Das Versagen der Elite (2): Die Prioritäten der Elite
- lisaluger
- 20. Nov. 2022
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni 2023
(UK) Um das Ausmaß der Unfähigkeit zu verstehen, muss man die Charakterzüge der Elite als Schicht, als Klasse, ja als Stand in einer Gesellschaft begreifen. Die Prioritäten der Elite sind schlichtweg andere.
Als die Covid-Pandemie begann, war Boris Johnson anderweitig beschäftigt. Statt in seinem Regierungssitz in Downing Street hielt er sich mit seiner Verlobten, Carrie Symonds, auf dem offiziellen Landsitz des Premierministers, Chequers, auf, wo er seine Scheidung vorbereitete und an seinem Buch über Shakespeare schrieb.
Er schwänzte fünf wöchentliche Sitzungen des Krisenstabes Cobra (Cabinet Office Briefing Room A) und delegierte alle Covid relevanten Aufgaben an Matt Hancock, seinen Gesundheitsminister.

Die Warnungen der Wissenschaftler vor einer Pandemie trafen auf taube Ohren und dringende Forderungen des Nationalen Gesundheitswesens (NHS), PPE-Schutzmasken und -Kittel zu bestellen, wurden ignoriert. Diese Versäumnisse im Februar 2020 haben möglicherweise Tausenden von Menschen im Vereinigten Königreich das Leben gekostet.
Quelle: The Times, 19th April 2020: Coronavirus: 38 days when Britain sleepwalked into disaster. https://www.thetimes.co.uk/article/coronavirus-38-days-when-britain-sleepwalked-into-disaster-hq3b9tlgh
Die Gefahr wurde nicht vertuscht, wie das in China der Fall war, sondern einfach längere Zeit unterschätzt bzw. ignoriert. Privates, eigene Angelegenheiten des Premiers hatten Priorität. Dies erinnert eher an ein Phänomen, das man von Pubertierenden kennt, die ein Problem damit haben, Vernunft und Pflicht den Vorrang vor dem Lustprinzip einzuräumen. Von einem Premierminister erwartet man allerdings ein anderes Verhalten.
Man könnte so auch das Laissez-faire Verhalten der Regierung hinsichtlich großer Sportveranstaltungen wie das Cheltenham Racing Festival Mitte März erklären. Trotz steigender Covid-Infektionen und Krankenhausaufenthalte wurde das beliebte Pferderennen, zu dem man wie jedes Jahr 250 000 Besucher erwartete, nicht abgesagt. Auch SAGE (Scientific Advisory Group for Emergencies), das Komitee von Wissenschaftlern, die den Premierminister und das Kabinett in Krisensituationen beraten, war sich offensichtlich, trotz zeitgleich andauernder Debatten in anderen Ländern, der potentiellen Infektionsgefahr auf Großveranstaltungen nicht bewusst und blieb ambivalent in ihrem Ratschlag.
Im Vereinigten Königreich ist das Pferderennen nach dem Fußball das größte Sportereignis und bringt jährlich Millionen an Steuereinnahmen ein. Man erwartete, dass die 250.000 Besucher in den Hotels, Restaurants, Bars und Clubs der Stadt rund 100 Millionen Pfund ausgeben würden. Die Absage des Cheltenham Horse Racing Festival wäre sehr kostspielig und äußerst unpopulär gewesen. Der Rennsport hat sehr mächtige Mäzene, darunter die Königin, Politiker und Geschäftsleute.
Die Veranstaltung ist auch dafür bekannt, dass man in ungezwungener Atmosphäre lukrative Geschäfte und Kontakte anbahnen kann. Netzwerken ist unabdingbare Voraussetzung für das Erringen von Geld und Macht sowie deren Erhalt.
