Auf Umwegen zum Lebensziel
- anon
- 20. Nov. 2022
- 16 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Juni 2023
(DE/EU) Ich bin die Tochter eines Lehrers und war daher eigentlich von Natur aus lernunwillig. Die Schule zu besuchen, zu lernen, Prüfungen zu schreiben und gute Noten heimzubringen, war eine lästige Pflicht. Durch meine letzten vier Schuljahre an der von Nonnen geführten kaufmännischen Mädchenrealschule habe ich mich halt so durchgewurschtelt und achtete lediglich darauf, die Erwartungen meines Elternhauses in schulischer Hinsicht zu erfüllen. Hätte mich damals, 1969, jemand gefragt, wofür ich brannte, wovon ich träumte, wäre mir nicht wirklich etwas eingefallen. Dabei war der Same für mein sehr viel späteres erfülltes Berufsleben bereits in der Schule gelegt worden.
Erschaffung von Träumen
Meine erste Arbeitsstelle bei einer Versicherungsgesellschaft verdankte ich meinen Steno- und Buchhaltungskenntnissen, aber meine nicht realisierbaren Träume vom Reisen, wie ich damals glaubte, verdankte ich Schwester Germana, unserer Englischlehrerin. Sie hat mir die Englische Sprache nahe gebracht, indem sie mich wirklich förderte. Laut Gerüchten war es ihr als Tochter einer wohlhabenden Familie trotz ihres Standes als Ordensmitglied möglich, viele Reisen z.B. ins schottische Hochland zu unternehmen. Und wie es so ihre Art war, versuchte sie uns mit Diavorträgen und Erzählungen ebenfalls für alles Englische und das Reisen zu begeistern. Bei mir hat’s geklappt, während andere diese Stunden auch genossen, aber weil man dann nichts lernen musste, nicht ausgefragt wurde und überhaupt seinen unterrichtsfremden Tätigkeiten und Gesprächen nach Herzenslust frönen konnte.
Ankommen in der Realität
Ich hingegen saugte diese Eindrücke auf, liebte es Englisch zu sprechen und stellte mir Reisen in fremde Länder vor. In der wirklichen Welt erhielt ich nach der Mittleren Reife einen Job als Stenotypistin bei einer Versicherungsgesellschaft in meiner Heimatstadt. Ich ging also vom September 1969 an täglich ins Büro und tat, was ich in der Schule gelernt hatte. Der Büroleiter rief zum Diktat und ich stenografierte, brachte danach alles auf Kopfbögen in Reinschrift auf Papier und kümmerte mich um den Rest wie beispielsweise Versand und Ablage. Außer mir gab es noch vier Kolleginnen, einen Chef und etliche Außendienstmitarbeiter. Wir waren ein gut eingespieltes Team, hatten ein sehr angenehmes Betriebsklima, die Arbeit machte mir Spaß und die Bezahlung war auch in Ordnung. Bald übertrug man mir die Bearbeitung der Sachversicherungen, also alles außer Lebensversicherung. Ich konnte dann ganz selbstständig arbeiten, was mir richtig Freude machte.
Mein Berufsleben gestaltete sich durchaus positiv und dennoch führte mich mein nächster Schritt auf den für Frauen in der damaligen Zeit vorgezeichneten Weg.
Der goldene Käfig
Als ich 1976 heiratete, suchte ich mir einen Teilzeitjob bei einem großen Konzern, um meinen häuslichen Pflichten angemessen nachkommen zu können. Warum habe ich das getan? Der Klassiker! Ich hatte mich in diesen jungen Mann verliebt und ich wollte auch Kinder mit ihm haben. Zwei sollten es sein, denn ich war als Einzelkind ziemlich einsam, nur umgeben von Erwachsenen. Meine Kinder sollten nicht so aufwachsen. Für mich stand fest, dass ich mich in der ersten Zeit selbst um sie kümmern wollte. So bereitete ich mich auf den Ausstieg aus dem Berufsleben und den Einstieg in das Familienleben vor. Es erschien mir schlüssig, aber ich muss wohl dennoch gespürt haben, dass etwas nicht stimmte.
