WG Geschichten - die Idee der Wohngemeinschaft - Berlin der 70er und 80er Jahre
- lisaluger
- 25. Dez. 2022
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juni 2023
(DE) Athen, Mai 2017. Ich bin 63 Jahre alt und sitze in der Küche einer großen 4-Zimmer-Wohnung mitten in der griechischen Hauptstadt und starre auf den Berg von Abwasch, der sich in der Spüle und auf der Ablage aufgestapelt hat. Ich ziehe vorsichtig wie beim Mikado eine Tasse aus dem Abwaschberg und spüle sie. Dann genieße ich meine Tasse Tee, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit mache.
Ich arbeitete zu dieser Zeit als ehrenamtliche Helferin in einem Haus für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Die Hilfsorganisation hatte für uns Ehrenamtliche eine günstige Wohnung in der Nähe der Flüchtlingsunterkunft organisiert. Zu siebt lebten wir nun einige Wochen in dieser Wohnung zusammen.
Meine Mitbewohnerinnen waren junge Frauen Anfang 20. Ich hätte fast ihre Oma sein können. Sie kamen aus Spanien, Portugal, USA, England, Mexico. Alle wollten helfen, das Leben der Flüchtlinge etwas leichter zu machen. Meine Mitbewohnerinnen waren liebenswürdige und hilfsbereite Menschen und wir hatten eine gute Zeit und viel Freude miteinander. Lediglich die Sache mit dem Abwasch und der Sauberkeit klappte nicht so recht, wie dieser Morgen in der Küche zeigte. Ein nur zu bekanntes Szenario!
Ich fühlte mich zurück versetzt in meine Wohngemeinschaftszeit in Berlin vor 30/40 Jahren. Und das hatte nicht nur mit dem Abwaschberg zu tun, sondern auch damit, dass es damals wie auch 2017 eine Herausforderung war, mit fremden Menschen ein Zuhause zu teilen.

Warum tut sich jemand so etwas an? Welche Vorteile bietet eine Wohngemeinschaft? Welche Erwartungen haben die Wohngemeinschaftsmitglieder an diese Lebensform.
Es gibt auf diese Fragen viele unterschiedliche Antworten. Praktische und finanzielle Gründe! Mehr Spaß und weniger Einsamkeit! Antihaltung gegenüber Kleinfamilie, Bürgerlichkeit und Spießertum!
In den 70er Jahren, als ich meine ersten Wohngemeinschaftserfahrungen machte, trafen alle Gründe irgendwie zu.
Lebensumstände im Berlin der 70er
Ich zog 1977 nach Berlin, um auf dem 2. Bildungsweg mein Abitur nachzumachen. Die staatliche Studienbeihilfe Bafög von 600 DM war niedrig. Die Schulgebühren von 150 DM monatlich rissen ein großes Loch in meinen schmalen Geldbeutel. Daher waren meine Optionen bei der Wohnungssuche stark begrenzt.
Zum Glück gab es damals in Berlin noch viele unrenovierte billige Wohnungen, meist mit Kohleheizung. Meine erste Bleibe in Berlin-Moabit war eine 1-Raum-Wohnung mit Küche, Kohleheizung, ohne Bad, mit Außentoilette, die ich mit meiner alten Nachbarin teilte. Das war nicht gerade luxuriös, aber billig: 77 DM Kaltmiete im Monat. Im Winter musste man natürlich noch Kohle zum Heizen besorgen. Das war der Lebensstandard, den man sich damals als Studentin in Berlin gerade mal leisten konnte.
An die Kachelofenheizung konnte man sich gewöhnen, wenn man denn einen regelmäßigen Lebensstil hatte und morgens und abends Kohlen nachlegte. Die einzige Waschgelegenheit in der Küche und die Außentoilette waren aber schon gewöhnungsbedürftig.
Vor allem nachts wollte ich meine sichere Wohnung nicht so gern verlassen, um zur Toilette zu gehen. Es kostete mich jedes Mal Überwindung, meine Wohnungstür zu öffnen und über den Hausflur zu huschen, in der Hoffnung, dass ich niemandem begegnete.