Eine der Direktorinnen des Jockey Clubs ist Baroness Dido Harding, Ehefrau des Tory MPs John Penrose. Sie ist eine enge Freundin des früheren Premierministers David Cameron, der 2014 dafür sorgte, dass sie Mitglied im Englischen Oberhaus wurde. Sie ist auch eng befreundet mit dem begeisterten Reiter und Rennsportliebhaber, Gesundheitsminister Matt Hancock, der Dido Harding wenig später zur Direktorin des Covid Test- und Rückverfolgungsprogramms ernennen sollte, das mit einem Buget von £ 22 Milliarden ein wesentlicher Teil der Antwort der Regierung auf Covid ist
An diesen drei Tagen (10. – 13. März 2020) des Cheltenham Festivals war die Elite unter sich, wenn man wollte, und öffnete Türen für zukünftige Projekte.
Anders sah das Szenario für andere aus, zum Beispiel für eine Kellnerin, die sich später in einem Interview daran erinnerte, dass sie große Angst hatte, sich in der überfüllten Bar mit Covid anzustecken. Sie hatte jedoch keine Chance sich zu schützen, denn soziale Distanz und Maskenpflicht gab es noch nicht und nicht zu arbeiten, war keine Option.
Die Datenanalyse des NHS zu den Auswirkungen des Cheltenham Festivals sowie der beiden zeitgleichen großen Fußballspiele in Manchester und Liverpool ergab, dass sie zusammen über 100 Todesfälle, 500 Krankenhausaufenthalte und 17 000 Infektionen verursacht hatten.
Aufgrund von Kritik rechtfertigten Regierung und Gesundheitsminister Matt Hancock später einmütig ihre Entscheidungen damit, dass sie sich von wissenschaftlichen Empfehlungen hätten leiten lassen.
Quelle: https://www.theguardian.com/world/2021/feb/20/virus-dispersion-hub-packed-racecourse-cheltenham-festival
“Waschen Sie Ihre Hände so lange, wie es dauert, zweimal ‚Happy birthday to you‘ zu singen“
Zu einer Zeit, als Länder wie China, Südkorea, aber auch die meisten unserer europäischen Nachbarn über tiefgreifende Einschränkungen diskutierten, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, lautete die Botschaft des britischen Premierministers: “Waschen Sie Ihre Hände so lange, wie es dauert, zweimal ‚Happy birthday to you‘ zu singen“. Eine eher triviale Art, mit einer Pandemie umzugehen, die im Vereinigten Königreich fast 150 000 Todesopfer fordern würde (bis zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts Ende Oktober 2021).
Ebenso beunruhigend ist, dass die wissenschaftlichen Berater zunächst Herdenimmunität als Strategie vorschlugen, und die Regierung diese Option kurzzeitig für akzeptabel hielt.
Das Entstehen von Herdenimmunität bedeutet, dass die Mehrheit der Bevölkerung durch eine Infektion mit dem Virus Antikörper entwickelt und so immun wird. Der ökonomische Schaden wäre nicht allzu groß, da überwiegend nur alte Menschen über 80 heimgesucht würden, so die Kalkulation des Premierministers.
In einer Zeit, in der es weder einen Impfstoff noch Medikamente gegen diese noch unbekannte Krankheit gab, war so eine Strategie jedoch leichtsinnig, realitätsfern und verantwortungslos.
Verantwortung scheuen
In Krisenzeiten wie der Corona Pandemie muss eine verantwortungsbewusste Regierung eine Balance zwischen individuellen Freiheitsrechten und Menschenrechten, wie beispielsweise körperliche Unversehrtheit der gesamten Bevölkerung, finden.
Für einen in der upper class sozialisierten Boris Johnson ist das Prinzip der persönlichen Freiheit jedoch traditionell ein hohes, alles andere überstrahlendes, schützenswertes Gut.
In der Pandemie hat sich jedoch gezeigt, dass es um die persönliche Freiheit recht unterschiedlich bestellt ist.
