Sind wir wieder so weit? Haben wir nichts gelernt aus der Geschichte?
- titanja1504
- 19. März
- 7 Min. Lesezeit
Stefan Heym: „Radek“ Roman. 1995, C. Bertelsmann, ISBN 3-570-00315-9
Der dem Roman „Radek“ zugrunde liegende historische Karl Radek, einer der bekanntesten und umstrittensten sozialistischen Journalisten und Publizisten in der Zeit vor, während und vor allem nach dem 1. Weltkrieg, war von Anbeginn Teil des historischen Geschehens. Er war scharfzüngiger Beobachter und stand Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht sowie Lenin und zeitweise Stalin nah. Und trotzdem war er als Kind seiner Zeit, als zwar kritischer, aber dennoch befangener Zeitgenosse, nicht ausreichend fähig, ebenso wie die demokratischen Parteien heute, die Gefahr eines heraufziehenden Faschismus zu erkennen und sich auf die Abwehr zu fokussieren.
Im Roman wird der Kampf der Sozialisten und Kommunisten um eine neue Gesellschaftsordnung ausschließlich aus der Perspektive Radeks erzählt.
Stefan Heym schildert in seiner unnachahmlich flüssigen Sprache einen Radek, der sich im Bemühen um die proletarische Revolution schon ab den frühen 1900er Jahren zuerst in der polnischen, dann in der deutschen sozialdemokratischen Partei engagiert.
Wegen innerparteilicher Fehden und persönlicher Intrigen wird er zwischen 1912 und 1913 aus beiden Parteien ausgeschlossen.
Stefan Heym charakterisiert Radek nicht nur als brillanten Journalisten, sondern auch als recht scharfzüngigen Genossen Liebknechts und Luxemburgs. Nach seinem Ausschluss aus der polnischen sozialdemokratischen Partei beim abendlichen Bier mit dem Redakteur Henke fallen beispielsweise folgenden Worte:
„Genosse Henke, sagte er [Radek] ruhig,….wir haben ihnen die Hölle heiß gemacht von deiner Zeitung in Bremen aus und von Göppingen und Leipzig her, und jetzt schlagen sie zurück, und der Sack auf den sie einprügeln mag Radek heißen, aber gemeint ist der Esel: ihr nämlich. Was mich betrifft, ich werde mich zu verteidigen wissen, was sind denn diese Ebert und Müller denn, Beamtenseelen, unschöpferische. Und wer Jogiches – ein Parteityrann, der seine Gedanken von der Luxemburg bezieht, die an ihm hängt mit allen Fasern ihres Wesens in dauernder Angst, er könne sie allein lassen in ihrem kalten Bett.“
Radek brach ab….es war ein Fehler gewesen, gestand Radek sich, so von Rosa zu reden….Aber so war er: deine Zunge läuft schneller als deine Vernunft – wer hatte das gesagt, die Mama?….“deine Zunge wird noch sein dein Verderben.“
Zu Beginn des 1. Weltkriegs emigriert Radek in die Schweiz, wo er mit Lenin zusammenarbeitet. Radek begreift den Krieg im Sinne Lenins, Trotzkis und Sinowjews als Krieg des Kapitals, in dem das Proletariat benützt und verschlissen wird, um die Ziele des Kapitals durchzusetzen. Lenin äußert sich im Roman in einem Gespräch mit Radek dazu dezidiert: „Der kapitalistische Krieg ist in den Krieg gegen den Kapitalismus umzuwandeln.“
Dieser Forderung stimmt Radek zu und so begleitet er nach der Februarrevolution in Russland Lenin auf seiner Rückreise aus der Schweiz über Deutschland und Schweden nach Russland.
In diesem Lebensabschnitt ist Heyms Protagonist überwiegend an der Seite Lenins.
Dieser setzt ihn zunächst als Leiter des Auslandsbüros der russischen Bolschewiki in Schweden ein. Nach der Oktoberrevolution folgt er Lenin nach Russland, wird von ihm zum Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten ernannt und nimmt an der Seite Trotzkis 1917/18 als Beobachter, Chronist und Unterstützer Trotzkis an den Friedensverhandlungen zwischen dem deutschen Kaiserreich und Russland teil, die zum Frieden von Brest-Litowsk führen. Brillant arbeitet hier Stefan Heym die unterschiedlichen Charaktere der deutschen und russischen Delegation heraus.
Noch einmal 1918 kehrt Radek konspirativ nach Berlin zurück, um die KPD zu gründen und deutsche Januaraufstände (Spartakusaufstand) in Berlin und Hamburg zu unterstützen. Radek trifft auf ein Land, in dem sich überall Räterepubliken bilden.
