Allein im Dschungel der Familie
- anon
- 20. Nov. 2022
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. Okt. 2023
(DE) Im Frühling 1953 jubelten angeblich sieben Erwachsene: „A Deandl!“ (Das ist Bayerisch und heißt „ein Mädchen“.) Naja, der Jubel war neun Monate vorher, als sich meine Ankunft ankündigte, bei meinen beiden Großmüttern, meinen 19-jährigen Eltern und den beiden Geschwistern meiner Mutter nicht so lautstark ausgefallen wie der Ärger über das Missgeschick. Aber ich muss sagen, man schickte sich drein und konnte sich dann tatsächlich über das neue Familienmitglied freuen. Uneheliche Kinder waren in meiner Familie außerdem keine Seltenheit, eher eine Tradition.
Aber, wie sich Jahre später herausstellte, war die plötzliche Vaterschaft für meinen Vater ein Schock gewesen. Das Trauma bestimmte durchaus seine weitere Familienplanung. Ich blieb ein Einzelkind.
Und diese Position hatte es in dieser Familie in sich.
Püppchen und Zankapfel
Meine Großeltern väterlicherseits und meine Großmutter mütterlicherseits wohnten in der selben Siedlung in der selben Straße nur zwei Haustüren voneinander entfernt. Während bei meiner Oma mütterlicherseits noch ihre drei Kinder lebten, waren die anderen Großeltern alleine. Mein Vater war wochenlang auf Montage und meine Mutter arbeitete als Textilverkäuferin. Eine eigene Wohnung hatten die beiden lange nicht.

Eifersüchtig hütete die Familie meiner Mutter ihr Püppchen, also mich. Die andere Oma wurde ausgegrenzt und durfte nicht so richtig teilhaben. Diese wiederum beschwerte sich bei Opa und bei meinem Vater, wenn er am Wochenende oder sogar nur alle paar Wochen nach Hause kam. Dann wurde gestritten, was das Zeug hielt. Wenn ich Shakespeares „Romeo und Julia“ sehe und die Montagues den Capulets und umgekehrt das Leben so richtig schwer machen, dann habe ich immer eine Art déjà-vu. Mein Leben als niedlicher kleiner pausbäckiger Zankapfel war vorprogrammiert.
Als einziges Kleinkind in einer Familie der 50er Jahre wurde ich gern besonders hübsch ausgestattet und fotografiert. Nicht in jeder Familie gab es zu dieser Zeit einen Fotoapparat. Mein Vater arbeitete hart dafür, solche Luxusartikel anschaffen zu können.
Und man muss sagen, als Accessoire war ich als Kleinkind ebenfalls gut zu gebrauchen. Die Fotos aus dieser Zeit zeigen, dass man mich immer liebevoll ausstaffierte.

Kleidchen, Mäntelchen, Mützchen und Schühchen, alles passend! Die große Schwester meiner Mutter, meine Patentante, hatte im Gegensatz zu meiner Mutter immer schon gern mit Puppen gespielt und hatte daher ihre wahre Freude an mir.

Mein Onkel, der ältere Bruder meiner Mutter, wusste auch, wie er sich mit der Kleinen in Szene setzen konnte. Sobald ich laufen konnte, tauchte er häufig mit mir an der Hand auf, wurde mir berichtet. Ein junger, gut aussehender Fußballer, der sich um seine kleine Nichte kümmerte! Zum Niederknien! Die Mädchen schmolzen dahin!
Bald lebte dann mein Onkel mit Frau und Söhnchen mit meiner Oma und mir in der Zwei-Zimmer-Wohnung meiner Großmutter.
Ich liebte meinen kleinen Cousin, mit dem ich drei Jahre lang gemeinsam aufwuchs. Und auch später, als wir längst mit unseren Eltern leben durften oder mussten, gönnten wir uns gemeinsame gemütliche und ruhige Tage bei unserer Oma.
Obwohl wir eine Zeit lang fast wie Geschwister aufwuchsen und uns sehr mochten, war jeder mit seinen Eltern allein. Wir konnten einander nicht unterstützen oder Trost spenden. Unsere Bezugspunkte, Vater, Mutter und deren Beziehung, waren nicht identisch und das machte den entscheidenden Unterschied. Wir waren und blieben Einzelkinder.