Während die einen wirklich die Wahl haben, ob sie ihrer Gesundheit zuliebe nicht in die Kneipe, ins Restaurant, in den Supermarkt gehen oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, können es sich andere wie Kellner, Verkäufer, Busfahrer, Supermarktpersonal usw. nicht aussuchen. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Daher war es in meinen Augen einfach nur verantwortungslos, wie lasch zunächst auf die Studie von Prof. Neil Ferguson vom Imperial College reagiert wurde. Diese Studie prognostizierte, dass mehr als eine halbe Million Menschen im Vereinigten Königreich an einer Covid-19-Erkrankung sterben würden, wenn nicht interveniert würde.
Boris Johnson ließ sich aufgrund dieser Daten noch am selben Tag, dem 16. März 2020, in einer TV-Ansprache zu einer „radikalen Empfehlung“ hinreißen. Er empfehle, dass die Leute , wenn möglich, von zu Hause arbeiten und Orte wie Kneipen und Restaurants meiden sollten. Während beispielsweise der bayerische Ministerpräsident den Katastrophenfall feststellte und Schließungen, Grenzkontrollen sowie Ausgangsbeschränkungen angeordnet wurden, konnte sich der Premierminister vorerst nur zu einer Empfehlung entschließen. Damit war nichts gesetzlich verbindlich geregelt. Also besagter Kellner im Pub hatte die persönliche Freiheit, zwischen Gesundheitsrisiko oder Existenzvernichtung zu wählen. In der Vorstellungswelt eines elitär sozialisierten Boris Johnson kommen solche Alternativen offensichtlich nicht vor.
Natürlich sah auch der Premier und seine Regierung über den britischen Tellerrand hinweg auf Europa. Dort schickte man sich an, sich auf einen strengen Lockdown vorzubereiten. Die Gefahrenlage auch für das Vereinigte Königreich lag klar auf der Hand und hätte eigentlich schnelles entschlossenes Handeln erfordert.
Aber anstatt Verantwortung für unbeliebte und nur schwer durchsetzbare Maßnahmen zu übernehmen und die Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu kommunizieren, überließ man die Menschen sich selbst. Eine gesetzlich geregelte finanzielle Unterstützung war daher nicht im Fokus der Regierung. Für die Masse der Menschen, die als Lohnabhängige oder als Eigenständige arbeiten und leben, ist dies aber von existenzieller Bedeutung.
Später rechtfertigten Minister und Wissenschaftler ihr Zögern damit, dass sie gedacht hätten, die Bevölkerung würde drastische Maßnahmen nicht akzeptieren. Sie schätzten schlichtweg die Bedürfnisse der Bevölkerung, deren Lebensbedingungen ihnen nur rudimentär bekannt sind, völlig falsch ein. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen rechtfertigen und von der Bevölkerung akzeptiert werden, so lange sie notwendig, verhältnismäßig, wirksam und vernünftig erscheinen und auf absehbare Zeit beschränkt sind.
Als das Vereinigte Königreich eine Woche später, am 23. März, doch den Lockdown verhängte, gab es bereits 12 648 bestätigte Covid-Fälle und mehr als 1 000 Todesfälle. Es war offensichtlich, dass das Virus außer Kontrolle geraten war. Die Regierung war gezwungen, zu reagieren. Den Zeitpunkt, an dem sie hätte agieren können, hatte sie verpasst.
Wie wenig bewusst sich die regierende Elite ihrer Verantwortung für das ganze Land ist, zeigt auch das Szenario aufgrund der schweren Covid-Erkrankung des Premierministers.
Während Boris Johnson im Krankenhaus um sein Leben kämpfte, hatte Außenminister Dominic Raab vorübergehend die Leitung der Regierungsgeschäfte inne. Doch Raab regierte nur mit Zustimmung des Kabinetts auf Konsensbasis. Es war nicht klar, welche Befugnisse er hatte, um wichtige Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel drastischere Maßnahmen durchzusetzen oder eine Ausstiegsstrategie aus dem Lockdown zu entwickeln und umzusetzen.