Während sich aber zum Entsetzen Radeks die Sozialdemokraten vornehm zurückhalten, erlebt der Revolutionär, wie linke Bestrebungen und kommunistische Verwaltungsmodelle von der rechten Soldateska blutig und brutal niedergeschlagen werden. Die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts wird im Roman zwar nur als Nachricht erwähnt, zeigt aber durch die Nähe dieser Mitstreiter zu Radek das Gefahrenpotential auch für ihn. Auch Radek wird verraten und in „Schutzhaft“ genommen.
Doch Radek wäre nicht Radek, wenn er sich in sein Schicksal ergeben würde.
Aus der Haft heraus knüpft er Verbindungen zu deutscher Industrie-, Militär- und Politprominenz, allen voran zu Rathenau, den Vorstand der AEG, den späteren deutschen Außenminister. Durch diese Verbindungen spielt er schließlich eine führende Rolle beim deutsch- sowjetischen Vertrag von Rapallo, was Heym in seinem Roman jedoch nur eine Randnotiz wert ist.
Ab 1920 ist Radek als hoher Funktionär in der Komintern für die Entwicklung der KPD in Deutschland zuständig. 1923 wird er an das Krankenbett Lenins gerufen und nochmals nach Deutschland entsandt. Lenin ist der festen Überzeugung, dass die kommunistische Weltrevolution nur über eine Revolution in Deutschland zu erreichen sei. Und Radek ist sein Mann in Deutschland - überzeugter Kommunist, einflussreich und heute würde man sagen sehr gut vernetzt.
In dieser Zeit lernt er auch die russische Schriftstellerin Larissa Reissner kennen, mit der er bis zu ihrem Tod 1926 liiert ist.
Während Radek sein persönliches, ganz privates Glück mit einer Frau findet, die seine Einstellung teilt, neigt sich das Leben seines geistigen Mentors und Freundes, Lenin, dem Ende zu.
1924 ruft ihn der sterbende Lenin in seine Datscha außerhalb Moskaus zu sich und setzt ihn über sein höchst brisantes politischesTestament in Kenntnis, in dem er Trotzki und andere Mitstreiter kritisiert und eindringlich empfiehlt, Stalin aus dem Amt des Generalsekretärs zu entfernen, denn Josef Stalin, ursprünglich ein Underdog in der Partei, hatte sich im Hintergrund seit 1924 durch Intrigen, Terror und Mord an die Spitze der Führungsriege gestellt.
Nach dem Tod Lenins hält niemand mehr eine schützende Hand über Radek.
Wie stark Stefan Heym diesen Führungswechsel insgesamt und speziell für den Mitstreiter Lenins historisch bewertet, erkennt man daran, dass die Schilderung dieser Phase 50 Seiten beansprucht. Er trägt dabei der Komplexität des Geschehens Rechnung.
Der große Intrigant Stalin betreibt systematisch die Schwächung der innerparteilichen Opposition um Trotzki und Radek. Er sorgt in einem ersten Schritt dafür, dass Radek aus der Komintern ausgeschlossen wird. Die gesamte „linke“ Opposition wird schließlich 1927 aus der Partei ausgeschlossen und Radek nach Sibirien verbannt.
1929 erreicht Radek nach taktischen Manövern seine Rehabilitierung, wird Redakteur bei der Iswestija und schließlich Direktor einer sowjetisch–chinesischen Universität – eine Idee Stalins. Die Strategie Radeks, durch die Publikation übertrieben hymnischer Lobhudeleien an Stalin dessen Charakter und Herrschaft zu entlarven, misslingt. Seine Reputation sinkt und vor den stalinistischen Säuberungen 1936 schützt sie ihn auch nicht.
Radek wird verhaftet, 1937 in einem Schauprozess wegen „Trotzkismus“ zu 10 Jahren Haft in einem sibirischen Arbeitslager verurteilt und dort wahrscheinlich 1939 ermordet. Im Roman bleibt sein Ende offen.
Stefan Heyms Radek ist zum Schluss eine tragische Gestalt, ein Opfer und ein Gescheiterter. Allerdings gescheitert an der historischen Entwicklung, an der Machtergreifung eines Despoten im noch jungen kommunistischen Reich der Sowjetunion. Und schließlich ist darüber nachzudenken, wie stalinistischer Terror einen vielleicht zukunftsfähigen und proletarischen Sozialismus zur Diktatur pervertierte.
Und auch in Deutschland sind Radeks Bestrebungen, die er mit den sozialistischen und kommunistischen Genossen durchsetzen wollte, gescheitert.
Die Tragik Radeks bringt Stefan Heym am Ende des Romans berührend zum Ausdruck:
„Als er nach dem Urteil aus dem Saal geführt wurde….hob er die Hand ein wenig, Andeutung eines Grußes, zuckte kaum merklich mit den Achseln, und lächelte.
Manche sagen sein Lächeln sei ironisch gewesen. Aber in Wahrheit war es voller Trauer“.