Mein Mann erzählte mir nämlich später, kurz vor unserer Trennung, dass ich kurz vor der Heirat eine Art Panik-Attacke gehabt hatte: Angst, dass ich das Falsche mache oder den Ansprüchen nicht gerecht würde. Diesen Zwischenfall hatte ich total verdrängt. Die Hochzeit war bereits komplett organisiert gewesen und außerdem gab es ja die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen. Das hat mich wohl beruhigt, nach dem Motto, wenn es nicht klappt, kann ich gehen! Heute frage ich mich: Was für eine Einstellung war das denn? Aber konkrete Sehnsüchte oder Träume, die einer Familiengründung widersprochen hätten, hatte ich damals noch nicht. Man könnte sagen, ich war orientierungslos, nahm jeden Tag, wie er kam. Aber glücklich war ich nicht.
1979, nach der Geburt meines ersten Sohnes, gab ich auch noch diesen Job und damit meine finanzielle Unabhängigkeit auf. Mit der Geburt meines zweiten Sohnes 1981 war ich dann endgültig ans Haus gefesselt, von der Erziehung der Kinder zeitlich völlig vereinnahmt und ich verlor allmählich den Bezug zu mir selbst.
Dass gleich der erste Sohn so eine Herausforderung war, hatte ich nicht geahnt. Ich kam nicht gut mit ihm zurecht, eigenartigerweise hat ihn meine Mutter von Anfang an vergöttert. Der zweite Sohn war ganz anders, ein ‚normales‘ Baby. Nebenbei noch zu arbeiten, hätte ich nicht geschafft. Der ältere Sohn kam in den Kindergarten, blieb aber nur ca. 10 Tage. Er war aggressiv zu den anderen Kindern und man riet mir seitens der Kindergartenleitung, ihn aus dem Kindergarten zu nehmen. Er sei noch nicht so weit. Inzwischen hatte ich längst bemerkt, dass die Einrichtung Ehe und Familie nichts für mich waren. Aber da war ich nun gefangen. Aber das war noch nicht das Ende meiner Selbstaufgabe.
Der Druck, Erwartungen zu erfüllen, war noch größer durch die Tatsache, dass wir als junges Paar und Familie im Haus meiner Eltern wohnten. Der Aussicht auf mietfreies Wohnen und kostenlose Kinderbetreuung konnte ich nichts Vernünftiges entgegen setzen, außer mein ungutes Gefühl und die Erinnerung daran, dass ich genau dort und so nie leben wollte. Mit meinem bloßen Instinkt kam ich nicht einmal mir selbst gegenüber gegen all die rationalen und vernünftigen Argumente an. Ich saß verzweifelt im goldenen Käfig und wollte nur noch raus. Raus aus der Ehe, raus aus dem Haus, weg von der Stadt, hinein ins Berufsleben, in die Selbständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit. Langsam aber sicher bekam ich keine Luft mehr, bildlich gesprochen.
Damals hatte ich auch das Gefühl, keine „geborene Mutter“ zu sein, was auch immer das heißen mag. Wir, die jungen Frauen der 60er in einer konservativen kleinen Großstadt, hatten wohl das Bild einer hingebungsvollen Mutter mit auf den Weg bekommen, die, wenn sie Verzicht leistete für ihre Kinder, nicht darunter litt, sondern eine von Gott und der Gesellschaft geschriebene Prioritätenliste abarbeitete. Aber ich litt!
Heute ist mir klar, dass es keine „geborene Mutter“ gibt, sondern nur Frauen, die ihre Mutterrolle jeweils selbst definieren sollten. Diese innere Freiheit, mir meine Mutterrolle selbst maßzuschneidern, spürte ich zu der Zeit nicht. Es gab letztendlich nur ein Entweder-Oder.
Ich war sicherlich nicht die Erste und werde auch nicht die Letzte sein, die ihre Flucht aus einer Ehe und für sie untragbaren Lebensumständen mit einer Affäre beginnt. Die Affäre war schnell vorbei, aber mein Wunsch nach Veränderung blieb bestehen.
Ein radikaler Schritt
Mein Mann und ich haben uns nach zwei gescheiterten Neu-Versuchen 1985 getrennt. Er hat die Kinder genommen und ich war damit einverstanden. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, aber ich habe auch an das Wohl der Kinder gedacht. Dieses Hin und Her war nicht gut für sie und sie litten unter den Spannungen.
Meine Mutter und die ganze Verwandtschaft waren entsetzt. Eine Mutter, die ihre Kinder zurück lässt, kann nicht auf Verständnis hoffen. Aber ich hatte definitiv keine andere Wahl.