In jedem noch so kleinen Betrieb gibt es normalerweise einen gut eingearbeiteten und mit Befugnissen ausgestatteten Stellvertreter. Nicht so im Vereinigten Königreich. Es gab also allen Ernstes mitten in einer Pandemie eine nicht wirklich handlungsfähige Regierung, weil der Premier erkrankt war. Was, wenn er gestorben wäre?! Dabei stellt sich für mich die Frage, ob sich dieser Klüngel aus Freunden und ehemaligen Schulkameraden der Verantwortung für ein ganzes Land überhaupt bewusst ist! Worum geht es diesen Leuten eigentlich? Um Positionen? Macht? Geschäfte? Gewinnen? Image?
Worum geht es diesen Leuten eigentlich? Um Positionen? Macht? Geschäfte? Gewinnen? Image?
Erst kürzlich, Anfang Oktober 2021, sah sich Boris Johnson mit der Forderung konfrontiert, die wachsende Krise im Land dringend in den Griff zu bekommen: Preiserhöhungen, Steuererhöhungen, Treibstoffmangel, Arbeitskräftemangel, Krise der Versorgungskette, ein Problem, das es zuletzt in den 70er Jahren gegeben hatte und das viele britische Bürger und Unternehmen nun als „Nebenwirkung“ des Brexit erlebten. Der Premierminister wies jede Verantwortung von sich und tat die aktuellen „Belastungen“ als Nebenwirkungen der wirtschaftlichen Erholung des Landes nach der Covid-Pandemie ab. Boris Johnson erklärte allen Ernstes den Wirtschaftsführern, die von der Regierung Aktionen zur Problemlösung erwarteten, dass es nicht seine Aufgabe sei, „jedes Problem in der Wirtschaft zu lösen“. In einer Botschaft forderte er die Wirtschaftsführer auf, ihren Mitarbeitern einfach mehr zu zahlen, um die steigenden Lebenshaltungskosten aufzufangen und die Arbeitsplätze für inländische Arbeitnehmer attraktiver zu machen, da es keine Möglichkeit gebe, Tausende von Kurzzeitvisa für ausländische Arbeitnehmer zu erteilen.
Wütende Wirtschaftsführer warfen Boris Johnson daraufhin vor, er reiche den Schwarzen Peter einfach weiter, nachdem er ihre Befürchtungen hinsichtlich einer steigenden Inflation und unterbrochener Lieferketten abgetan und geleugnet habe. Das Land befinde sich in einer Krise und der Premierminister weigere sich, dies einzusehen und etwas dagegen zu unternehmen.
Um den Herausforderungen durch Wirtschaftsbosse und die prekäre Versorgungslage kurzfristig zu entkommen, zieht sich Boris Johnson mit seiner Familie in die luxuriöse Villa seines Freundes und Ministers Lord Goldsmith an der Costa del Sol zurück. Es ist bereits der zweite Urlaub binnen vier Wochen. Die Untergebenen des Premierministers bleiben zurück, um die Krise zu verwalten, denn für Lösungen wäre eigentlich die gewählte Regierung zuständig. Auch Kanzler Rishi Sunak steht zu diesem Zeitpunkt, aus welchen Gründen auch immer, für Regierungsgeschäfte nicht zur Verfügung.
Der Chef der Stahlindustrie, der befürchtet, dass innerhalb von 4 bis 6 Wochen im Vereinigten Königreich das Licht ausgehen werde, sieht es nicht als angemessen an, dass der Premier in so einer Situation Urlaub macht.
Und auch die Aufarbeitung der Verantwortungslosigkeit in der Pandemie wird öffentlich.
Am 12. Oktober 2021 enthüllt ein umfassender und vernichtender Bericht von Abgeordneten der parteiübergreifenden Ausschüsse für Gesundheit und Soziales sowie Wissenschaft und Technologie, dass der Umgang zu Beginn der Pandemie einer der größten Misserfolge im Bereich der öffentlichen Gesundheit sei, die das Vereinigte Königreich je erlebt habe. Mindestens 20.000 Menschenleben hätten die Verzögerungen und Fehler von Ministern und wissenschaftlichen Beratern im frühen Stadium der Pandemie gekostet.
