Versorgung in den 50ern - (k)ein Hexenwerk
- lisaluger
- 8. Dez. 2022
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juni 2023
(De): In den 50ern und 60ern war es für kinderreiche Familien mit wenig Geld selbstverständlich, so weit wie möglich von den Erträgen aus dem Garten zu leben– wenn man einen hatte. Unser Garten war nicht gross, aber im Sommer hatten wir gelbe Rüben (gemeint sind Karotten), rote Beete, Zwiebeln, Salat, Gurken, Tomaten, Wirsing, Blumenkohl, Kohlrabi; an Früchten ernteten wir Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeere, Stachelbeeren, Äpfel, Birnen, Aprikosen, Pflaumen, und Kirschen. Sogar für ein paar Blumen war Platz im Garten, aber die waren nur zum anschauen.
Um die Versorgung in den 50ern zu gewährleisten, mussten diese Schätze für die Vorratshaltung zubereitet werden, denn der nächste Winter kam bestimmt. Und selbst im Frühjahr konnte man noch kaum etwas ernten. Für diese Jahreszeiten wurde Marmelade gekocht, Saft gepresst, Obst eingeweckt. Aus kleineren Gurken machte die Mutter Essiggurken. Eier wurden im Kalkwasser in einem Steingutfass eingelegt und konnten so 3-6 Monate gelagert werden. Das alles wurde im Keller in der Speisekammer fachgerecht gelagert, nicht zu hell, nicht zu feucht und schön kühl.
Unsere täglichen Kartoffeln gib uns heute
Als im Frühling 2020 der Covid Lockdown bevorstand, hamsterten viele Leute nicht nur Toilettenpapier, sondern auch Nudeln. Offensichtlich zählen Nudeln zu den haltbaren Hauptnahrungsmitteln in unserer Zeit. Das war nicht immer so. Lange Zeit kam diese Ehre in Deutschland der Kartoffel zu. Als ich Kind war, gab es Nudeln nur selten, wenn dann hausgemachte Spätzle. Nudeln kannten wir nur als Maccaroni, die langen dicken Röhrennudeln. Später hatten wir öfter Miracoli, das erste Halbfertiggericht in einer Packung mit Spagetti, Tomatenmark, einer Würzmischung und Hartkäse, das 1961 in Deutschland eingefuehrt wurde und zu einem der beliebtesten Fertiggerichte wurde. Das war etwas besonderes. Doch meist gab es Kartoffeln oder Brot.

In einer Nische der Speisekammer unterhalb der Kellertreppe waren unsere Kartoffeln untergebracht.
Kartoffeln waren zu der Zeit das wichtigste tägliche Nahrungsmittel in vielen Familien. Sie waren billig und sie kamen in allen möglichen Varianten auf den Tisch: Kartoffelknödel, Kartoffelsuppe, Kartoffelsalat, Bratkartoffeln, Pellkartoffeln, Kartoffelpuffer, Fingernudeln usw.
So wurde es nie langweilig, Kartoffeln zu essen und eine Familie mit vielen hungrigen Kindern satt zu kriegen.
Entsprechend viele Kartoffeln wurden gebraucht.
Jedes Jahr im Herbst bekamen wir von unserem Bauern (nicht vom Supermarkt!) eine Lieferung von mehreren Zentnern Kartoffeln, um über den Winter zu kommen. Nach einigen Monaten bekamen die Kartoffeln jedoch Füße, sie trieben aus und man musste die Triebe abmachen und die Augen ausschneiden, bevor die Kartoffeln in den Topf kamen. Ich musste oft aus dem Speisekeller Zutaten für die Mutter holen. Das mochte ich gar nicht gerne. Ich fürchtete mich, denn im Keller, vor allem dort, wo die Kartoffeln lagerten, gab es Spinnen und außerdem ekelte ich mich vor den Kartoffeln mit ihren weißlichen Füßen. Aber es half nichts. Ich musste runter, wenn beim Kochen etwas gebraucht wurde. Heute ist es jedoch kaum mehr möglich, die Kartoffeln über den Winter im Keller zu lagern, da durch die Bausubstanz und die Zentralheizung die Keller aufgeheizt sind und die Kartoffeln bereits nach einigen Wochen anfangen zu treiben.
