Bus-Geschichte 9: Es ist alles meine Schuld
- lisaluger
- 15. Juli 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Juli 2023
Stansted, September 2017 (UK) Wir kamen von einem Besuch bei Freunden in München zurück und waren am Flughafen Stansted gelandet. Es war 23 Uhr und wie immer um diese Zeit war viel los. Die Flugzeuge aus ganz Europa landen möglichst kurz bevor das Nachtflugverbot in Kraft tritt.

Wie wir auch waren die meisten Urlauber oder Wochenendreisenden, die um diese Zeit nach London zurückkehrten, müde und wollten nur noch nach Hause und sich ausruhen. In der Schlange vor dem Bus wurde viel geschubst und gedrängelt, aber es war eher unbeschwert als aggressiv. Vor uns in der Schlange brachten zwei irische Männer Anfang 40 mit ihren Witzen alle zum Lachen. Sie hatten wohl an Bord oder vor dem Einsteigen am Flughafen ordentlich gebechert und waren nun gut gelaunt und etwas beschwipst. Sie scherzten und lachten und richteten ihre Aufmerksamkeit auf zwei junge Engländerinnen, die sie galant umwarben. Sie halfen ihnen mit ihrem Gepäck, als sie in den Bus stiegen, ließen sich neben ihnen nieder und versuchten, einen kleinen Kuss als Belohnung für ihre Hilfe zu bekommen. Die beiden Frauen waren durchaus angetan und kicherten. Sie schienen den harmlosen Flirt zu genießen und hatten ihren Spaß. Die vier setzten sich auf die Sitze vor uns und plauderten und lachten weiter, als der Bus vom Flughafen Stansted losfuhr.
Bis zu unserer Haltestelle in Golders Green im Norden Londons würde die Fahrt um diese Zeit nur etwa eine Stunde dauern und daher sahen wir der Charmeoffensive der beiden Männer und den kichernden Reaktionen der beiden jungen Frauen gelassen entgegen. Wir stellten uns also auf eine unterhaltsame und kurzweilige Fahrt ein. Aber es kam anders.
Wenige Minuten nachdem der Bus auf die Autobahn M11 aufgefahren war, erhielt der ältere der beiden Iren (ich glaube mich zu erinnern, sein Freund nannte ihn Paddy - von Patrick) einen Telefonanruf. Paddy lachte, grinste die Mädchen an und warf ihnen einen Kuss zu, als er den Anruf entgegennahm. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Sein Gesicht wurde aschfahl und er schrie in den Hörer: "Was? Kannst du das nochmal sagen?" Und nach einigen Sekunden: "Oh nein! Ist er tot? Er ist tot oder? Oh mein Gott, oh mein Gott!" Im Bus war nun alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Alle Gespräche verstummten. Jeder wollte erfahren, was passiert war. Aber vorerst war von dem unter Schock stehenden Mann nur unverständliches Gemurmel am Telefon zu hören. Schließlich legte er auf und rief völlig verzweifelt hintereinander viele Leute an, immer in der Hoffnung, Genaueres zu erfahren. Eine der beiden Frauen auf der anderen Seite des Ganges, die nur wenige Minuten zuvor noch seine ganze amouröse Aufmerksamkeit gehabt hatte, versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie seinen Arm und seine Schulter berührte. Er stieß ihren Arm wütend mit einem schroffen "Verpiss dich!" weg und machte sich wieder daran, herauszufinden, was passiert war. Auch wir anderen waren nun wirklich daran interessiert, zu erfahren, welch böser Schicksalsschlag den fröhlich frechen Mann in eine bestürzte, verängstigte und schockierte Person verwandelt hatte. "Oh mein Gott! Oh mein Gott!", war aber alles, was wir von ihm hören konnten. Im Laufe der nächsten Stunde unserer Fahrt und etliche Telefonate später konnten wir uns ein ungefähres Bild von dem Ereignis machen, das unseren Mitreisenden so erschüttert hatte. Wie es schien, war sein jüngerer Bruder mit einem Freund nach einem sonntäglichen Treffen mit Freunden auf der Heimfahrt mit dem Auto verunglückt. Der Freund hatte am Steuer gesessen. Der Bruder war verletzt in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht worden, wo einige Freunde und Familienmitglieder auf weitere Nachrichten von den Ärzten, die ihn operierten, warteten. Jeder Telefonanruf konnte also Aufschluss darüber geben, ob sein kleiner Bruder noch am Leben war. Die Passagiere hielten den Atem an, fühlten mit ihm und hofften, dass der junge Mann überleben würde. Wir alle konnten die Angst, Panik und Hilflosigkeit nachvollziehen, die Paddy in diesem Moment durchlebte. Zwischen den Anrufen stammelte er immer wieder, “Oh mein Gott!“, oder flehte in Stoßgebeten die heilige Maria um Hilfe an. Er schluchzte laut und rief immer wieder: „Es ist alles meine Schuld! Oh mein Gott, es ist alles meine Schuld!“
Zeuge dieses Alptraums zu sein, ohne helfen zu können, war schwer zu ertragen. Die beiden Frauen neben ihm schwiegen und wagten nicht einmal, ihn anzusehen, um ihn nicht erneut zu verärgern. Alle im Bus hatten großes Mitgefühl. Niemand sprach oder lachte. Es herrschte eine düstere Atmosphäre in diesem National Express Airport Bus nach London. Sicherlich fragte sich der eine oder andere, wie wir auch, worin denn die Schuld bestehen könnte, von der Paddy beständig redete.
Wir waren froh, als wir endlich an unserer Haltestelle in Golders Green ankamen. Aber der erste, der sich von seinem Sitz erhob, war Paddy.
Er stürmte nach vorne, aber nicht um auszusteigen. Vielmehr hatte er unter den Fahrgästen in der ersten Reihe einen katholischen Priester in Soutane, mit Kutte und Kragen entdeckt, der während der Fahrt friedlich in seinem Sitz eingeschlafen war. Paddy rüttelte den armen Mann wach, kniete vor ihm nieder und bat um seinen Segen und um die Vergebung seiner Sünden. Der erschrockene Priester willigte ein, erkundigte sich aber nach dem Grund.
Der von Angst geplagte Paddy weinte nur untröstlich und murmelte zwischen den Schluchzern: "Es ist alles meine Schuld, denn ich habe gesündigt. Gott hat mich für meine Sünden bestraft, indem er mir meinen kleinen Bruder weggenommen hat. Deshalb hatte er diesen Unfall und wird sterben - wegen mir."
Wie schrecklich! Was für eine Lebenseinstellung war das und mit welchen Schuldgefühlen musste man leben wenn man davon überzeugt war dass man durch einen sündigen Lebensstil schuldig am Tod eines geliebten Menschen werden konnte?! Im Moment dieses absoluten emotionalen Tiefpunktes hielt plötzlich der Freund des verzweifelten Paddy sein Telefon hoch und rief: „Er wird leben! Sie haben gerade gesagt, dass er durchkommen wird." Und durch die Tränen hindurch kehrten Hoffnung, Erleichterung und das Lächeln in das Gesicht des Mannes zurück. Als schließlich immer mehr Passagiere zum Ausgang drängten, gab Paddy den Weg frei und auch wir konnten den Bus verlassen.
Auf dem Heimweg und noch lange danach ging mir diese Szene durch den Kopf. Ich hörte immer noch sein verzweifeltes lautes Klagen: "Es ist alles meine Schuld, denn ich habe gesündigt!“ (LL)

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