Busgeschichten 3 – Panik und der kleine dicke Mann
- lisaluger
- 20. Nov. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Juni 2023
Auf der Fahrt von Santa Marta nach Barranquilla, Kolumbien, Februar 1988
Während meiner diversen Südamerikaaufenthalte reiste ich meist mit dem Bus. Es gibt große und luxuriösere Busse für Touristen und besser gestellte Einheimische und kleinere oder sehr einfache und nicht unbedingt bequeme, etwas in die Jahre gekommene abenteuerliche Gefährte. In so einem mit 30 Mitreisenden voll besetzten Minibus saß ich an diesem Tag neben einem kleinen dicken Mann und genoß wie immer die Landschaft. Zuerst waren wir an der Küste entlang gefahren, aber nun führte die Straße ein Stück ins Landesinnere, an den Bergen der Sierra Nevada von Santa Marta vorbei, was ebenfalls herrliche Aussichten von meinem Platz am Fenster aus bot.

Und da sah ich ihn! Einen einsamen Autoreifen, der sich anschickte unseren Bus zu überholen! Wer jemals so etwas erlebt hat, weiß, dass man eher gewillt ist, an Geister zu glauben, als an die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Gefährt in voller Fahrt einen Reifen verloren hat. Aber so war es wohl, denn Sekunden später neigte sich der Bus nach rechts und der Fahrer hatte ersichtlich Mühe, den Bus in der Spur zu halten. Der unbereifte Achsschenkel schleifte Funken sprühend über die geteerte Fahrbahn. Es rauchte und stank ganz erbärmlich.
Die Passagiere, die zuerst noch den Atem angehalten hatten, gerieten nun in Panik und schrieen und kreischten durcheinander. Sie hatten Angst, dass der Bus in Flammen aufgehen würde und sie in einer tödlichen Falle säßen, was ja ein durchaus realistisches Szenario war.
Aber der Busfahrer wusste sich zu helfen. Er steuerte den schwer lenkbaren Bus an den Straßenrand, sodass der Achsschenkel nun nicht mehr auf dem Asphalt, sondern auf Sand rieb. Das stoppte die Reibungshitze und damit auch den Funkenflug und folglich war die Gefahr eines Feuers weitestgehend gebannt. Schließlich brachte er den Bus noch zum Stehen, der nun reichlich schief am Straßenrand hing. Soweit so gut!
Der Busfahrer öffnete die Tür und forderte alle Passagiere auf, den Bus zu verlassen.
Panisch versuchten nun 30 Fahrgäste mitsamt ihrem Hab und Gut durch die einzige Tür nach draußen in Sicherheit zu gelangen. Doch natürlich war der Gang zur Tür sofort völlig verstopft, was die Panik noch steigerte. Aufgeregtes Drängeln und Schieben und lautstarkes ungeduldiges Anspornen der Vorderen, doch endlich weiterzugehen, den Weg freizumachen, sich schneller zu bewegen!
Mein kleiner dicker Nachbar sah den Weg zur rettenden Tür versperrt und, angetrieben von Fluchtinstinkten, versuchte er durch das Busfenster ins Freie zu gelangen. Aber er hatte sich in seiner Panik verschätzt. Das Fenster war zu klein für seinen Bauchumfang und er blieb hoffnungslos stecken. Der Oberkörper ragte aus dem Bus hinaus, die untere Körperhälfte hing zappelnd im Inneren des Busses. Es ging nichts mehr, weder vor noch zurück.
Einige Fahrgäste und ich versuchten nun, ihn zu unterstützen und ihn nach draußen zu schieben. Aber das wollte nicht klappen. Außerdem berieten wir uns darüber, ob die Verletzungsgefahr für ihn nicht zu groß wäre, wenn er auf die Straße fiele. Also beschlossen wir, ihn lieber wieder in den Bus hereinzuziehen. Das aber wiederum versetzte den kleinen dicken Mann im Fenster in wilde Panik. Entschlossen wehrte er sich, stemmte sich mit den Händen und dem ganzen Oberkörper gegen das Zurückziehen der Mitreisenden in den vermeintlich brennenden Bus.
Wir, die wir im Bus an seinen Füßen zerrten, redeten auf ihn ein. Die inzwischen ausgestiegenen Fahrgäste versuchten ihn von draußen zur Vernunft zu bringen. Es war ein riesengroßes Palaver um die Rettung des stecken gebliebenen kleinen dicken Mannes. Ergebnislos!
Als ich resigniert durch den nun leeren Gang mit meinem Rucksack zur Bustür ging und ausstieg, hing er immer noch im Fenster.
Inwischen hatten einige Fahrgäste den abtrünnigen Reifen wieder eingefangen und zurückgebracht. Andere Busfahrer stoppten und steuerten zur Reparatur Muskelkraft und einige Schraubenmuttern bei. Als die Reise weiterging, saß der kleine dicke Mann wieder neben mir, völlig erschöpft und ganz still.
Welchen Weg er nun aus dem Bus genommen hatte, habe ich nie erfahren.
(LL)
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