top of page

Ukrainische Geschichten um Menschen und Historie im Jahr 2015

  • titanja1504
  • 5. Juni 2023
  • 3 Min. Lesezeit

Jens Mühling: „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“. 2016/2018 Taschenbuchausgabe/2. Auflage 2022, Rowohlt Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-499-63156-6

„Bei allen Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichten aber, die ich in den Mittelpunkt meines Buchs gestellt habe, hoffe ich, dass sie die Ukraine als Land auch dann noch begreiflich machen können, wenn die Schlagzeilen längst andere sind.“, schreibt Jens Mühling im März 2018 im Vorwort zur Taschenbuchausgabe seiner Reisereportage über seine Erfahrungen und Beobachtungen während einer Reise kreuz und quer durch die Ukraine des Jahres 2015.


Und die Schlagzeilen sind im Jahr 2023, da ich diese Buchempfehlung verfasse, andere und auch wieder nicht.

Der Krieg, der sich zur Zeit seiner Reise auf die Separatistengebiete im Donbass beschränkte, hat sich zum Krieg Russlands gegen die Ukraine, die jetzt auch von der Nato unterstützt wird, entwickelt. Die Krim, im Jahr 2015 gerade erst durch Russland annektiert, ist nun ebenfalls Kriegsschauplatz. All diese Ereignisse bewegen heute die Weltpolitik, während die damaligen Vorgänge im Jahr 2015, als er das Land bereiste, und in den darauffolgenden Jahren, als das Buch erschienen ist, die Weltöffentlichkeit nur kurzfristig beschäftigten.


Was sich stark geändert hat, seit Jens Mühling die Ukraine von der polnischen Grenze, über die Karpatenregion, die südliche Schwarzmeerküste und die Krim, die zentralen ukrainischen Steppengebiete, die umkämpfte Donbass-Region hinter der Front bis zur östlichen, der russischen Grenze bereist hat, ist das Bild, das die Europäer von Land und Leuten haben.


Während im Jahr 2015 noch die meisten Westeuropäer Russland kaum von der Ukraine unterscheiden konnten, hegen heute viele fast patriotische Gefühle für die Ukraine und deren Bevölkerung. Heroische, leidensfähige Freiheitskämpfer scharen sich in den Augen der Westeuropäer einmütig hinter ihren auf dem internationalen Parkett allgegenwärtigen Präsidenten Wolodymyr Selenskij, so das Bild.

Mehr braucht man oftmals nicht zu wissen.


Wenn aber doch, dann ist dieses Buch bestens dafür geeignet, Ukrainerinnen und Ukrainer unterschiedlicher Regionen, Abstammung, Hintergrundgeschichte, Religion, politischer Überzeugung, sozialer Stellung und Bildung, Berufe und mit unterschiedlichen Lebensgeschichten kennenzulernen.


Jens Mühling hat eine außerordentliche Begabung, seine Begegnungen mit Menschen zu Begegnungen des Lesers mit diesen Menschen werden zu lassen. Man schmunzelt, lacht schallend, ist erschrocken oder erschüttert, erstaunt über andere Perspektiven und versteht langsam die Diversität, die wohl ein wichtiges Wesensmerkmal der Ukraine ist.


Was im Kriegsjahr 2023 besonders interessant ist, sind die feindlichen politischen Positionen innerhalb der Bevölkerung im Jahr 2015.

Der Autor kommt mit strammen Kommunisten ins Gespräch, die der Sowjetunion nachtrauern und jedes Wort glauben, jeder Verschwörungstheorie anhängen, die durch russische Medien verbreitet wird.

Im Gegensatz zu den etwas schrullig anmutenden Altkommunisten sind die Anhänger der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) und Verehrer der ehemaligen UPA (Bandera-Armee im zweiten Weltkrieg, die sich mit den deutschen Faschisten verbündet hatte) entschlossene und ganz und gar nicht zimperliche Kämpfer für eine unabhängige Ukraine. Und auch die Anhänger der Nationalisten geben in den Gesprächen abstruse Verschwörungstheorien von sich.


Das Finden der eigenen nationalen Identität beschäftigt so manchen der Gesprächspartner sehr und führt zu großartigen historischen Rundumschlägen über „Moskowiter“, „Peter der Große“, „Kiewer Rus“ und Identitätsklau durch Russland im großen Stil. Und als sich der Autor nur vage dazu äußern will, meint der Ukrainer, der dieses Geschichtsbild skizziert hat: „Das ist keine Theorie, das ist die Wahrheit! Ich bin Traktormechaniker, und wenn sogar ich das weiß, wird es ja wohl stimmen!“

So einem Argument kann niemand etwas entgegensetzen oder?!


Aber es geht Jens Mühling nicht um Missionierung und Überzeugungsarbeit, obwohl seine Einstellung durchaus erkennbar ist. Er will die Charaktere vorstellen, die Eigenwilligkeit der Ukrainer, ihre Lebenseinstellungen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Viele Geschichten werden erzählt, die tiefe Eindrücke hinterlassen.


Aber es sind nicht nur diese menschlichen Begegnungen, die dieses Buch so spannend machen. Jörg Mühling geht teilweise weit zurück in der Geschichte, bis hin zu alten Mythen und Legenden, die in regionalen Traditionen weiterleben.

Seine Schilderungen vermitteln nicht nur Ansichten von Landschaften und Städten, sondern machen die Atmosphäre dieser Orte und Gegenden spürbar.


Ich habe dieses Buch atemlos gelesen, nicht nur, weil ich meine eigenen kleinen Erfahrungen mit der Ukraine habe, nicht nur, weil ich so viel Neues erfahren habe, sondern auch, weil diese Reportage hervorragend geschrieben ist.


Jens Mühling kann man durchaus als Kenner Russlands und der Ukraine bezeichnen, denn er hat zwei Jahre lang für die „Moskauer Deutsche Zeitung“ gearbeitet und hat immer wieder beide Länder als Journalist und „Geschichtensammler“ bereist.


Nach dieser Begegnung mit der Ukraine und ihren Menschen habe ich große Lust bekommen, auch Russland und seine Menschen mit Hilfe Jens Mühlings kennenzulernen.


Daher werde ich Jens Mühling, „Mein russisches Abenteuer (DuMont Reiseabenteuer): Auf der Suche nach der wahren russischen Seele“ , erschienen 2016, demnächst lesen. (TA)

Ähnliche Beiträge

Alle ansehen
Nachkriegskinder erzählen

Sabine Bode: „Nachkriegskinder, die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“, 2011, Verlag Klett-Cotta ISBN 978-3-608-94678-9 (DE) Die...

 
 
 

Comments


20200429_074336.jpg

Wollen Sie über neue Beiträge informiert werden?

Dann tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse unten ein. Danke!

Danke!

bottom of page