Ein Kind mit Verantwortung
Über mein Leben als Einzelkind im Dschungel der Familie kann ich sagen, dass es ausgesprochen anstrengend war. Wie ich bereits sagte, hingen im Grunde ständig Gewitterwolken am familiären Himmel und manchmal war ich mit meiner schieren Existenz schuld an deren Entladung.
Ich habe noch eine Szene in Erinnerung. Ich, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, warte im Hauseingang vor der Kellertreppe auf meine Mutter, die im Keller etwas holen will. Mein Großvater kommt und steigt in den Keller hinab, worauf Geschrei und Kreischen dort unten zu hören ist. Dann bricht meine Erinnerung ab. Blackout! Selbstschutz! Sie setzt wieder ein, aber als vage Erinnerung an eine völlig aufgelöste Stimmung um mich herum. Wut. Fassungslosigkeit. Bedrohung. Aus späteren Erzählungen schlussfolgere ich, dass es wohl zu Handgreiflichkeiten kam und das nur, weil meine Mutter mir das Kleid von meiner Großmutter ausgezogen und ein anderes, von ihr selbst ausgewähltes, angezogen hatte. So leicht konnten bei uns kriegsähnliche Zustände entstehen und ich immer mitten drin. Ganz allein als Zwergerl zwischen den Giganten.
Als Vermittlerin zwischen Eltern hat man es schwer.
Einige Jahre später, als wir als Familie eine eigene Wohnung hatten und mein Vater ziemlich regelmäßig am Wochenende zu Hause war, kam`s oft noch schlimmer. Ich habe diese Wochenendaufenthalte bei meinen Eltern gehasst. Es gab stets Streit. Einer der beiden möglichen Anlässe kam immer zum Tragen. Entweder gab es Eifersüchteleien zwischen meiner Mutter und ihrer Schwiegermutter, die sich sehr ähnlich waren und beide meinen Vater auf ihre Seite ziehen wollten. Oder es ging um Geld. Mein Vater strebte Besitztum an und meine Mutter konnte mit Geld einfach nicht umgehen. Wobei beide Geld verdienten, also durchaus für damalige Verhältnisse genug zur Verfügung gestanden hätte.

Aber ganz egal, worum es ging, man konsultierte die kleine Tochter als Zeugin. „Sei ehrlich, hat die Mama, die Oma…. das gesagt?“, „Hast du gesehen, wie Papa dies oder das gemacht hat?“….
Ich war stolz und gequält gleichermaßen über dieses Vertrauen und ob dieser großen Verantwortung, die man mir übertrug. Keine Schwester, kein Bruder, die oder der mit mir die Last geteilt hätte - eben allein im Dschungel der Familie.
In entspannteren Zeiten und besonders nach der Versöhnung nach einem heftigen Streit machten mir meine Eltern eindringlich klar, dass solche Auseinandersetzungen in allen Familien üblich seien und das, was in unserer Familie geschehe, niemanden etwas anginge. Wie bei der Mafia – omertà!
Man setzte Vertrauen in mich, nahm mich in die Pflicht, erwartete Verständnis von mir und belastete, aus heutiger Sicht, meine kindliche Seele.
Als sich meine Eltern in den 70er Jahren endlich scheiden ließen, war meine Seele nicht mehr ganz so kindlich, ich war fast 20 Jahre alt, aber sie ließen auch diese Gelegenheit mich einzubeziehen nicht ungenutzt verstreichen. Ich wurde um Betreuung meiner Mutter gebeten. Man zitierte mich herbei, um die Scheidungsmodalitäten zu besprechen, als Moderatorin sozusagen. Ich sollte bei Gesprächen mit dem Rechtsanwalt anwesend sein. Und ich wurde zur Rechenschaft gezogen, wenn das Ergebnis nicht akzeptabel war. Man schickte mich mit Schmuck von einem zum andern. Und selbstverständlich setzte man mich regelmäßig über das üble Verhalten des jeweils anderen in Kenntnis, mit der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartung, ich möge doch für Ordnung sorgen.