Manches Mal, meist freitags, musste ich über unseren betrunkenen Nachbarn steigen, wenn er die letzten Stufen zu seiner Wohnung ein Stockwerk über mir nicht mehr geschafft hatte und auf der Treppe schnarchend seinen Rausch ausschlief.
Das und der Wunsch nicht mehr allein zu leben, führte dazu, dass ich mich nach anderen Optionen umsah.
Meine Klassenkameraden waren in einer ähnlichen Situation. Manche wohnten wie ich alleine, andere mit Partnern bzw. Partnerinnen oder in einer Wohngemeinschaft.
Verschiedene Wohngemeinschaftsformen
Einige aber lebten in irgendeiner Form von Wohngemeinschaft. Wildfremde Menschen wohnten zusammen und teilten sich Miete und Nebenkosten für eine große Wohnung oder Freunde hatten sich zusammengetan, um eine Wohngemeinschaft zu gründen. Meist waren die Wohngemeinschaftsmitglieder im selben Alter, befanden sich in ähnlichen Lebenssituationen und hatten ähnliche Interessen.
Es gab auch Wohngemeinschaften mit Kindern als alternatives Lebens- und Erziehungskonzept zur bürgerlichen Kleinfamilie.
Andere probierten neue alternative Lebensformen aus. Sie brachen teilweise radikal mit allen möglichen Konventionen.
So war es zum Beispiel in der Wohngemeinschaft einer meiner Klassenkameradinnen, bei der ich mich öfter zur Gruppenarbeit einfand.
Deren Wohnung war in Funktionsräume aufgeteilt. Es gab ein Gemeinschaftszimmer mit Küche, wo man sich meist aufhielt. Dann gab es noch ein Gemeinschafts-Schlafzimmer, in dem sich jeder der sechs Bewohner in eine Ecke oder Nische zum Schlafen verziehen konnte. Privatsphäre oder Rückzugsmöglichkeiten waren nicht vorgesehen. Man war immer in Gemeinschaft.
Als Sprössling einer Großfamilie war mir das nicht ganz fremd, aber an die ständige Präsenz von Fremden musste sogar ich mich erst gewöhnen.
Woran ich mich jedoch nicht gewöhnen konnte, war, dass Badezimmer und Toiletten keine Türen hatten. Auch bei diesen intimen Tätigkeiten sollte die Gemeinschaft nicht ausgeschlossen sein. Vermutlich ging es darum, spießige Hemmungen und Schamgefühle abzubauen und sich davon zu befreien.
Aber ich fühlte mich einfach zur Schau gestellt und konnte das zwar als Gast zur Not manchmal kurz aushalten, hätte aber auf Dauer vermutlich unter chronischer Verstopfung gelitten. Das war also nicht meins.
Ich kann mich auch erinnern, dass einige Freunde zwei Etagen in einer alten Manufaktur gemietet und mit viel Mühe in einen abenteuerlichen Wohnraum umgewandelt hatten. Sie durchbrachen die Decke zwischen den beiden übereinander liegenden Wohnungen und verbanden sie mit einer wackligen Leiter. Damit hatten sie eine engere Verbindung geschaffen, als sie gewöhnliche Nachbarn in einem Mehrfamilienhaus haben.
Andere meiner Freunde hatten gemeinsam ein Haus besetzt und mehr oder weniger notdürftig renoviert, um es bewohnbar zu machen. Da wohnten sie mit Kind und Kegel und Gänsen und Hühnern im Hinterhof mitten in Berlin-Kreuzberg.
Im Berlin der 70er und 80er war alles möglich. Ich habe diese Wohngemeinschaft wirklich gern besucht, bin aber auch gern wieder nach Hause gegangen.
Bewerbungsgespräche für einen Platz in der WG
Um Mitglied einer Wohngemeinschaft zu werden, musste man entweder Leute kennen, die wussten, wo demnächst ein Zimmer in einer WG frei wird, oder man musste selbst aktiv werden und Freunde finden, mit denen man eine Wohnung suchen wollte.