Weder hätte ich mit ihnen aus meinem für mich „falschen“ Leben heraustreten können, noch wäre ich imstande gewesen, ihnen Geborgenheit und Stabilität zu geben. Ich wusste ja selbst nicht, wohin mich mein Weg führen würde. Wer ich war und was ich wollte, musste ich erst noch entdecken. Und bei so einer Suche stolpert man des öfteren. Sollten die Kinder jedes Mal mit mir stolpern und verletzt werden?
Die Entscheidung, meine Kinder beim Vater in der Familie zu lassen und zu gehen, war für meine Söhne und für mich schmerzhaft, aber ich bin heute noch davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war.
1985, im Alter von 32 Jahren, verließ ich also ohne Ehemann und Kinder meine Heimatstadt in Richtung München.
Neues Leben, aber noch nicht richtig
Meine Schulfreundin Eva unterstützte mich moralisch und im Grunde ermöglichte sie meinen Neustart in München. Die meisten Vorstellungsgespräche begannen nämlich mit der Frage, ob man denn eine Wohnung in München habe. Tja, das war damals schon nicht ganz einfach. Aber Eva wusste von einer Wohnung in Oberschleißheim, die ich tatsächlich bekam. Netzwerken ist also keine ganz neue Erfindung der High-Tech-Branche, sondern funktionierte auch schon bei ehemaligen Klosterschülerinnen in den 80ern.
Und dann lief alles wie von selbst.
Meine druckfrische Urkunde einer „Staatlich geprüften Sekretärin“ in der Tasche suchte und fand ich ein neues Wirkungsfeld bei einer Kanzlei.
Meine neue Arbeitsstelle war ein neu gegründetes 3-Personen-Büro, das den monetären Nachlass der Eigentümer eines großen Versandhauses verwaltete. Ich war die Zweitsekretärin. Unsere Hauptaufgabe war, telefonisch erreichbar zu sein und so ca. alle 6 bis 8 Wochen eine Testamentsvollstrecker-Sitzung in den Büroräumen zu organisieren, Protokoll zu führen, Kaffee zu kochen und Schnittchen zuzubereiten. Meine Kollegin und ich waren uns dazu nicht zu schade, denn zwischen den Sitzungen hatten wir viel Freiraum und die Bezahlung war gut.
Ich war dort eigentlich unterfordert, langweilte mich und hatte daher freie Kapazitäten für Abendkurse am Cambridge Institute. Das First Certificate in Englisch reichte mir jedoch nicht. Praxis war gefragt und das möglichst bei Sonnenschein und warmem Wetter. Also auf nach Malta!
Es gibt so einen Spruch, der auf mich zu diesem Zeitpunkt zutrifft: „Ich schuldete meinen Träumen noch mein Leben.“ Und diese Schuld habe ich von da an mit wachsender Begeisterung beglichen.
Während mehrerer Urlaubs-Aufenthalte auf Malta zu verschiedenen Jahreszeiten spürte ich, wie ich aufblühte. Mich in der Landessprache problemlos unterhalten zu können, machte den entscheidenden Unterschied zu irgendwelchen All-inclusive-Aufenthalten in Touristenhochburgen ohne Anbindung an Land und Leute. So wollte ich nicht nur Urlaube verbringen, so wollte ich leben. In der Fremde, aber nicht als völlig Fremde!
Und jetzt wurde ich geradezu verwegen. Aus einer Laune heraus fragte ich bei der deutschen Botschaft in Malta an, ob es möglich wäre, auf der Insel zu arbeiten. Und tatsächlich, es sollte eine Stelle als Ortskraft besetzt werden. Keine Frage, ich bewarb mich um diese Stelle, denn eigentlich erfüllte ich die Grundvoraussetzungen: Schreibmaschine schreiben, Steno und gute Englischkenntnisse. Beim zweiten Anlauf 1990 klappte es dann. Das war ein Neuanfang nach meinem Geschmack!
Meine Wohnung in Oberschleißheim in München vermietete ich unter. Die junge Frau aus der DDR, die über Ungarn geflohen war und sich nun in München ein Leben aufbauen wollte, war froh und dankbar. Eine bezahlbare Wohnung in München war damals auch schon ein Jackpot und ich wollte diese Option nicht ganz aufgeben. Ein Hintertürchen sollte schon offen bleiben, für den Fall, dass etwas schief ging.