Und ein letztes Mal tat ich wie mir geheißen. Anstatt meine Eltern auf sich selbst zu verweisen, setzte ich mich für eine friedliche Scheidung ein und scheiterte kläglich. Ich hatte nicht verstanden, dass sie sich verabscheuten und verletzen wollten und dass sie mich für ihre Rache oder die Kompensation ihrer Schuldgefühle benutzten. Am Ende habe ich das aber dann doch kapiert. Aber genützt hat mir das zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr.
Nun musste ich nicht mehr schlichten, sondern dafür sorgen, dass die zwei Lebenswelten, die mütterliche und die väterliche, sich möglichst nicht berührten. Ich fühlte ständig die Schere im Kopf. Pass auf, was du sagst! Achte darauf, dass einer über den anderen nichts erfährt! Wenn du zu dem einen gehst, sorge dafür, dass der andere das nicht gleich mitkriegt! Der Krieg zwischen den Beiden ging noch eine Weile weiter und ich habe mehr als einmal einen Querschläger abbekommen.
Schaden und …
Noch heute, im Alter von 67 Jahren, steigt Panik in mir hoch, wenn meine kleine Familie am Tisch sitzt und plötzlich Ärger in der Luft liegt. Nervös versuche ich zu schlichten, jedem gerecht zu werden, auszugleichen, eben den Schiedsrichter abzugeben, den meine Eltern regelmäßig bei mir abgerufen haben.
Ich hatte auch in meinen Liebesbeziehungen keine Ahnung, wie ich mich mit dem Partner auseinandersetzen sollte, ohne dass die Welt explodieren würde. Meine Erfahrung hatte mich gelehrt, dass ein einfaches Nein oder eine Kritik am anderen oder durch den anderen zu heftigen emotionalen Verwerfungen führen konnte. Als Kind hatte ich während solcher Streitigkeiten oft das Gefühl, dass dies das Ende der Beziehung meiner Eltern, meiner Familie sei, dass kein Weg mehr zurück führen würde.
Also wurde später für mich jede kontroverse Auseinandersetzung in meinem Leben, egal ob mit Freunden, innerhalb der Familie oder mit einem Partner, eine existenzielle Angelegenheit. Ich hatte Angst, dass es nach einem Streit keine Fortsetzung der Beziehung mehr geben konnte. Es war mir nämlich als Kind nicht klar, wie meine Eltern bzw. die beiden Familien nach all den üblen Verletzungen einander wieder zugetan sein konnten. Diesen Prozess der Aussprache nach dem Konflikt, des Verzeihens und der Versöhnung habe ich nicht mitgekriegt. Da wurde ich komischerweise nicht einbezogen. Plötzlich war alles scheinbar wieder gut. Ich muss sagen, mich hat das sehr verstört und auch abgestoßen.
Bis heute tappe ich eigentlich im Dunkeln, wie man sich streitet, ohne das Ende der Beziehung in Betracht zu ziehen, was ja immer mit großen Verlustängsten einhergeht. Aber ich gehe bewusster mit meiner Schwäche um. Daher vermeide ich es zwar, Kritik zu üben oder ein entschiedenes Nein zu äußern, damit ich keinen existenziellen Streitfall auslöse, aber ich bin meiner ursprünglichen Überlebensstrategie nicht mehr ausgeliefert.
Diese meine ursprüngliche Strategie war ein wenig lächerlich und ein wenig tragisch und auf jeden Fall nicht so richtig erfolgreich im Sinne ausgewogener Liebesbeziehungen und Freundschaften.
Einerseits behielt ich meine Kritikpunkte so lange zurück, bis mir der Kragen platzte. Andererseits platzte mir der Kragen erst, wenn ich eigentlich mit dem Gegenüber schon gar nichts mehr zu tun haben wollte. Dann musste ich auch nicht mehr mit meinen Kritikpunkten rausrücken, dann konnte ich auch einfach gehen, mich zurückziehen, mich abkapseln, im Nebel unerreichbar verschwinden.
Ich baute also die Bedeutung des Gegenübers für mich innerlich und unbemerkt so lange Schritt für Schritt, Kritikpunkt für Kritikpunkt ab, bis es keinen Grund mehr für Verlustangst gab und keinen Grund mehr um die Beziehung zu kämpfen und zu bleiben. Und dann ging ich, meist sehr zur Überraschung der Anderen.
