft

Nach einer Weile wachte mein Nachbar auf und räkelte sich. Dass plötzlich eine Gringa, eine blonde Ausländerin, neben ihm saß, nahm er emotionslos zur Kenntnis. Offensichtlich hieß das für ihn, dass er die nächsten Stunden schweigend die Landschaft betrachtend verbringen würde. Was sollte man auch sonst mit so einer Gringa neben sich anfangen?!


So eine Gleichgültigkeit war ich gewöhnt. Ich hatte nur zu oft erlebt, dass Einheimische oft automatisch davon ausgingen, dass eine blonde Gringa kein Spanisch spricht und sowieso bloß eine ignorante, am Leben der Einheimischen desinteressierte Touristin ist.

Ich betrachtete sein Profil genauer und stellte fest, dass er nicht alt, sondern höchstens Anfang 60 war. Also genau wie ich. Dieses Mal irritierte mich, dass ein Kolumbianer meiner Generation seinerseits so desinteressiert war. Es reizte mich, sein Weltbild etwas zu korrigieren. Dem wollte ich es zeigen!


Freundlich und in meinem besten Spanisch kommentierte ich die wunderschöne Landschaft und den Nebel der sich gerade über das Tal legte. Und siehe da, es funktionierte. Überrascht sah er auf und wir kamen tatsächlich ins Gespräch.

Bald war es aber an mir, mir meinen Irrtum einzugestehen. Es stellte sich nämlich heraus, dass dieser vermeintliche indigene alte Landarbeiter ein sehr rühriger, engagierter und innovativer Zeitgenosse war, von dem ich viel erfahren und lernen könnte.

Er war einer der Anführer einer indigenen Gemeinde in der Region Putumayo, nahe der ecuadorianischen und peruanischen Grenze. Und so erfuhr ich aus erster Hand von einer Reihe von großen Problemen dieser Region.


Putumayo ist eine Provinz, in der Koka angebaut wird. Mehr als 50 Prozent der Gesamtproduktion Kolumbiens findet in Putumayo statt. Daher ist diese Gegend zum strategischen Zentrum des Drogenbekämpfungsplans der Regierung in Kooperation mit den USA geworden. Dieser sogenannte “Plan Colombia” sieht vor, dass zur Ausrottung der Kokaplantagen aus der Luft wahllos Herbizide versprüht werden.

Es wird im Zuge dieses Antidrogenkampfes mittels Herbiziden aber nicht darauf geachtet, dass Obst, Gemüse, Büsche, Bäume verschont werden oder dass das Wasser der Flüsse nicht verseucht wird, wodurch Trinkwasser und Fische ungenießbar werden. Diese Aktionen treiben nicht nur die Kokaproduzenten in den Ruin, sondern vor allem unschuldige Bewohner der Region in bittere Armut. Viele sehen nur noch die Flucht als Überlebenschance.

Gleichzeitig konkurrieren verschiedene bewaffnete Gruppen, von den kolumbianischen Militärs und den Paramilitärs bis hin zu den Guerillagruppen FARC und ELN, um die Kontrolle des Gebietes.

Die indigenen Gemeinden steckten mittendrin in dem Hexenkessel der Gewalt, der Menschenrechtsverletzungen, des wirtschaftlichen Ruins, der Umweltzerstörung und der Rekrutierung sowohl durch die Guerilla als auch durch Paramilitärs, berichtete mein Sitznachbar.


Je länger wir über seine Arbeit in einer indigenen Gemeinde in dieser hoch problematischen und umkämpften Region sprachen, umso beeindruckter war ich von dieser Persönlichkeit.

Wie sich herausstellte, hatte er zunächst Psychologie, dann Ethnologie studiert, später aber noch ein Wirtschaftsstudium absolviert, um sich das notwendige Know-how anzueignen, damit er seiner Gemeinde würdig und kompetent dienen konnte.