Malta – ganz neue Erfahrungen
Und dann landete ich im Januar 1990 mit zwei Koffern auf dem Flughafen Luqa auf Malta, um meinen auf zwei Jahre befristeten Vertrag an der Botschaft zu erfüllen. Während meiner vielen Urlaube hatte ich Kontakte auf der Insel geknüpft und kam daher erst einmal bei Freunden in einem B & B unter. Da ich auf einer Ferieninsel war, gab es keine Probleme mit der Wohnungssuche. Schon kurze Zeit später fand ich eine komplett möblierte Wohnung, nur 5 Gehminuten von der Botschaft entfernt. Von meinem Büro aus konnte ich über die Küstenstraße aufs Meer blicken. Ein Traum!
Arbeiten in einer Botschaft
An der Botschaft musste ich mich komplett umgewöhnen, denn ich hatte noch nie in einer Behörde gearbeitet. Es galt, sich mit Titeln aus dem 19. Jahrhundert vertraut zu machen. Die vielen Abkürzungen! Es war wie Vokabellernen in der Schule.
In einer Botschaft gibt es zwei Ebenen:
An der Spitze der politischen/diplomatischen Ebene steht in einer Botschaft der Botschafter oder die Botschafterin. Die Angehörigen des Höheren Dienstes werden auf Englisch mit dem Titel „His oder Her Excellency“ angesprochen. An Konsulaten nimmt der Generalkonsul oder die Generalkonsulin diese Rolle ein .
Die zweite Ebene ist die Verwaltung. Da gibt es dann im Ausland einen Kanzler oder einen Kanzler I. Klasse! (Gehobener Dienst), dann kommt mittlerer Dienst, einfacher Dienst.

Mir war das sowas von egal, ich habe nur zwischen sehr nett, nett und gar nicht nett unterschieden! Ach, und die Hierarchie!!! Natürlich sticht der Ober den Unter! Heißt, was der Botschafter anschafft, wird gemacht.
Zwischen Höherem Dienst und Gehobenem Dienst gab es so manche Diskrepanzen, weil ein Botschafter meist null Ahnung von der Verwaltung hat. Sein Augenmerk richtet sich ja auf die politische Ebene.
Keine Ahnung, wie viele Note Verbale (= genau festgelegtes Procedere im Schriftverkehr zwischen den Auslandsvertretungen und den Ministerien im Gastland) mit vier Durchschlägen ich auf meiner Kugelkopf-Schreibmaschine getippt habe. PCs gab es ja noch nicht, dafür aber einen schwierigen Botschafter, der große Ansprüche an sich und das gesamte Personal stellte. Ansonsten hatte ich es mit netten entsandten deutschen und lokalen Kollegen und Kolleginnen zu tun.
Ein anderes Aufgabenfeld war, die zahlreichen Besuche deutscher Abgeordneter aus der Hauptstadt Bonn vorzubereiten und verwaltungstechnisch zu begleiten. Jeder Parlamentarier bzw. jede Parlamentarierin musste mit einer Verbalnote beim Außenministerium Maltas angemeldet werden. Da Malta damals noch nicht in der EU war, dieses Ziel aber anstrebte, herrschte eine rege Kommunikation mit europäischen Politikern.
Besuch des deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker
Das Highlight war im Frühjahr 1991 der Besuch unseres damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker plus Gemahlin plus großer Wirtschaftsdelegation. Die Vorbereitungen dazu begannen 6 Wochen vor dem Termin. Zwei Beamte vom Protokoll kamen angereist und gaben vor, was zu tun war. Bald lagen bei uns die Nerven blank! Es gab eine Urlaubssperre für alle, wir arbeiteten auch an den Wochenenden, die Telefone und Faxgeräte liefen heiß und das Kabuff (unser Fernmelderaum) war jeden Morgen voll mit gelben Telexschlangen, die entschlüsselt werden mussten. Ständig wurden das Programm und die Gesprächstermine geändert, etc…. Ich konnte es nicht fassen, was das für ein Aufwand war für einen zweitägigen offiziellen Besuch des Bundespräsidenten.
