Altersgerechte Herzgeschichten
- anon
- 20. Nov. 2022
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni 2023
(DE) Ein stechender Schmerz schießt von der Brust die Kehle hoch und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ganz flach hechelnd richte ich mich auf und stehe nur noch vorsichtig atmend vor meinem Bett, unter dem ich gerade wischen wollte. Dies sollte der letzte Teil meiner Wohnung sein, den ich putzte, um endlich die Ferien zu genießen und auf die Ankunft meines Sohnes mit seiner Frau aus Thailand zu warten.
Endspurt und Vorfreude
Günther, mein Exmann und Vater meines Sohnes, hatte während der letzten Schulwoche noch das große Zimmer, die Küche und den Flur geweißelt, weil die Kinder ein kuscheliges Nest vorfinden sollten.
Ich hatte bereits seit Monaten umgeräumt und in diesen letzten heißen Juli- und Augusttagen alles Mögliche erledigt, was noch anstand: Abschlussarbeiten des extrem anstrengenden, aber auch erfolgreichen Schuljahres mit unserem Pilotprojekt, Projekte der letzten Schultage, Klärungsbedarf beim Kreisverwaltungsreferat, Renovierungsarbeiten in der Wohnung, stechende Schmerzen am linken Schulterblatt behandeln, Verspannungen wie ich vermutete, und nun, nach Günthers Abreise, putzen und sich noch um den Schutz vor der brennenden Sonne am Küchenfenster kümmern. Die Küche ist nämlich seit Monaten wegen der Großbaustelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf die Wohnzimmer- und Schlafzimmerfenster gehen, der einzige ruhigere Raum.
Eigendiagnose
Und nun das! Ganz offensichtlich wieder dieses schmerzhafte Sodbrennen, das ich vor zwei Jahren schon einmal so schlimm gehabt hatte, als ich mein Fahrrad aufpumpen wollte. Wochenlang hatte ich nur gedünstetes Gemüse gegessen, wenig Fleisch und keine Süßigkeiten. Zum Schlafen hatte ich im Bett gesessen und dennoch hatte ich mich nur langsam erholt. Der Hausarzt hatte mir ein Magenmittel verschrieben. Es wurde besser und ich genas.
Jetzt ist es wohl wieder soweit. Stress, Hitze und die gleiche Körperhaltung, gebückt beim Radlaufpumpen sowie beim Wischen unter dem Bett, haben wohl wieder für das Hochschießen der Magensäure gesorgt. Der gewaltige Schmerz baut sich nur langsam ab und ich wage nicht mehr, mich zu bücken. Dafür setzt bleierne Müdigkeit ein. Meine Beine tun beim Gehen weh. Ich schleppe mich durch die Tage, versuche Medikamente für den Magen zu bekommen. Rufe meine Freundin an, die immer Tipps hat oder vielleicht auch weiß, was ich tun könnte.
Ich weiß nicht mehr, wann genau welche Schmerzen auftauchen und wieder abflauen. Wann ich schlafe, wann ich versuche, meinen Hausarzt aufzusuchen, der leider im Urlaub ist. Wann ich versuche, die Urlaubsvertretung aufzusuchen, die gerade keine Sprechstunde hat. Wann ich nochmals versuche, meine Freundin anzurufen, die nicht zurück ruft.
Niemand scheint noch in München zu sein. Ich bin ganz allein.
Höhepunkt
Als ich mich am Abend des 03. August 2016 ins Bett legen will, brennt mein Schultergürtel lichterloh. Ich sitze im Bett. Suche nach einer Stellung, in der sich der Schmerz beruhigt. Ich sitze am Bettrand, lasse den Kopf tief hängen und hechle. So ist es noch am erträglichsten. Der Schweiß läuft in Strömen über meinen Körper. Ich habe das Gefühl erbärmlich zu stinken. Um 5 Uhr schleppe ich mich ins Bad, um zu duschen und mich für meinen Arztbesuch herzurichten. Eine Spinne hängt von der Decke im Bad. Die muss ich entfernen. Hilft nichts! Ich will ein Schmerzmittel gegen diese fürchterlichen Verspannungen, die durch das Verätzen aus dem Magen entstanden sind. Das ist meine Selbstdiagnose, weil es ja schon einmal so war. Dann kann ich mich ausruhen, entspannen, schlafen und schmerzfrei aufwachen. Dann kann ich endlich Ferien machen und alles wird gut.