Er war auch Mitglied einer speziellen Arbeitsgruppe indigener Gemeindeführer, die mit der kolumbianischen Regierung im Rahmen eines indigenen Entwicklungsprogrammes Strategien und Projekte zur wirtschaftlichen Verbesserung, aber auch zur ethnischen Identitätsfindung entwickelte. Gerade war er auf dem Rückweg von Bogota, wo er erfolgreich die Fortführung des Entwicklungsprogrammes für seine Gemeinde für weitere drei Jahre erstritten hatte.


Besonders der Blick auf die ethnische Identitätsfindung der indigenen Gemeinden faszinierte mich.

Ein äußerer Anlass für diese Gemeinden, sich der eigenen Identität als Indigene bewusst zu sein, sei das Verhindern der Rekrutierung der jungen Männer und der Armen durch die Paramilitärs und die Guerilla. Die Angebote seien verlockend – Geld und Macht. Wer könnte da widerstehen?

Die Arbeitsgruppe der indigenen Gemeindeführer sehe u.a. in der Betonung der gemeinsamen Werte und der Gemeinsamkeit der indigenen Stämme einen gewissen Schutz vor den Verlockungen der gewalttätigen Gruppierungen, erklärte mein Gesprächspartner.


Interessanterweise war Gemeinsamkeit auch eine wesentliche Strategie in seiner Gemeinde, wenn es um die Bestrafung eines Menschen ging, der gegen das Gesetz verstoßen hatte.

Das Konzept sieht vor, dass der Täter nicht isoliert wird, indem man ihn in ein Gefängnis steckt. Isolation sei Ausschluss aus der Gemeinde und werde daher als die schlimmste Bestrafung angesehen, die nur zu Hass, Neid und Feindseligkeit führen würde, was ja definitiv kontraproduktiv sei, wurde mir erklärt. Anstatt den Gesetzesbrecher auszugrenzen und in einem Gefängnis zu isolieren, sollte sich die Gemeinde intensiv um den Täter kümmern, die Ursachen für seine kriminelle Handlung oder sein unsoziales Verhalten herausfinden und ihm helfen, ein vollwertiges angesehenes Mitglied der Gemeinde zu werden.


Ich war von diesem Ansatz sehr angetan. Hatte ich doch gerade erst eine Forschungsarbeit über die Gesundheitsversorgung in einer Justizvollzugsanstalt in England abgeschlossen und viele Mängel in diesem Verwahrungssystem entdeckt, das auf Isolation und Bestrafung ausgerichtet ist statt auf gesellschaftliche Rehabilitation.

Wir könnten definitiv viel von solchen und ähnlichen Ansatzpunkten lernen. Ich war wie elektrisiert und sah vor meinem inneren Auge viele Ansatzpunkte für eine Zusammenarbeit.

Dieses neue Justizprojekt war zwar erst in der Anfangsphase, aber die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verbesserungen der anderen Programme zeigten bereits gute Erfolge.


Meinem Busnachbarn ging es wohl wie mir. Unverhofft hatten sich zwei Gleichgesinnte getroffen, die einander in ihrer Arbeit unterstützen könnten.


Begegnung im Bus
Begegnung im Bus

Er lud mich und meinen Mann ein, seinen Distrikt zu besuchen (weitere 6 Stunden Busfahrt gen Süden) und vor Ort die Programme und deren Erfolge zu begutachten. Wir könnten auch darüber sprechen, wie und ob wir in Forschungsprojekten kooperieren könnten. Wahnsinnsperspektiven taten sich auf! Ich war auf dem Sprung in ein neues großes spannendes Projekt! Aber ich bin nicht gesprungen und das bedauere ich bis heute.


Noch in Kolumbien hatten wir, so glaubten wir jedenfalls, keine Zeit mehr, um weitere sechs Stunden in den Süden zu fahren und die Projekte kennenzulernen. Wir waren ja schon fast wieder auf dem Weg nach Hause.

Zu Hause in England verdrängten die vielfältigen, mehr oder weniger bedeutenden Anforderungen des Alltags meine Vision von einer Kooperation mit dem indigenen Arbeitskreis in Kolumbien.


Ich werde das Gefühl nicht los, eine Chance auf eine sinnvolle und ganz neue Aufgabe verpasst zu haben.

(LL)

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