An Wochenenden hatte ich in regelmäßigen Abständen Ruf-Bereitschaft für gestrandete deutsche Touristen,Todesfälle (darunter 2 Suizide auf der Insel), Passverluste, Unfälle, Rückführungen, Visa-Anfragen. Es kamen bereits die ersten, nicht so reiseerfahrenen Ostdeutschen an die Strände Maltas, die unterstützt werden mussten.
Ich hatte auch privat viel Besuch, genoss den blauen Himmel, Sonne, Strand und High-life. Malta ist eine sehr geschichtsträchtige kleine Insel (ca 28 x 14 km groß) zwischen Sizilien und Libyen, zuletzt unter britischer Herrschaft, mit einem wunderschönen natürlichen Hafen, der neuen Hauptstadt Valletta und der alten wunderschönen Stadt Mdina in der Mitte der Insel. Es gibt viele Hotels und Discos, noch mehr B&B’s, unzählige kleine Läden und freundliche Malteser!

Es waren zwei sehr aufregende und arbeitsintensive Jahre. Ich habe viel gelernt, auch über mich und meine Ansprüche und Erwartungen an das Leben. Es würde mir gefallen, regelmäßig neue Länder zu sehen. Die Herausforderung an jedem neuen Einsatzort eine Wohnung zu suchen, mich an neue Cheffinnen oder Chefs sowie Kolleginnen und Kollegen zu gewöhnen, alle paar Jahre bei Null anzufangen, schreckte mich nicht ab, sondern reizte mich. Ich fand es spannend und anregend, mich mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Vertretungen auszutauschen, mit ihnen zu feiern und etwas zu unternehmen. Und immer und überall gab es die Sicherheit durch die deutsche Auslandsvertretung im Rücken. Es war ein privilegiertes „Zigeunerleben“. Ja, das wollte ich nun versuchen, fühlte mich fit dafür.
Immer unterwegs – immer neue Erfahrungen
Nach zwei Jahren Malta, als mein Vertrag abgelaufen war, ging es zurück nach München in meine Wohnung. Ich suchte mir Arbeit über eine Zeitarbeitsfirma. Eine sehr interessante Erfahrung für mich, unterschiedliche Unternehmen kennen zu lernen: Eine Firma, die alle Arten von Containern verkaufte und vermietete, danach ein Stromversorger und schließlich ein großer Chemiekonzern. Dieser zog Ende 1992 an den Rhein. Ich hätte mitgehen können, wollte aber nicht. Mich zog es wieder in die Ferne.

Ich bewarb mich nochmals beim Auswärtigen Amt (AA) in der Zentrale in Bonn. Da das AA händeringend Leute suchte, denn nach dem Fall der Mauer waren etliche DDR-Botschaften übernommen und personell aufgestockt worden, hatte ich mit meinen 40 Jahren noch eine Chance, als Entsandte übernommen zu werden. Ich wurde nun richtig geschult und 1995 von Bonn ans Generalkonsulat Manchester/GB versetzt. Einer meiner schönsten Posten, trotz der IRA-Bombe, die am 15. Juni 1996 im City Center hoch ging.

Während der Fußball-WM im Sommer 1996 betreute unser Konsulat die deutsche Fußball-Mannschaft in Manchester. Da habe ich mein erstes und letztes Fußballspiel (Deutschland – Kroatien) live gesehen! Naja, einen Fußballfan hat das aus mir nicht gemacht, auch wenn Deutschland diese WM in London gewonnen hat.

Im Oktober 1999 wurde ich noch für 6 Wochen nach Bonn versetzt und habe den Umzug meines Büros von Bonn nach Berlin mitgemacht.
Zurück nach Bonn und Umzug nach Berlin und Wien
Das hieß, alles in Kartons packen, was mitgenommen werden sollte. Fast gleichzeitig kam auch mein privater Umzug von Manchester in Berlin an.
Ab dem 13. Dezember befand sich mein neuer Arbeitsplatz in Berlin Mitte. Von Berlin wurde ich 2002 bis 2006 nach Wien versetzt. Im Dezember 2004 verstarb meine Mutter und ich wollte mal einen Härteposten: 2006 bis 2010 ging es nach Belgrad und im Sommer 2010 wurde ich endgültig nach Berlin versetzt.

Die Auslands-Standzeiten sind grundsätzlich begrenzt auf 4 Jahre in ’normalen‘ Ländern. Man sollte halt nicht unbedingt in einem Gastland Wurzeln schlagen (don’t fraternize with the enemy!) Ein wohl althergebrachtes Diplomatenprinzip?!