Pferdeäpfel, nicht essbar, aber gut für die Rosen
In unserer Nachbarschaft lebte seit Generationen ein Bauer mit seiner Familie. Von ihm kauften wir unsere Kartoffeln. Er hatte ein paar Felder, auf denen er Getreide und Gemüse anbaute und er hatte ein paar Kühe im Stall. Wenn wir ihn mit seinen Pferden vorbei traben hörten, mussten wir schnell mit Schaufeln und Eimer hinter ihm her laufen und die Pferdeäpfel aufklauben. Das war nicht gerade unsere Lieblingsaufgabe und oft taten wir so als hätten wir das Pferdefuhrwerk nicht gehört. Aber unser Vater war sehr erpicht darauf, den Garten damit zu düngen. Zum Glück für uns Kinder, legte sich dieser Bauer eines Tages einen Traktor zu.
Milch holen – ein ereignisreiches Einkaufen
Damals haben wir die Milch nicht im Tetrapack und in dem noch nicht vorhandenen Supermarkt gekauft, sondern direkt vom Bauern bezogen. Das war die Aufgabe von uns Kindern. Mit unseren blechernen Milchkannen zogen wir jedenTag los, um die frische, noch warme Milch abzuholen. Selbstverständlich besuchten wir bei der Gelegenheit noch schnell die Kühe im Stall und ich war immer sehr beeindruckt, wie sie sich mit ihren langen Zungen über und in die Nase leckten und mit ihren Schwänzen die Fliegen vertrieben.
Auf dem Nachhauseweg übten wir oft das Milchkannenschwingen. Es kam fast einer sportlichen Disziplin nahe. Das Schwingen der Milchkannen mit dem ausgestreckten Arm war einfach. Nicht so einfach war es, das Schwingen wieder zu stoppen. Wenn man zu langsam war, dann ergoss sich die Milch über den Kopf und unsere Mutter schimpfte aus gut nachvollziehbaren Gründen wenn wir ohne Milch heimkamen. Aber das Spiel machte halt viel Spaß und so gingen wir das Risiko immer wieder ein.
Leider war es bald verboten, die Milch direkt beim Bauern zu kaufen. Stattdessen lieferte er alle Milch direkt ins Milchwerk, wo sie dann pasteurisiert wurde, um schädliche Keime, wie die Rindertuberkulose, abzutöten. Rindertuberkulose kann auch beim Menschen Tuberkulose auslösen, an der zu dieser Zeit in Deutschland jährlich etas 1000 Menschen starben und von der vor allem Kinder betroffen waren.
Die Winter waren kalt aber wir kannten es nicht anders
Damals hatten wir nur Kohleheizung. Neben dem elektrischen Herd stand ein alter Kohleofen, der die Küche heizte, immer warmes Wasser bereit hielt und als zusätzlicher Herd und Backofen diente.
In unserem neugebauten Haus, in das wir 1957 eingezogen waren, gab es eine zentrale Kohlenheizung. Was für ein Luxus, statt in jedem Zimmer einen Ofen heizen zu müssen. Ein zentraler Kohleofen im Flur wurde mit Koks geheizt und gab Wärme ab, die durch einen Kamin und Schachtöffnungen in die einzelnen Zimmer geleitet wurde.

Die Schlafzimmer waren im Winter nur leicht temperiert und die Schächte geschlossen, da wir uns meist ohnehin nur in der Küche und im Esszimmer aufhielen. Hier machten wir auch unsere Hausaufgaben. Daher wurde die spärliche Wärme auf das Esszimmer konzentriert.
An besonders frostigen Tagen waren wir von den Eisblumen am Fenster fasziniert, die sich trotz unserer Doppelfenster bildeten. Im Klo gab es keine Heizung und deshalb hielt man sich dort nicht lange auf. Auch im Bad kam nur spärliche Wärme aus dem
Heizungsschacht. Wir beschwerten uns nicht, denn wir kannten es ja nicht anders. Wenn es im Haus kalt war, zogen wir einfach noch einen Pullover darüber. Problem gelöst!
Die Winter waren damals kälter als heutzutage, wahrscheinlich wegen der globalen Erwärmung. Ich kann mich erinnern,dass ich oft gefroren habe, wenn wir sonntags in die Kirche gingen, die natürlich ungeheizt war. Die Kirche war nur 15 Minuten zu Fuß von uns entfernt, aber trotz unserer Handschuhe taten die Finger vor Kälte weh und zu Hause mussten wir sie dann unter kaltes laufendes Wasser halten, um sie aufzuwärmen und wieder Gefühl in den Fingern zu bekommen.