Mehr oder weniger traf dieses Verhaltensmuster auf alle Arten von Beziehungen zu.
… Nutzen
Aber diese mangelnde Fähigkeit Kritik zu üben, ohne in Panik zu geraten, hat auch zu positiven Verhaltensmustern und Fähigkeiten geführt. Mittlerweile muss ich Streitigkeiten nicht mehr notorisch vermeiden, sondern ich gestalte sie möglichst so, dass mein Anliegen sachlich und wohlwollend rüber kommt. Ich versuche, mir eine sehr fundierte Meinung zu bilden, die möglichst viele Perspektiven berücksichtigt. Sachlichkeit, Wissen, Erfahrung und Beobachtung sowie zuhören und Offenheit für Gegenargumente helfen eindeutig, eskalierende Streitereien zu vermeiden. Ich liebe es sogar kontrovers zu diskutieren. Es ist spannend, andere Perspektiven in Betracht zu ziehen.
Nur eines darf nicht passieren: Emotionalität und Irrationalität. Offensichtliche Gemeinheiten, Intrigen, persönliche Angriffe, Gleichgültigkeit, Ignoranz, Arroganz gepaart mit Dummheit führen bei mir zu Panik, Atemnot und Hilflosigkeit.
Ich bin nicht harmoniesüchtig, sondern ich finde streitende Menschen, einschließlich mich selbst, einfach abstoßend. Schriftlich kann ich daher sehr deutlich werden, weil so abstoßende Verhaltensweisen vermieden werden, aber dafür meine Fähigkeit zur Analyse mehr zum Tragen kommt. Ich habe Zeit, die Zusammenhänge gedanklich zu klären und neuralgische Punkte zu identifizieren. Beim Schreiben kann ich mich auch um den richtigen und eindeutigen sprachlichen Ausdruck bemühen.
Ich habe Freude daran, um die richtigen, genau zutreffenden Worte zu ringen.
Mir ist es immer wichtig, dass mein Gegenüber so genau wie möglich und wirklich nachvollziehbar über meine Argumente informiert ist, bevor es sich für eine aggressive Auseinandersetzung entscheidet. Ich arbeite also prinzipiell auf Frieden hin, mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Diese Fähigkeiten und Unfähigkeit habe ich aufgrund meines zerstrittenen Elternhauses entwickelt.
Selten ein Schaden ohne Nutzen, wie meine Oma zu sagen pflegte. Meine Fähigkeit zu analysieren, meine sehr ausgeprägte Beobachtungsgabe und mein ehrliches Interesse an unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen sowie ein gewisses Talent, mich einigermaßen differenziert ausdrücken zu können, haben mir beruflich durchaus genützt – als Reporterin, als Lehrerin, als Verkäuferin, als Texterin usw.
Beispielsweise war ich oftmals alarmiert, wenn ich als Lehrerin in Elterngesprächen mit Eheproblemen und Scheidungssituationen konfrontiert war. Manchmal schien eine Instrumentalisierung von Kindern stattzufinden und ich versuchte, den Konflikt der Eltern von ihrer Verantwortung für das Kind zu separieren. Ob es etwas genützt hat, weiß ich nicht. Schließlich sind Lehrer ja meist keine Psychologen oder Therapeuten.
Als Mutter habe ich mich sehr bemüht, mein Kind aus ehelichen Streitereien herauszuhalten, um nur ja nicht den Fehler meiner Eltern zu wiederholen. Mein Ex-Mann und seine Frau sind seit vielen Jahrzehnten meine besten Freunde und wir alle verbringen als Familie sehr gern Zeit miteinander.
Darüber bin ich sehr glücklich.
Meine Eltern – Kinder ihrer Zeit

Als gestandene Frau habe ich eine Weile versucht, meinen Eltern ihr Verhalten vorzuwerfen. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass sie bereuten und sich bei mir entschuldigten. Aber ich glaube, das kann man nicht erwarten. Sie wussten es nicht besser. Sie waren einfach Kinder ihrer Familien und ihrer Zeit und taten im Rahmen dessen ihr Bestes.