Meine absoluten Highlights waren die Posten auf Malta und in Manchester, dort habe ich mich vom ersten Augenblick an at home gefühlt. Wien war auch wie Heimat, nur 400 km von meiner Mama entfernt. Ihr ging es damals nicht mehr so gut und ich war schnell mal übers Wochenende daheim. (Zum Vergleich: nach Berlin waren es 500 km).

Versetzung 2002 an die hässlichste deutsche Botschaft (wienerisch Häfn – Gefängnis – genannt) in die schönste Stadt an der Donau: Wien.
Die Botschaft ist inzwischen abgerissen. Schloss Belvedere lag gleich um die Ecke.

Eine gefährliche Situation in Belgrad
Mein persönlicher Härteposten war Belgrad in Serbien. Der Balkan war eine Welt für sich und Belgrad noch gezeichnet von den NATO-Angriffen. Die Lage spitzte sich im Frühjahr 2008 zu, als sich das Kosovo am 17. Febr. als unabhängig von Serbien erklärte und Serbien das nicht anerkannte. Deutschland war einer der ersten Staaten, der die Unabhängigkeit anerkannte, andere folgten.
Es braute sich Unheil zusammen, das am 21. Februar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. In der Kneza Milosa Straße stand eine Botschaft an der anderen, auch unsere. An diesem Tag wurden die Botschaften mittags geschlossen, weil sich die Nachricht von einer geplanten Demonstration verbreitete. Solche Situationen bargen zum damaligen Zeitpunkt in Belgrad unkalkulierbare Risiken.

Tatsächlich hatte sich ein marodierender, von der serbischen Regierung angestachelter Mob auf den Weg gemacht und zog ab 17 Uhr brandschatzend von einer Botschaft zur nächsten. Müllcontainer und Autos gingen in Flammen auf, Fensterscheiben und Türen wurden eingeschlagen, Molotow-Cocktails flogen durch die Fenster. In unserer Botschaft waren nur noch drei Objektschützer (z. B. deutsche BGS-Beamte/Polizisten) im Haus. Sie lagen mit gezogenen Waffen auf dem Dach der Garage. Und es kam keine Polizei! In der US-Botschaft gab es zwei tote Unruhestifter. Es war eine sehr beängstigende Situation. Wir saßen lange Zeit fest und wussten nicht, wie es ausgehen würde. Schließlich hatte die Welt ja vor Jahren im Iran erlebt, wie leicht es passieren kann, dass Botschaftsangehörige zu Geiseln werden.
In Krisensitzungen wurden wir davor gewarnt, uns in der Öffentlichkeit auf Deutsch zu unterhalten und wir sollten große Menschenansammlungen vermeiden. Es gab noch weitere Zwischenfälle mit Ausländern in Cafes. Ich begann mich unsicher zu fühlen, habe auch allen meinen Freunden, die mich besuchen kommen wollten, abgesagt.

Dieses Leben entsprach nicht mehr meiner Vorstellung von interessanten Erfahrungen in einem fremden Land. Dies war beängstigend und schränkte die Bewegungsfreiheit aller Ausländer in einem vorher nicht gekannten Ausmaß ein.
Es gab noch ein paar positive Erlebnisse, wie zum Beispiel der Eurovision Song Contest im Mai 2008 zum dem die deutschen Vertreter, die No-Angels, zu einer Pre-Final Party in der Botschaft auftraten…

…. und die Geburtstagsfeier zu Ehren der britischen Queen Elizabeth II im Juni 2009 in der britischen Botschaft in Belgrad. Solche Einladungen habe ich gerne angenommen.
Die Krankheit weist den Weg zum Ausstieg
Im Rahmen einer Routineuntersuchung beim Gesundheitsdienst der Berliner Zentrale des AA im Sommer 2008, also noch während meines Einsatzes in Belgrad, wurde bei mir ein Gallengangskarzinom (Klatskin-Tumor) festgestellt. Die Symptome hatte ich ignoriert. Da ich mich auf keinen Fall in Belgrad operieren lassen wollte (die Zustände in den serbischen Krankenhäusern waren nicht europäischer Standard!!) reiste ich nach Regensburg, ohne zu wissen, ob ich jemals wieder nach Serbien zurück kommen würde. Im Oktober wurde ich in der Uniklinik Regensburg 6 Stunden lang operiert, kam nur langsam wieder auf die Beine. Die Reha musste ich sogar abbrechen. Über ein Vierteljahr war ich außer Betrieb, bevor ich wieder zurück nach Belgrad ging. Nach einem Jahr kam das Rezidiv und wieder eine OP in der Uniklinik Regensburg. Wieder dauerte es drei Monate, bis ich auf die Beine kam.