Kabinettsmitglied Steve Barcley weigert sich jedoch in Interviews wiederholt, sich für das Versagen der Regierung zu entschuldigen. Obwohl er den Bericht nicht gelesen hat, weist er jegliche Schuld von sich. Er beharrt darauf, dass die Regierung den wissenschaftlichen Empfehlungen gefolgt sei, das NHS geschützt und Entscheidungen auf der Grundlage vorliegender Beweise getroffen habe. Der frisch ernannte Wissenschaftsminister George Freeman geht sogar so weit, Covid-Opfer zu beschuldigen, da sie aufgrund ihres Übergewichts ja selbst an einem schweren Verlauf Schuld hätten. Er macht dabei Menschen mit einer Stoffwechselerkrankung zum Sündenbock für die Untätigkeit der Regierung zu Beginn der Pandemie.
Quelle: Metro 13.10.2021 Covid Verdict: Its your fault. Entschuldigung? Eine fette Chance. Es ist beleidigend, Covid-Opfer und ihre Familien zu beschuldigen.
Wenn jemand in einer Regierung ein Amt übernimmt, bekommt er oder sie mit der Macht auch Verantwortung. Man ist für Erfolg und Misserfolg verantwortlich, denn man hat Entscheidungen getroffen. Zu diesen Entscheidungen gehört auch, welche Experten man zu Rate zieht und was man mit den Ratschlägen und Gutachten anfängt. Statt blind den Vorschlägen wissenschaftlicher Experten zu folgen, müssen die Einzelergebnisse im Kontext gesehen werden. Ansonsten könnten ja gleich Experten zeitweise die Regierung übernehmen! Berater und Wissenschaftler können den gewählten Regierungsmitgliedern niemals die Regierungsverantwortung abnehmen. In der momentanen Zusammensetzung der Regierung durch Vertreter der Elite scheint dieses Prinzip jedoch nicht bekannt zu sein.
Profilorientierung statt Aufgabenorientierung
Ich unterstelle der Elite, dass sie sehr um ihre Imagepflege bemüht ist, was bedeutet, dass man den Blick in erster Linie auf die Medienwirksamkeit richtet. Entscheidungen werden daher auf der Basis getroffen, ob sie sich in den Medien besonders wirkungsvoll darstellen lassen und nicht, ob es sich um effektive, wirksame Maßnahmen handelt. Spektakuläres bringt spektakuläre Berichterstattung hervor. So funktioniert das.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Bau der Nightingale Hospitals.
Bereits Ende März 2020 waren im ganzen Land die Intensivstationen überfüllt. Aufgrund der durch ständige Kürzungen in den vorangegangenen 10 Jahren der Tory Regierung stark verringerten Kapazitäten kam das öffentliche Gesundheitssystem sehr früh an seine Grenzen. Ohne Fehler der Vergangenheit einzugestehen, musste eine spektakuläre Lösung her.
Die Armee wurde eingesetzt, um innerhalb von 9 Tagen ein gigantisches Krankenhaus im O2, einem Kongress Zentrum in London, zu errichten. Die Regierung lobte sich selbst ob dieser Herkulestat und erteilte den Auftrag, weitere ähnlich gigantische Krankenhäuser zu errichten. Die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems werde damit gebannt, so ihr Versprechen.
Was man, und das ist typisch für diese Regierung, jedoch übersehen hatte, war, dass das entsprechendes Pflegepersonal für Infektionskrankheiten nicht zur Verfügung stand. Fachkräftemangel! Ein in der Branche bekanntes Phänomen hatte sich anscheinend nicht bis zur Regierung durchgesprochen. Die wenigen Fachkräfte konnten nicht von ihrer Arbeit in anderen Krankenhäusern abgezogen werden. Als Folge konnte zum Beispiel im neuen Nightingale Krankenhaus in London am Osterwochenende 2020, an dem Rekordzahlen von mit Covid infizierten Schwerstkranken in die Londoner Krankenhäuser eingeliefert wurden, nur eine handvoll Patienten behandelt werden. Insgesamt wurden in diesem Nightingale Krankenhaus 51 Patienten bei einer Kapazität von 4.000 Intensivbetten behandelt, bevor es zu einem Impfzentrum umfunktioniert wurde.