Einmal, als wir nach Hause kamen, zeigte mir mein Bruder, dass der metallene Türknopf unserer Haustür mit Eis überzogen war. Er schlug vor, ich sollte doch am Türknauflecken, um ihn aufzutauen. Ich tat, wie mir geheißen. Blitzschnell klebte meine Zunge am Knauf fest. Panik!! Der Anblick muss für Außenstehende recht erheiternd gewesen sein. Doch ich konnte erst nach einer Weile, als das Eis am Knauf durch meinen Atem aufgetaut war, meine Zunge wiederlösen. Das nenne ich Geschwisterliebe. Warte nur das zahle ich dir heim!
Gegen Hunger ist das Kraut gewachsen.
Zu den Kartoffeln gab es meist Sauerkraut. Kartoffeln und Kraut gehörten in der Oberpfalz zu dieser Zeit mehrmals wöchentlich auf den Tisch. Damals wusste man, dass Kraut ein billiges und ausgiebiges Nahrungsmittel ist. Heute weiß man, dass es mehr Vitamin C enthält als Südfrüchte und dazu noch die Verdauung fördert, also sehr gesund ist.
Im Kraut wurden entweder Würste mitgekocht oder Speck oder ein Stück Schweinebauch. Fleisch gab es damals nicht oft. Wenn es welches gab, musste es für viele reichen und leicht aufzuteilen sein. Zum Beispiel Gulasch mit viel Soße. Aus Hackfleisch wurden Fleischpflanzerl gemacht (Heute heißen sie Hamburger oder Buletten oder Frikadellen). Am Sonntag gab es einen Braten, entweder Schweinebraten oder Sauerbraten. Ein Pfund Fleisch musste für alle sechs Familienmitglieder reichen. Wobei das größte Stück natürlich für das Familienoberhaupt, meinen Vater, bestimmt war. Meine Mutter ging oft leer aus. Sie sagte immer, das mache nichts, sie habe schon beim Kochen was davon probiert.
Oft bekamen wir ein großes Stück Geräuchertes von unserem Onkel, der im Bayerischen Wald eine Metzgerei hatte. Geräuchertes Fleisch, durch trocknen und Rauch haltbar gemacht, konnte lange in der Speisekammer aufbewahrt werden. Geräuchertes wurde als Geschmacksverstärker und Fleischersatz in viele Gerichte gemischt. Es gab Linsen mit Speck, Speckkartoffel und natürlich ein Stück Geräuchertes im allgegenwärtigen Kraut.
Als Familie mit 4 Kindern brauchten wir viel Kraut. Wir machten unser Sauerkraut selbst. Es war viel Arbeit und eine Abend füllende Beschäftigung. Ich erinnere mich an so einen Herbstabend. Mein Vater hatte bei unserem Bauern einen Zentner Weißkrautköpfe bestellt, die so groß wie ein Fussball waren. Vater hobelte das Weißkraut mit einem riesigen Hobel. Mutter verteilte das Kraut in Lagen in einem großen Steingutfass und gab Salz sowie Kümmel dazu. Wir Kinder mussten dann in das Fass steigen und das Kraut mit den Füßen treten, bis es weicher wurde, fertig für den Gärprozess. Wir nahmen unsere Aufgabe sehr ernst. Natürlich mussten die Füße vorher gewaschen und gründlich geschrubbt werden. Nur mein Bruder und ich, die beiden Kleinsten, konnten diese Aufgabe übernehmen, da die Füße der älteren Geschwister und der Erwachsenen zu groß für das Fass waren.
Es war aufregend und machte Spaß, in das Fass zu steigen und auf dem Kraut rumzustampfen. Mit Inbrunst zitierte ich dabei ein Gedicht, das ich für den nächsten Tag in der Schule lernen musste: “Als Kaiser Rotbart lobesam ins heilige Land gezogen kam...“. Es ging dabei um Kaiser Barbarossa, der mit seinen Kreuzrittern in den Krieg zog, um das Heilige Land von den Muslimen zu befreien.
Das Kraut treten dauerte mehrere Stunden.Spätestens alle 15 Minuten mussten mein Bruder und ich uns abwechseln, da die Füße eiskalt geworden waren. Am Ende wurde dann das Kraut im Fass mit einem Küchentuch und zwei Stück halbrundem Holz zugedeckt. Ein großer Stein oben drauf sorgte dafür, dass das Kraut festgepresst wurde. Dann musste es mehrere Wochen gären. Zu Weihnachten war es dann fertig und es gab frisches Sauerkraut, das für den Rest des Jahres reichen musste.