Nach dieser zweiten OP fasste ich den Entschluss, nicht länger als unbedingt nötig zu arbeiten. Ich war dem Tod zweimal von der Schippe gehüpft und nur dank meiner Heilpraktikerin wieder genesen!! Man sollte das Schicksal nicht zu sehr herausfordern, fand ich. Und ich war müde geworden: Die Technik überholte mich langsam aber sicher, die Anforderungen wurden immer mehr. Meine Eltern waren tot, das geerbte Haus vernachlässigt. Ich hätte mich noch auf einen schönen Posten eingelassen: Dublin oder Edinburgh. Aber das hat nicht geklappt. Also Zeit für mich aufzuhören.
Die Freundschaften, die ich mit den ‚Zurückgebliebenen‘ all die Jahre aufrecht erhalten hatte, wollte ich wieder intensivieren, meine Freizeit neu gestalten. Ein paar Ideen hatte ich schon, neue haben sich von selbst ergeben. Ich freute mich auf einmal sehr darauf, nach Hause zu meiner Familie zu kommen. Meine ehemalige Ehe-Wohnung hatte ich nach und nach modernisieren lassen. Es war ein Neustart. Und da alles so gut geklappt hat, bin ich mir heute noch sicher, dass es so sein sollte.
2010 ging es erst einmal zurück in die Zentrale nach Berlin. Während meiner zweiten Reha hatte ich einige aufschlussreiche Gespräche mit einem Therapeuten. Mir wurde klar, dass es mir nur eigentlich gut ging, dass ich in Wirklichkeit leicht depressiv geworden war. Er unterstützte mich in dem Entschluss, dem Berufsleben den Rücken zu kehren und wieder einmal ein neues Leben zu beginnen.
Ich erkundigte mich bei der Rentenanstalt, ab wann ich frühestens in Rente gehen könne. Mit 60,7 Jahren war es soweit. Ende August 2013 zog ich ein letztes Mal um: zurück in meine Heimatstadt. Und hier schließt sich der Kreis, aber ich kam zurück als eine andere Frau als die, die damals ausgezogen war, die Welt und sich selbst zu entdecken.
Blick zurück mit Gelassenheit und ohne Reue
Ja, diese 20 Jahre beim AA waren spannend und interessant. Ich habe viel gesehen und gelernt, bin interessanten Menschen begegnet und habe am eigenen Leib erfahren, wie es ist, als Ausländer in einem fremden Land zu leben. Wie überall gibt es gute und nicht so gute Erfahrungen. Fest steht, dass die in gewisser Weise typische Mentalität der Menschen in den jeweiligen Ländern eine Atmosphäre schafft, in der man sich wohl fühlt oder aber nicht. Geblieben sind Kontakte mit den unterschiedlichsten Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und die Gewissheit, dass ich mit Leib und Seele Europäerin bin.
Ich bin mit meinem Lebensweg im Reinen. Ja man kann sagen, dass ich auf Umwegen zum Lebensziel gelangt bin. Was soll ich sagen – ich habe es trotz aller emotionalen Verwerfungen zu keinem Zeitpunkt bereut, diesen Weg gegangen zu sein. Eigenartiger Weise habe ich mich in diesen 20 Jahren meines unruhigen Lebens nie einsam gefühlt. Stimmt, es gab den einen oder anderen Mann in meinem Leben nach der Ehe, aber keiner hätte mich mehr vor den Standesbeamten gebracht! Bin nicht geeignet für die Zweisamkeit.
Ich habe es geschafft, unabhängig zu sein, meine Träume vom Reisen umzusetzen und ein für mich erfülltes Leben zu leben. Ein Leben fern von dem, was mir als Vollzeit-Mutter, -Hausfrau und vermutlich auch Ehefrau möglich gewesen wäre.