Aktueller Bezug
Der Roman hat in der aktuellen politischen Lage hohen Erkenntniswert über historische Fehler, die es zu vermeiden gilt.
Heute, im Jahr 2025, da die Bezeichnung „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ für Staaten benutzt wird, die den ursprünglichen Vorstellungen nicht einmal annähernd gerecht werden, ist Stefan Heyms Schilderung des frühen Kampfes und der Irrungen und Wirrungen eines entstehenden Sozialismus äußerst aufschlussreich.
Aufschlussreich, weil dieser historische Roman ein in brillanter Sprache verfasstes Lehrstück darstellt, wie im Deutschland der Kaiserzeit und der Weimarer Republik eine zerstrittene und uneinige Linke den Aufstieg der Faschisten erst ermöglichte.
Heym arbeitet diesen Aspekt nicht explizit heraus. Vielmehr lässt er seinen Protagonisten Radek Diskurse, Intrigen und Strategien der sozialistischen und kommunistischen Mitstreiter beobachten. Der heutige Leser, der den Gang der Geschichte kennt, erkennt die Fehleinschätzungen der damaligen Zeitgenossen, aber er erkennt auch die Muster, die sich auf fatale Weise fast 100 Jahre später zu wiederholen scheinen.
Historischen Parallelen drängen sich nach der Lektüre von Heyms Roman „Radek“ geradezu auf.
Nach der Bundestagswahl 2025, als die AfD (Alternative für Deutschland - gilt offiziell in Teilen als gesichert rechtsextrem) zweitstärkste Kraft im Parlament wurde, zeigt auch die Sozialdemokratie, die es eigentlich besser wissen müsste, keine ausreichende Sensibilität für die heraufziehende Gefahr.
Was laut Weimarer Verfassung nur schwer möglich gewesen wäre, nämlich ein Parteiverbot der NSDAP für ganz Deutschland mit der Folge von Mandatsverlusten im Reichstag, hätte in den 2020er Jahren längst, gerade durch diese alte und erfahrene sozialdemokratische Partei, auf der Basis des Grundgesetzes der BRD beantragt werden müssen: Ein Parteiverbots-Verfahren gegen die AfD! (HeiN)
Hintergrundinformationen des Autors der Buchempfehlung:
Der historische Karl Radek:
Geboren wurde er am 31. Oktober 1885 als Karel Sobelsohn in Lemberg (damals Donaumonarchie, heute Ukraine) als Kind jüdischer Eltern.
Er publizierte europaweit in einem großen Teil von linksgerichteten Zeitschriften, Zeitungen und Verlagen und war in Deutschland, Polen, der Schweiz und der UdSSR politisch tätig.
Der Autor Stefan Heym
(* 10. April 1913 in Chemnitz als Helmut Flieg; † 16. Dezember 2001 in En Bokek, Israel)
Helmut Flieg, Sohn jüdischer Eltern, engagierte sich schon früh gegen den Faschismus. Er wurde wegen eines antimilitaristischen und antifaschistischen Gedichtes des Gymnasiums seiner Heimatstadt verwiesen und legte daher seine Abiturprüfung in Berlin ab. Dort begann er ein Journalistik-Studium und flüchtete 1933 nach dem Reichstagsbrand in die Tschechoslowakische Republik und nahm den Namen Stefan Heym an.
1935 folgte die Emigration in die USA, wo er sein Studium mit einer Masterarbeit über H. Heines Atta Troll beendete.
Fortan arbeitete er journalistisch und als freier Schriftsteller.
Als amerikanischer Staatsbürger nahm er ab 1943 als Offizier für psychologische Kriegsführung am 2. Weltkrieg teil. Er war an der Invasion in der Normandie beteiligt und gründete im besetzten Ruhrgebiet die „Ruhrnachrichten“.
Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ wurde er jedoch in die Staaten zurück versetzt. Zeitgleich mit den „Linken“ Chaplin, Brecht und Thomas Mann verließ er 1952 während der McCharthy-Ära die USA, ging zuerst nach Prag und ließ sich dann in der DDR nieder.
Am Anfang durchaus noch mit der Staatsführung im Einklang, geriet er ab 1956 zunehmend in die Kritik. Er wandte sich schließlich der Bürgerrechtsbewegung in der DDR zu und war aktiv an den Protestkundgebungen in Ostberlin beteiligt.
Nach der Wende 1990 kandidierte er als Parteiloser auf der PDS-Liste für den 13. Deutschen Bundestag, gewann sein Direktmandat und hielt als Alterspräsident die Eröffnungsrede, der die CDU/CSU allen parlamentarischen Regeln zum Trotz den Applaus verweigerte.
1995 legte er aus Protest gegen die Erhöhung der Abgeordnetendiäten sein Amt nieder. Er starb am 16.12.2001 während eines Heinrich-Heine-Kongresses in Jerusalem.
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