Zu Beginn der 50er Jahre fing für sie das Leben eigentlich erst an. 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nazis geboren, war ihre Kindheit von Unsicherheit, Bedrohung und Krieg geprägt gewesen. Als im Mai 1945 der Krieg zu Ende war, waren meine Eltern 11 Jahre alt und hatten die letzten Monate mehr oder weniger in Luftschutzkellern verbracht und eine Schule nicht allzu oft von innen gesehen.

Heute, im Jahr 2021, machen wir uns Gedanken über die Schäden, die die Schulschließungen und somit der Mangel an Präsenzunterricht und sozialen Kontakten sowie Strukturierung des Alltags bei den Kindern anrichtet.
Damals machte sich bestimmt kaum jemand Gedanken darüber, dass diese Kinder Todesangst, Entbehrung, Verlustangst und Verluste sowie Unsicherheit und Machtlosigkeit der Eltern in all dem Chaos erleben und ertragen mussten. Das alles hat sie geprägt und sie hatten keine Zeit und Gelegenheit irgendetwas wirklich zu verarbeiten.
Vater
Mein Vater, dessen Geschichte ich an anderer Stelle gern erzählen möchte, musste am Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit Verantwortung für sich und seine Familie übernehmen, obwohl er noch ein kleiner Junge war. Der Vater war Kriegsversehrter, die Mutter nicht sehr lebenspraktisch für Krisenzeiten veranlagt, die kleine Schwester an Typhus gestorben, die große Schwester mit ihrem Mann nach Australien ausgewandert. Er war allein und ein Kämpfer.
Die Fürsorge und die Existenzsicherung sowie die Ausstattung des Zuhauses mit allem, was gut und schön war, hatte für ihn daher auch später oberste Priorität. Er sagte von sich selbst, er sei als Kind immer hungrig gewesen. Im übertragenen Sinn hat er sein Leben lang diesen Hunger zu stillen versucht. Er tat alles, was er konnte, damit es seiner Familie – als da waren Eltern, Schwiegermutter, Frau, Kind, Schwager, Schwägerin – gut ging und hoffte, dafür Geborgenheit und Fürsorge zu bekommen. Sein Kind war daher mehr ein Kumpel für ihn, der diese Anstrengung, Geborgenheit in einem Heim für sich und seine kleine Familie zu schaffen, emotional unterstützen sollte. Solange er mit meiner Mutter lebte, konnte er jedoch sein Ziel nicht erreichen.
Mutter
Denn auch meine Mutter, deren Geschichte ich ebenfalls an anderer Stelle erzählen möchte, kann man als Bedürftige bezeichnen. Sie war vaterlos fast von Geburt an. Als jüngstes Kind einer alleinerziehenden Mutter, die Mühe hatte, ihre drei Kinder während des Krieges und in der Nachkriegszeit durchzubringen, suchte sie ihrerseits ständig nach einem Vater, der der Familie Sicherheit und Geborgenheit geben konnte. Allerdings blieb sie auf der Suche nach Geborgenheit Zeit ihres Lebens auf ihre Ursprungsfamilie fixiert.
Mein Vater blieb allein mit seinem Wunsch und seinen Träumen. Meine Mutter bemühte sich immer in erster Linie um ihre Mutter. Sie versorgte sie so gut sie konnte und hatte auch gute Argumente, denn Oma hat mich aufgezogen, während meine Mutter arbeitete. Man könnte fast sagen, dass sie ihrer Mutter ein Kind geschenkt hat. Als meine Mutter 2020, bereits schwer an Alzheimer leidend, meinen Sohn und mich durchaus erkannte, blickte sie mir dennoch lang und intensiv in die Augen und sagte bedeutungsvoll: „Meine Mama!“
Aber meine Mutter hatte etwas Eigenes, das sie nicht mit ihrer Mutter und auch nicht mit ihrer Schwester teilte. Sie legte großen Wert auf ihre Außenwirkung. Schön und gut gekleidet zu sein, war bereits in den 50er Jahren ein wichtiges Statement und dies entsprach dem Nerv der Wirtschaftswunderzeit. Ihr Töchterchen auszustatten, war ihre Art Mutter zu sein. Später, als sie älter wurde, kamen durchaus weitere Qualitäten hinzu, aber am liebsten wollte sie meine Freundin sein. Dagegen habe ich mich immer gewehrt und meine echten Freundinnen um ihre Mütter, die auch wirklich nur Mütter sein wollten, beneidet.