Doktor Mama
“Mama, mir ist schlecht!”, “Mama, ich hab Halsweh!”, “Mama ich hab Bauchweh....!” Immer hatte unsere Mutter irgendeinen Tee bereit. Kamillen- oder Pfefferminztee gegen Übelkeit oder Blähungen, Lindenblütentee, um eine Erkältung rauszuschwitzen, Salbeitee bei Halsschmerzen, Brennesseltee bei Wasserstauungen und vieles andere mehr. Unsere Mutter wusste einen Tee für alle Wehwehchen. Medikamente gab es bei uns zu Hause kaum. Aufgeschlagene Knie wurden mit Jodtinktur versorgt, die höllisch brannte. Insektenstiche wurden mit in Alkohol eingelegten Arnikablüten behandelt, verstauchte Knöchel mit nassen Wickeln gekühlt.... Nur manchmal wenn die Mutterstarke Kopfschmerzen hatte, dann nahm sie eine halbe Spalttablette. Man war damals nicht zimperlich. So kann ich mich an einen Nachmittag erinnern: Ich saß mit meiner Mutter und meiner Cousine auf unserer Terrasse. Wir lachten über einen Witz, den unsere Mutter erzählt hatte, und ich ließ mich vor Lachen auf das Sofa zurück fallen, hatte aber vergessen, dass mein Strickzeug dort lag. Prompt als ich wieder hoch kam, steckte die Stricknadel mitsamt der halbgestrickten Socke in meinem Rücken. Erschrocken rannten wir sofort zum Arzt. Aber der zog nur das Strickzeug heraus und machte ein Pflaster auf drauf. Keine Panik, kein Röntgen und - es ist nichts weiter passiert.
Die Kräuterhexe
Wir Kinder gingen mit unserer Mutter oft zum Preiselbeersammeln in den Wald. Dort fanden wir auch Arnikablüten und Kräuter, die wir nicht im Garten hatten. Manchmal kam eine Nachbarin mit, die alte Frau Wolf. Wir Kinder nannten sie heimlich die Kräuterhexe und das nicht nur, weil sie so aussah, sondern auch wegen ihres Wissens über die Wirkung von Heilkräutern. Bei unseren Spaziergängen machte sie dann unsere Mutter auf spezielle Kräuter aufmerksam und flüsterte: “De san für d’ Manna, de san für d’ Weiber.... “.
Wir Kinder hatten keine Ahnung, was sie meinte, fanden sie aber unheimlich oder sonderbar. Sie war Witwe und wohnte alleine in einem riesigen alten Haus am Sandberg, ein paar Strassen von uns entfernt. Das Haus hatte einen enormen Keller mit mehreren Ebenen tief in den Berg gehauen. Während des Krieges hatten die Nachbarn dort bei den Bombenangriffen Unterschlupf gefunden. Dort hatte sie neben den üblichen Sachen, die ich von unserem Keller kannte, wie z. B. Eingemachtes und Kartoffeln, auch Zwiebel- und Knoblauchzöpfe und jede Menge Kräuter zum Trocknen an den Wänden hängen. In den Regalen befanden sich Gläser und Töpfe mit obskuren Inhalten. Neben großen irdenen Trögen und Fässern waren auch Glasgefäße, in denen Wein gemacht und Schnaps gebrannt wurde. Es war kalt und feucht und roch nach Undefinierbarem, Altem, vielleicht Verrottetem, für meine Nase jedenfalls unangenehm. Eine kleine Holztreppe führte in einen weiteren tieferen Keller, ein riesiges Kellergewölbe und darunter in einen noch tieferen Keller mit gestampftem Boden. Die diversen Keller waren voll gepfercht mit allem möglichen Krempel. Heutzutage würde ich es faszinierend finden, als 6-jährige fand ich den finsteren Keller gruselig, zum Fürchten, hatte Angst vor möglichen Spinnen und Mäusen und sonstigem Getier und konnte kaum erwarten, wieder nach oben ans Licht und an die frische Luft zu kommen. Für meine Begriffe war es doch viel bequemer, im Laden einzukaufen oder aus der Apotheke Tabletten zu holen.
Was würde ich heute darum geben, nochmals in diese Keller hinabzusteigen, um mit meinen heutigen Augen einen Blick auf diese Schätze zu werfen. Der Supermarkt ist praktisch für den Alltag, aber das angesammelte und fast vergessene Wissen ganzer Generationen befand sich in diesem Keller.
(LL)
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