Manche Wohngemeinschaften inserierten in einschlägigen Blättern wie Stadtteilzeitungen oder machten einen Aushang an der Schule oder Uni. Man musste sich vorstellen wie bei einem Bewerbungsgespräch.
Ich machte auch ein paar dieser eher nervenaufreibenden Vorstellungsrunden mit. Man saß, meist in der Küche, den versammelten Wohngemeinschaftsmitgliedern gegenüber und versuchte möglichst witzig, clever und sympathisch zu wirken, was nicht leicht fällt, wenn man einer Front von misstrauisch lauernden Fremden gegenübersitzt und von oben bis unten kritisch beäugt wird. Denn schließlich wollten alle herausfinden, ob man zusammen wohnen konnte und wollte. Ein typischer Einleitungssatz beim Bewerbungsgespräch für ein Zimmer in einer WG war daher zum Beispiel: Ich bin wohngemeinschaftserprobt, tolerant und flexibel….
Ich hatte Glück bei meiner ersten Suche nach einem Platz in einer WG. Ein paar Frauen in meiner Schule hatten eine Wohnung gefunden und suchten nach einer Mitbewohnerin. Wir kannten uns, hatten ähnliche Interessen und Lebensumstände und so hat es geklappt.
Gemeinschaftsleben bei größtmöglicher Unabhängigkeit
Ich bin in den 20 Jahren die ich in Berlin wohnte dreizehn Mal umgezogen. Das heißt aber nicht, dass ich ein besonders unsteter Mensch bin, und es ist auch kein Indiz für die Untauglichkeit von Wohngemeinschaften.
Es war mein Lebensstil in dieser Zeit. Ich befand mich öfter auf längeren Studienreisen im Ausland und es war nicht immer möglich oder erwünscht, mein Zimmer monatelang unterzuvermieten. Bei meiner Rückkehr bin ich oft vorübergehend bei Freunden untergekommen, bis ich wieder eine geeignete Bleibe gefunden hatte.
In meiner Berliner Zeit habe ich mit wenigen Ausnahmen immer in WGs gewohnt, erst als Studentin und später auch als berufstätige Frau. Wohngemeinschaften waren eine pragmatische Lebensform in diversen Lebensphasen. Die Gemeinschaft in WGs war zu einem gewissen Grad unverbindlich. Man plante keine langfristige gemeinsame Zukunft. Vielmehr schätzte man das Gemeinschaftsleben bei größtmöglicher Unabhängigkeit. Wenn sich Bedürfnisse änderten, hatte man jederzeit die Möglichkeit, seine Koffer zu packen und zu gehen. So eine Einstellung wurde dadurch begünstigt, dass häufig der oder die verantwortliche Mieterin beim Auszug nicht kündigte, sondern andere die Zimmer bzw. die Wohnung übernahmen. Der Mietvertrag blieb in den Händen des Erstmieters, der vertrauensvoll davon ausging, dass die Untermieter zuverlässig die Mieterpflichten übernahmen, das heisst, die Miete bezahlten. Den Verwaltungsakt von Kündigung und Mietvertrag konnte man sich ersparen. Mieterhöhungen bei Mieterwechsel wurden dadurch ebenfalls gering gehalten.
Heutzutage kann ich mir nur schwer vorstellen, mit vielen Menschen zusammenzuleben. Ich brauche mehr Privatsphäre als früher und will auch öfter meine Ruhe haben. Trotzdem denke ich immer wieder gern und manchmal auch ein bisschen sehnsüchtig an meine Wohngemeinschaftszeiten, meine Freunde und unsere gemeinsamen Erlebnisse.
Einige Erfahrungen und Erinnerungen an das gemeinschaftliche Leben sind unter der Rubrik WG-Geschichten beschrieben. Wir möchten mehr Menschen dazu einladen, ihre Geschichten hier zu teilen.(LL)
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