Quelle: https://www.bmj.com/content/369/bmj.m1860. Covid-19: Nightingale hospitals set to shut down after seeing few patients.
Aber man hatte seinen Medienhype und die Öffentlichkeit schaut nicht so lange so genau hin.
Politiker hatten sich profiliert. Die Aufgabe, das Gesundheitssystem zu schützen, war aber nicht erfüllt worden. In den folgenden Monaten wurden im ganzen Land sechs weitere Nightingale Krankenhäuser gebaut, zu Gesamtkosten von über £ 220 Millionen und mit einer Kapazität von über 11 000 Intensivbetten, die jedoch ebenfalls aus besagten Gründen kaum genutzt werden konnten. Inzwischen sind vier dieser Krankenhäuser wieder geschlossen, drei sind von Schließung bedroht, kommen aber bis auf weiteres zumindest als Impf- oder Diagnostikzentren zum Einsatz.
Die Stilllegung dieser Nightingale-Krankenhäuser, von denen einige noch keinen einzigen Covid-19-Patienten aufgenommen haben, wirft zweierlei Fragen auf.
Wurden die Mittel zur Bekämpfung der Pandemie unverhältnismäßig stark auf den Aufbau von Intensivpflegekapazitäten konzentriert?
Wie kam die Entscheidung für ein so teueres Profilierungsprojekt zustande, ohne dass auch nur ein Politiker, ein Wissenschaftler oder ein Experte des Gesundheitswesens auf die Problematik des Fachkräftemangels hingewiesen hätte? Oder wurden vielleicht Hinweise aus der Praxis ignoriert, um das Prestigeprojekt nicht zu gefährden?
Aufgabenorientierung, die man von Volksvertretern erwarten darf, sieht jedenfalls anders aus. Es ist allgemein bekannt, dass es beim Lösen einer komplexen Aufgabe darauf ankommt, unterschiedliche Perspektiven und Ebenen einzubeziehen. Um das zu bewerkstelligen, ist auch die Expertise der Praktiker gefragt.
Boris Johnson und sein Kabinett, geprägt von Standesdünkel und Besserwisserei, blieben jedoch unter sich, beriefen sich auf die Wissenschaftler der SAGE-Gruppe und fragten weder Menschen mit langjähriger praktischer Erfahrung im Gesundheitswesen um Rat, noch schauten sie über die Grenzen nach Europa. Stattdessen trafen sie nicht durchdachte Entscheidungen und verlangten deren Ausführung.
Diese Vorgehensweise ist nicht nur in der aktuellen Krise zu beobachten, sondern sie scheint ein Muster zu sein. Entscheidungen scheitern an der Realität, weil Politiker, die der Elite entstammen, die Praktiker und ihre Expertise nicht wertschätzen und daher auch die an der Basis arbeitenden Menschen nicht am Entscheidungsprozess beteiligen. Proteste der Menschen, die dann diese falschen, nicht weit genug gehenden oder nicht umsetzbaren Maßnahmen durchführen sollten, führen folglich regelmäßig zu dringend notwendigen Überarbeitungen. Diese ineffektive Arbeitsweise basiert vermutlich auf der Annahme, dass Praktiker mehr oder weniger Befehlsempfänger seien, mit denen man nicht auf Augenhöhe zusammenarbeite.
Demokratieverständnis der Elite – jovi und bovi
In einer Demokratie haben alle Menschen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten. Doch Eliten sind Personen, die es gewöhnt sind, Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen zu nehmen, also gesellschaftliche Macht auszuüben. Das Spannungsfeld zwischen Elite und Demokratie und was die Elite vom Gleichheitsgrundsatz hält, wurde in der Coronakrise besonders deutlich.
Wer die Gesetze macht, scheint irgendwie auf sonderbare Weise über dem Gesetz zu stehen, frei nach dem bereits erwähnten lateinischen Ausspruch „quot licet jovi, non licet bovi“ (Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt.).