Arztbesuch
Ich schaffe es nicht pünktlich zum Arzt. Alles dauert so lang und ich schleppe mich, flach atmend zur Praxis des Internisten, der meinen Hausarzt vertritt.
Die Arzthelferin hat Mitleid mit mir und setzt mich nicht ins übervolle Wartezimmer. Die Wartezeit nehme ich nicht bewusst wahr, aber als ich endlich zum Arzt vorgelassen werde, schildere ich ihm meine Symptome und liefere die Diagnose gleich mit. Verspannungen! Therapie: Schmerzmittel! Der Arzt ist skeptisch. Er tippt auf eine rheumatische Erkrankung und Depression. Naja, depressiv fühle ich mich schon, aber zuerst die Schmerzen bekämpfen! Das wäre schon hilfreich. Ich bin nämlich am Ende meiner Kräfte nach dieser Nacht.
Mein Wunsch geht in Erfüllung und ich bekomme starke Schmerzmittel verschrieben und er nimmt Blut ab. Auch gut. Hauptsache Schmerzen bekämpfen! Erleichtert nehme ich das Medikament ein, lege mich mit meiner Decke in den bequemen Sessel, fühle regelrecht, wie sich der Schmerz vor dem Mittel zurück zieht und endlich, endlich schlafe ich ein. Alles ist gut.
Mediziner bei der Arbeit
Das Telefon reißt mich aus dem wohlverdienten Schlaf. Die Schmerzen sind fast verschwunden, es geht mir viel besser. Das sage ich auch dem Arzt, der durch die Entzündungswerte im Blut alarmiert ist und anruft. Ich müsse ins Krankenhaus, denn ich hätte eine große Entzündung im Körper, die behandelt werden müsse. Ob ich den Überweisungsschein für das Krankenhaus abholen könne, dann müsse er ihn nicht faxen. Er würde auch das Krankenhaus verständigen.
Ich packe meinen Rucksack mit Krankenhaussachen. Mein Exmann ruft an und ich weine, sage, dass ich so alleine sei und lasse mich trösten. Er kann herrlich abwiegeln. Mein Nachbar steht an der Tür. Auch ihm erzähle ich, dass ich ins Krankenhaus müsse und bestimmt morgen schon wieder zurück sein würde. Er bietet an, mich zu fahren, was ich aber ablehne. Bis zum Krankenhaus und vorher noch zum Arzt, das kann ich zu Fuß gehen. Mir geht`s ja wieder viel besser. Im Krankenhaus warte ich auf die Aufnahme, dann warte ich auf die Interpretation des EKG. Die junge Ärztin misst nervös mit einem Lineal an den Kurven des EKG herum. Verschwindet wieder. Andere Ärzte oder Pfleger kommen, nehmen den Ausdruck mit, sagen, dieser sei nicht ganz unauffällig und auch das Gegenteil, nämlich dass er unauffällig sei. Ich liege stundenlang im Untersuchungszimmer. Als ich schließlich anbiete, dass ich ja nach Hause gehen und morgen wiederkommen könne, wird die junge Ärztin ungehalten. Ich solle sie ihre Arbeit machen lassen, schnauzt sie mich an. Jetzt habe ich aber wirklich Angst. Ihre Unsicherheit ist deutlich zu spüren und ich fühle mich hilflos. Auf die Idee, einen anderen Arzt anzufordern, komme ich nicht. Dazu bin ich zu erschöpft.
Unsicherheit auf beiden Seiten
Die diensthabende Ärztin, die mich an meine Schülerinnen der Q 12 erinnert, hätte vielleicht sogar begrüßt, wenn ich sie durch einen Ruf nach ihrem Vorgesetzten von der Verantwortung erlöst hätte. Unfreiwillig belausche ich ein Gespräch in dem Zimmer, in dem ich seit langer Zeit herumliege. Die junge Ärztin fragt leise einen Kollegen, ab wann man den Chef um Hilfe bitten könne. Er antwortet sehr diplomatisch, dass sie jederzeit sagen könne, sie fühle sich überfordert. Das ist ihr dann doch nicht geheuer. Sie verschwindet wieder, kommt wieder. Andere kommen dazu. Schließlich ist ein erfahrener Arzt darunter. Und plötzlich ruft jemand „Herzinfarkt“.
