Ohne Telefon – geht das?
- anon
- 20. Nov. 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 31. Mai 2023
(DE) In der 5. Klasse, also 1964, sollten wir einen Aufsatz darüber schreiben, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Ich ging in die Vollen und fabulierte von elektrischen Geschirrwaschmaschinen, von automatischen selbst kochenden Herden, von selbstfahrenden Autos und einem Telefon, bei dem sich die Gesprächspartner auch sehen können. Mein Lehrer führte meine blühende technische Fantasie auf den Beruf meines Vaters zurück. Er war Elektriker.

1964 lächelten alle Erwachsenen milde über das fantasiebegabte Kind. Heute würde einem Schulkind für diese „Visionen“ keine überbordende Vorstellungskraft mehr bescheinigt. Meine Ideen von einst sind längst Realität.
Seit Kurzem skype ich mit meinen ehemaligen besten Freundinnen aus der Schulzeit Ende der 50er bis Ende der 60er Jahre. Wir leben jetzt alle woanders, in London, Regensburg, München, aber unsere Unterhaltungen dauern immer noch so lang wie damals, als wir unsere Köpfe zusammensteckten und mehr oder weniger skandalöse Geheimnisse austauschten. Sich zu sehen und miteinander über große Distanzen hinweg zu sprechen, ist eine gigantische Errungenschaft, keine Frage.
"Ohne Handy mag ich nicht sein!"
Heutzutage hat ja jeder ein Telefon, fast jeder ein Handy, das wie ein zusätzliches Organ ganz eng mit einem verbunden ist. Ich habe Schüler und Eltern völlig hysterisch werden sehen, weil das Kind sein Handy verloren hatte oder es ihm wegen unzulässigen Gebrauchs im Schulalltag weggenommen worden war. Der Standardspruch der älteren Kollegen fiel lapidar aus: „Jamai, was hätten mia da früher gmacht, ohne Handy!“ Sie sprachen`s und eilten mit ihren Handys am Ohr von dannen.
Die Frage, natürlich rhetorisch gemeint, blieb unbeantwortet, ist aber trotzdem interessant.
Wie war das eigentlich so ohne Handy? 40-Jährige erinnern sich sicherlich noch dunkel daran. - Eindeutig weniger komfortabel. Aber ohne Telefon - geht das?
Ist es vorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der heute noch lebende Menschen nicht einmal ein privates Telefon zur Verfügung hatten?
Ist es, liebe Leute, ist es!
Meine Oma suchte jeden Samstagabend nach Zehnerln (Zehnpfennigstücke) in ihrer Geldbörse und machte sich damit auf den Weg zum Münzfernsprecher, auch Telefonzelle genannt, am Ende der Straße. Dort wartete schon eine kleine Schlange von Telefonwilligen darauf, ebenfalls Verwandte irgendwo in Deutschland anrufen zu können. In der Telefonzelle stank es nach kaltem Zigarettenrauch, Gummi und anderem Undefinierbarem, worüber man sich lieber keine Gedanken machte. Meine Oma telefonierte mit ihrer Tochter in Frankfurt, die mit einem Bankdirektor verheiratet war und die daher schon frühzeitig ein eigenes Telefon besaßen.
Meine Eltern, meine Großeltern und der Rest der Verwandtschaft lebten telefonlos in den Mehrfamilienhäusern in der ganzen Stadt verteilt. Ohne Telefon - geht das?
Die Frage ist, wie schafften sie es, sich mit Familienmitgliedern und Freunden, die keine Kollegen waren, zu verabreden. Per Brief? Während zufälliger Treffen beim Einkaufen oder Bummeln? Gar nicht?
Ja wer steht denn da überraschend vor der Tür?
Immer wieder kam es vor, dass es beispielsweise samstagabends an der Tür klingelte. Die Familie sah sich ratlos an. Einer ging und öffnete, der Rest lauschte. Das Familienmitglied, das geöffnet hatte, rief positiv überrascht und extra laut: „Ja Friedl, Werner, Rosi, Franz…., wie schön, dass ihr da seid!“ Im Wohnzimmer begann schlagartig, in Begleitung von gemurmelten Flüchen, hektisches Getriebe. Kissen aufschütteln, Bekleidung ordnen, Sitzmöbel zurecht rücken usw. Alle eilten dann zur freudigen Begrüßung in den Flur. Die Frage der Besucher, ob man denn nicht störe und man sowieso nur kurz bleiben werde, wurde verneint und abgewehrt. Die Gäste wurden genötigt, sich zu setzen und es sich gemütlich zu machen. Was man denn zum Trinken anbieten könne? Salzstangen und anderes Knabberzeug, das in keinem Haushalt fehlen durfte, kam ohne weiteres Nachfragen ganz selbstverständlich auf den Tisch. Nach ein paar Minuten ratschte man entspannt über Gott und die Welt und nach ein paar Stunden gingen die unerwarteten Gäste zufrieden ob dieses netten Abends nach Hause. Auch die unfreiwilligen Gastgeber waren sich meist einig, dass es blöd, aber doch auch schön gewesen sei. Irgendwie konnte man früher vielleicht mit Widersprüchlichkeiten besser leben.