Am Umgang mit den Regelungen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit und den Kontaktbeschränkungen zeigt sich dieses skandalöse elitäre Selbstverständnis der Ungleichheit.
Nennen wir als Beispiel das Verhalten Dominic Cummings, eines engen Beraters des Premiers Boris Johnson.
Dominic Cummings – die Ausnahme von der Regel!
Als er im März 2020 fürchten musste, sich und seine Familie auch wie der Premierminister mit Covid angesteckt zu haben, reiste er mit seiner Familie von London nach Durham (268 Meilen, 431 km, 5 Stunden Fahrzeit), um im Fall einer Erkrankung in der Nähe seiner Familie zu sein. Er wurde in den folgenden Tagen, offensichtlich nicht erkrankt, bei einem Ausflug mit Frau und Kind in der Nähe von Durham Castle gesichtet.
Die Direktive für den Rest der Bevölkerung lautete, unter allen Umständen zu Hause zu bleiben. Die Menschen mussten nicht nur Einsamkeit und Isolation ertragen, sondern konnten ihre Angehörigen in Pflegeheimen nicht sehen und sogar schwer erkrankte und sterbende Verwandte oder Freunde in den Krankenhäusern nicht besuchen. Für viele war dies eine sehr harte Zeit, während sich ein Regierungsberater das Leben leichter macht. Warum? Weil er es konnte!
Die Polizei von Durham sah in seinem Verhalten nur einen geringfügigen Verstoß. Der Premier mit seinem Kabinett und die wissenschaftlichen Berater der Regierung gaben Cummings volle Rückendeckung. O-Ton: „Was Cummings gemacht hat, hätte jeder verantwortungsbewusste Familienvater getan.“
Wie bitte? Was? Ein Aufschrei ging durch das Land ob dieser groben Verletzung der Lockdownregeln. Der Regierungsberater, der sich nicht an die Ausgangssperre hält, ist ein verantwortungsvoller Familienvater und der einfache Bürger, der dasselbe tut, wird sanktioniert?!
Diese Episode untergrub letztendlich die Verbindlichkeit der Lockdownregeln der Regierung und führte zu erheblichem Schaden in der Pandemie.
Quelle: Dominic Cummings potentially broke lockdown rules, say Durham police. The Guardian, 28th May 2020.
Matt Hancock – alle sind gleich, außer mir!
Völlig absurd ist die Geschichte des damaligen Gesundheitsministers Matt Hancock, die sich im Mai 2021 ereignete. Er war heimlich in seinem Büro gefilmt worden (das Material wurde an die Zeitung „Sun“ geschickt und von dieser veröffentlicht), wie er seine Assistentin umarmte und küsste.
Dass dabei seine langjährige Affäre mit seiner engsten Beraterin öffentlich wurde, ist eine Sache, aber dass er gegen seine eigenen Kontaktverbote mit Personen eines anderen Haushalts verstieß, eine andere. Tragisch-komisch wird es, wenn man bedenkt, wie Hancock mit dem Rücktritt Prof. Fergusons, der sich einer ähnlichen Verfehlung schuldig gemacht hatte, umgegangen war. Er hatte dessen Rücktritt gefordert, denn die Kontaktbeschränkungen und Regeln der Distanzierung würden schließlich für alle gelten. Offensichtlich aber nicht für ihn selbst.
Wahrscheinlich hätte dieses Vergehen nicht zwingend zu seinem Rücktritt führen müssen, wenn nicht andere politische Auseinandersetzungen diesen Skandal befeuert hätten. Lange Zeit hatte Boris Johnson seinen Gesundheitsminister gedeckt, auch als er von Dominic Cummings (nach dessen Ausscheiden als spezieller Berater) wegen seiner verfehlten Politik in der Pandemie stark angegriffen worden war. Aber letztendlich brauchte die Regierung vermutlich einen Sündenbock für die Misere in der Covid-Krise. Der Zeitpunkt des Skandals war günstig für die Regierung, ungünstig für Hancock.