Diese Rollenbilder waren in meiner Jugend als ideale Zukunftsperspektiven aufgebaut worden. Eine Weile folgte ich diesen Vorstellungen, bis ich an meine Grenzen kam. Sich zu lösen, die Erwartungen der Familie ohne erkennbaren Grund, ohne äußeren Anlass, ohne bessere Perspektive oder Alternative zu enttäuschen, war ein unvorstellbarer Kraftakt. Ich habe lange mit mir gerungen, aber ich konnte nur nach vorne preschen.
Weil ich es damals schaffen wollte, auf eigenen Beinen zu stehen und unabhängig – sowohl emotional, aber noch wichtiger finanziell – zu sein, habe ich es auch geschafft. Das Geheimnis: Ich habe ganz einfach an mich geglaubt!
Der Preis für das Leben meiner Wahl
Natürlich hab ich für dieses Leben einen Preis bezahlt, genau wie meine Familie. Was Konrad, mein Ex-Mann, mit den Kindern erlebte, erfuhr ich nur am Rande. Er hat wieder geheiratet und ich hoffte, dass er und die Jungs glücklich würden.
Meine Kinder habe ich nur sporadisch gesehen. Sie besuchten mich in den Ferien, wo auch immer ich gerade einen Posten inne hatte. Und auch während meiner Heimaturlaube haben wir uns gesehen. Mein Verhältnis zu ihnen würde ich heute als gut bezeichnen, was natürlich nicht immer so war. Ich halte mich zurück, weiß nämlich, dass ihre Stiefmutter sie noch sehr gut ‚beschäftigt’. Sie wohnt nämlich im gleichen Dorf wie meine beiden Söhne und hat immer wieder mal dringende Aufgaben für sie. Wie alle erwachsenen Kinder sind sie manchmal etwas genervt, sorgen aber dennoch engagiert für ihre Stiefmutter, die keine eigenen Kinder hat. Aber natürlich wird auch mir geholfen, besonders in Sachen Internet und Handy.
Ich hinwiederum kann heute für meine Jungs da sein, wenn sie Hilfe brauchen. Mit dieser Rolle als Mutter komme ich gut klar.
Mit der Stiefmutter bin ich sogar seit dem Tod meines Ex-Mannes 2013 per du und wir sehen uns auch ab und zu bei Familienfesten. Sein qualvolles Ende hat mich sehr mitgenommen. Er starb kurz nachdem ich für immer in meine Heimatstadt zurückgezogen war.
Mein Leben heute
Durch meine Krankheit bekam ich nochmal einen anderen Blick aufs Leben: Ich wurde gelassener, nehme das an, was kommt, denn ich muss mir nichts mehr beweisen. Vor Corona hatte ich mir ein schönes Wochenkonzept zusammengestellt: Ich habe weiter VHS-Kurse (Volkshochschulkurse) ‚English Conversation‘ besucht, solange es noch möglich war. Der englischen Sprache gehört nun mal seit über 50 Jahren meine Liebe. Aus diesem Grund besitze ich auch viele englischsprachige Bücher.
Ganz ohne Aufgaben ging es aber in meinem Leben auch nicht. Das Ehrenamt im Oxfam-Shop einmal wöchentlich 5 Stunden macht mir Riesenspaß und ich kümmere mich immer donnerstags um eine ältere Dame (fast 90). Sie ist auf mich zugekommen, als wir beide am Konversations-Kurs an der VHS teilnahmen. Jetzt kaufe ich für sie ein und hole sie vom Friseur ab. Vor Corona war es noch schöner. Nach ihrem wöchentlichen Friseurbesuch konnten wir gemeinsam zum Essen gehen.
Hobbys habe ich mir natürlich auch zugelegt. Ich bin leidenschaftliche Flohmarktgängerin. Ich mache ein bisschen Seidenmalerei und Glasfusing, aber hauptsächlich nähe ich Säckchen für meine Lavendelernte, die ich dann in diesen Säckchen verkaufe. Und, dank des Handarbeitsunterrichts in der Klosterschule, die ich besucht habe, nähe ich gern mal etwas für die Familie, was diese gern annimmt.
Ich führe jetzt das geruhsame Leben einer Rentnerin, die ihre Träume verwirklicht hat, als es an der Zeit war, sie zu verwirklichen. Nun kann ich ausruhen und lasse es mir am liebsten gutgehen. (HF)
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