Allseitige Erlösung
Jetzt geht alles schnell. Ab ins Herzkatheder-Labor. Während sie mich auf dem Bett ins Labor schieben, höre ich, wie der junge Kollege, der seine junge Kollegin so gut beraten hatte in ihrer Not, einem ebenso jungen Arzt zuflüstert, dass er nicht verstehe, wie ihr das hatte passieren können. Sie sei schließlich sonst immer so kompetent gewesen.
Herzinfarktpatienten haben, nach Meinung junger Ärzte, wohl automatisch einen Gehörschaden. Und manche junge Ärzte sind wohl intriganter als sie sein sollten.
Ich bin seltsamerweise nicht beunruhigt über die Diagnose und die Therapie, sondern erleichtert. Die Leute scheinen nun zu wissen, was sie zu tun haben. Man redet beruhigend auf mich ein. Ich sehe auf einem Bildschirm mein armes Herz schlagen. Der ältere Arzt macht sich ganz locker. Stellt fröhlich fest, dass die Engstelle wohl nicht erst seit gestern existiere. Er äußert freudig seine Zufriedenheit mit den gesetzten Stents. Fragt mich, ob ich Druck in der Brust spüren würde. Als ich bejahe, bricht er für diesen Abend das Setzen von Stents ab, entfernt den Katheder aus der Leiste und lässt mich auf die Intensivstation bringen.
Dort liegt schon jemand. Es piept und brummt. Ich bin an Messgeräte angeschlossen und liege auf dem Rücken. Es ist nicht ganz dunkel hier und wahrlich auch nicht still.
Aber ich bin müde, vermutlich von Beruhigungsmitteln. Ich habe nicht so recht verstanden, was eigentlich los war oder ist. Ob ich richtig schlafe oder nur entspannt döse? Ob so ein Herzinfarkt Konsequenzen hat? Muss ich jetzt nicht mehr so hart arbeiten? Auf den Gedanken, in Lebensgefahr zu schweben, komme ich jedenfalls nicht. Egal, ich bin ruhig und fühle mich geborgen. Ich bin nicht allein mit dem Problem. Wann ich mir mein Handy geben lasse, um Günther zu verständigen, weiß ich nicht. Ich spreche auf den Anrufbeantworter. Ich hätte einen Herzinfarkt, aber mir gehe es gut und keinesfalls solle er unseren Sohn in Thailand verständigen. Ich bin ja nicht mehr allein und werde versorgt und beschützt. Das ist das Wichtigste komischerweise. Ich habe keine Angst mehr davor, etwas unternehmen und entscheiden zu müssen, tausend Fragen zu beantworten und die Unsicherheit anderer auszugleichen. Ich bin momentan für nichts mehr verantwortlich. An Sterben, Tod und Lebensgefahr denke ich nicht einmal ansatzweise, habe auch nicht die geringste Angst davor. Alles ist gut und wird gut sein. Vielleicht ist das der Grund für meine gute Konstitution bei dem beunruhigenden Befund, wie das Pflegepersonal und auch die Ärztin Tage später erstaunt feststellen.
Folgen und weitreichende Veränderungen
Die Geschichte meines Herzinfarkts endet hier und es beginnt die Nach-Infarkt-Zeit. Ich habe an drei Tagen sechs Stents gesetzt bekommen. Mein Herz ist geschädigt, was ich aber nicht wirklich spüre. Mein regelmäßiger Tablettenkonsum ist von 0 auf 7 pro Tag gestiegen. Aber auch daran habe ich mich gewöhnt. Der Aufenthalt in einer Rehaklinik sollte mich stabilisieren und im Umgang mit meiner Erkrankung sicherer machen. Leider war genau das Gegenteil der Fall. Ich entwickelte Panikattacken und eine tiefe schwere Depression, die trotz Therapie lange anhielt. Die Krankenkasse fand diese Entwicklung äußerst bedenklich und ergriff Maßnahmen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Mein Leben hat sich jedenfalls von Grund auf verändert. Ich ging schließlich in Rente und begann ganz langsam ein neues Leben aufzubauen. (TA)

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