Prof. Ferguson – Mein Fehler, meine Konsequenzen!
Im Gegensatz zu Boris Johnson, Dominic Cummings, Matt Hancock und anderen Mitgliedern der regierenden Elite war Prof. Ferguson nicht der Meinung, dass seine Regelverletzung weniger wiege als die der Normalbürger.
Als man ihn dabei beobachtete, wie er Besuch von seiner Geliebten bekam in einer Zeit, da man strikt zu Hause zu bleiben hatte und jedweden Kontakt mit Mitgliedern anderer Haushalte vermeiden musste, gestand er sein Fehlverhalten ein, zog die Konsequenzen und trat umgehend von seiner Position als wissenschaftlicher Berater im SAGE-Ausschuss zurück. Seine Integrität und seine Fachkompetenz blieben unberührt von diesem Fehltritt. Er wird immer noch häufig in den Medien um Stellungnahmen gebeten.
Quelle: Prof. Neil Ferguson verlässt die Regierung, nachdem er die Abriegelung „unterminiert“ hat. BBC 6. Mai 2020.
Nach all diesen Skandalen war die Öffentlichkeit für das Ungleichheitsempfinden „quot licet jovi non licet bovi“ der regierenden Elite sensibilisiert und Dreistigkeiten mussten von da an verschleiert werden.
Fingierte Pilotprojekte um Quarantäneregeln zu umgehen
Im Juli 2021 galt das Gesetz, dass jeder, der durch die Covid-App gewarnt wurde, weil er/sie mit einer infizierten Person über einen längeren Zeitraum in Kontakt gekommen war, sich in Quarantäne begeben müsse. Diese Regel, bei gleichzeitigem Abbau von Beschränkungen, führte zu großen Problemen im Alltag und legte teilweise die Wirtschaft lahm. So konnten z. B. zeitweise nicht mehr alle U-Bahn-Strecken im gewohnten Takt bedient werden, weil zu viele Angestellte in Quarantäne waren. Das Vorgehen zu öffnen und gleichzeitig strenge Quarantäneregeln beizubehalten, ist eher mit einem Schildbürgerstreich zu vergleichen, als mit einer durchdachten Maßnahme.
Noch absurder wurde die Situation, als Regierungsmitglieder zu den Betroffenen gehörten. Sie griffen ganz tief in die Trickkiste.
Weil der neu bestellte Gesundheitsminister Sajid Javid im Juli 2021 gleich in seiner ersten Amtswoche positiv auf Corona getestet worden war, gab Downing Street bekannt, dass die Kabinettsmitglieder, die in engen Kontakt mit ihm gekommen waren, sich nicht wie vorgeschrieben isolieren müssten, da sie an einem VIP Pilotprogramm mit täglichen Tests teilnehmen würden. Zu diesen Personen zählten der Premierminister Boris Johnson und der Chancellor Rishi Sunak.
Während dieses Argument Monate zuvor beim Regierungsmitglied Michael Grove noch Wirkung gezeigt hatte, als er mit seinem Sohn vom Champions League Finale in Portugal zurückkehrte und nicht wie alle anderen in die eigentlich vorgeschriebene Quarantäne gehen musste, klappte es diesmal nicht mehr. Opposition und Öffentlichkeit hatten dazugelernt und verbaten sich dieses dreiste Verhalten.
Die betroffenen Politiker fügten sich. Ein kleiner Fortschritt in Sachen Gleichheit vor dem Gesetz oder „Was dem Ochsen nicht erlaubt ist ist dem Jupiter auch nicht erlaubt“ oder so ähnlich. (LL)
Quelle: Covid-19: PM and chancellor self-isolate after rapid U-turn. BBC, 19th July 2021. Polly Toynbee, Mo 19th July 2021, The Guardian: Boris Johnson’s ‘freedom day’ isolation tells us the virus is everywhere.
Weitere Analysen
In anderen Beiträgen befasse ich mich mit weiteren Phänomenen, die im Zuge der Krise zutage traten
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