Umgekehrt verhielt man sich schließlich genauso. So kam es, dass meine Eltern und ich mit meinen Großeltern beschlossen, unsere Augsburger Verwandtschaft (Urgroßmutter und -großvater, Großtanten und -onkeln), die alle in einem alten Mietshaus in Augsburg wohnten, am Sonntag zu besuchen. Wir quetschten uns in den VW-Käfer meines Vaters, gemeinsam mit dem Kuchen, den meine Großmutter als Gastgeschenk mitzubringen gedachte. Wir waren auch sehr früh aufgestanden, eigentlich noch mitten in der Nacht, um uns am Vormittag mit der Augsburger Familie zu vereinigen, die von ihrem Glück nichts ahnte.
"Leck mich am Arsch, die Regensburger sind da!"
Als wir schließlich, wie geplant, an der Haustür klingelten und freudestrahlend unseren Kuchen in Richtung der Fenster im 1. Stock hielten, erschien neugierig das Gesicht meiner Urgroßmutter im Fenster. Die Gesichtszüge entgleisten ihr und sie rief voll Entsetzen in die dahinter liegende Wohnung: „Leck mich am Arsch, die Regensburger sind da!“
Alle lachten schallend. Niemand war beleidigt. Der Sonntagsbraten war groß genug für alle und man hatte genau für solche Fälle immer etwas in der Hinterhand. Kuchen gab es in Hülle und Fülle, auch ein Likörchen und sogar ein gemeinsamer Sonntagsausflug fand statt. Ja, das waren schon Spontis unsere Altvorderen!
Mit der Erreichbarkeit wurde das wirkliche Beieinandersein kompliziert.
Heute hat man ordentlich Probleme mit der Terminfindung. Und es geht auch niemand mehr davon aus, dass sonntags die Leute zu Hause sind. Soziale Kontakte gestalten sich völlig anders.
Gespräche, egal ob Informations-, Gedanken- oder Gefühlsaustausch, finden am Telefon oder über soziale Medien statt. Und selbst wenn man sich persönlich treffen will, dann ist das Verabreden per Telefon ein Muss. Alles andere wäre unhöflich, unerwünscht und übergriffig.
Wann hat eine Nachbarin zuletzt bei dir geklingelt, um einfach auf einen Ratsch vorbeizuschauen? Wahrscheinlich wären die meisten von uns so konsterniert, dass sie vergessen würden, die gesprächswillige Nachbarin hereinzubitten.
Bei meiner Oma schauten mehrmals wöchentlich eine oder zwei ihrer Nachbarinnen vorbei. Sie saßen zusammen und erzählten von früher. Manchmal gab`s Kaffee, manchmal einfach nichts. Nur Beieinandersein!
Mit dem Handy kann man halt nur telefonieren und sich schreiben, nicht wirklich beieinander sein und das ist ein gewaltiger Unterschied.
Selbst am anderen Ende der Welt kann man heute mit der Familie und mit den Freunden in der Heimat zusammensitzen. Wer braucht da noch Freunde vor Ort?
Gottseidank hat die technologische Entwicklung meine Vision in der Kindheit wahr werden lassen. Miteinander zu reden, zu lachen, sich zu sehen, das ermöglicht lebendige Freundschaft über größere Distanz hinweg.
Und wenn die Kinder in die Welt ziehen und vielleicht in USA, Asien oder Australien leben und arbeiten, dann kann so die Nähe zur Familie und zu Freunden erhalten bleiben. Aber wie immer im Leben gibt es einen Preis. Während die Nestflüchter meiner Generation, die Jahrgänge der 50er und 60er Jahre, sehr allein in der Fremde waren, hängen die heutigen Globetrotter und Auswanderer immer noch via Internet an der heimischen Nabelschnur. Der Druck, sich auf Land und Leute einzulassen, ist dadurch wesentlich geringer. Vielleicht dauert das Wurzelschlagen und die Integration daher etwas länger, ist weniger tief und verbindlich. Wer weiß?! (TA)
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