Freuden der Einzelkind-Existenz
Meine Freundinnen, die mehrere Geschwister und nur einen Ernährer in der Familie hatten, beneideten mich hingegen um all den Luxus, der mich umgab. Und es stimmte auch, ich hatte jede Menge Puppen und anderes Spielzeug, die hübschesten Kleider, Roller, Radl, Skier, Tonband, Plattenspieler und weiß der Himmel, was noch. Wir fuhren in den Urlaub nach Italien und zum Skifahren in die Berge.

Ich habe das alles durchaus genossen, aber ich hätte es liebend gern mit jemandem geteilt. So war ich überglücklich, als meine Freundin Ende der 60er Jahre mit uns nach Italien in den Urlaub fahren durfte. Das war für uns beide aus unterschiedlichen Gründen eine große Sache und ist eine herrliche Erinnerung, die wir fast immer aufwärmen, wenn wir uns sehen.
Ich habe mich über vieles gefreut, aber es war auch selbstverständlich, dass ich Dinge bekam, noch bevor ich sie mir wünschen konnte. Mein Vater machte sich gern selbst eine Freude, indem er mir bzw. uns etwas Besonderes schenkte. Ich hätte sehr anspruchsvoll werden können. So ein typisches Einzelkind, das auf nichts verzichten kann und alles für sich selbst haben will.
Aber das bin ich, warum auch immer, nicht geworden. Im Gegenteil!
Geteilte Freude – doppelte Freude
Wenn ich in die Sandkiste stapfte, ausgestattet mit allerhand Eimerchen, Schäufelchen, Backformen u. Ä. setzte ich mich an den Rand und schaute zufrieden den anderen Kindern zu, wie sie mit meinen Sachen spielten. Sie hatten so eine Freude an meinem Spielzeug, also hatte ich auch Freude. Meine Eltern verstanden das nicht. Sie glaubten, ich würde ausgenutzt und mischten sich sehr zu meinem Leidwesen ein.
Ich fühlte mich diesbezüglich immer unverstanden, bis ich als längst erwachsene, eigentlich schon mittelalterliche Frau, mit dem geistig behinderten (Trisomie 21) Sohn einer Freundin einen Silvesterabend lang am Fernseher virtuelles Kegeln spielte. Er hatte mir das beigebracht und es machte echt Spaß. Wir spielten gegeneinander und immer, wenn er gewann, jubelte er und ich tat geknickt. Wenn ich gewann, jubelte ich und er aber auch. Als ich ihn schließlich fragte, wieso er jubeln würde, wenn ich gewänne, antwortete er: „Ich hab dir das Spiel doch beigebracht, dann ist das doch gut, wenn du gewinnst.“ Ich hab das sofort bis in meine tiefste Seele hinein verstanden. Und ich denke, der Junge hätte mein zufriedenes Sitzen am Sandkastenrand auch sofort verstanden.
Ich wollte einfach so gern mit jemandem teilen. Diese Erfahrung fehlte mir in meiner Kindheit und ich habe später immer wieder versucht, sie nachzuholen. In Wohngemeinschaften zu leben, war beispielsweise ein Versuch, den ich mehrfach in meinem Leben gestartet habe. Man teilt mit mehreren Gleichgesinnten Freud und Leid des Alltagslebens. Das birgt meiner Erfahrung nach weniger Gefahren als eine Kleinfamilie wie meine Familie, so mein Denkansatz. Naja, jetzt lebe ich jedenfalls schon sehr lange ganz allein. Aber ich hab’s wenigstens versucht!
Und ich denke, dass ich so gern Gastgeberin bin, hat auch etwas damit zu tun. Beispielsweise habe ich in der jüngeren Vergangenheit manchmal viele Menschen zum Aperitif in meine kleine Wohnung geladen. Und sie kamen alle mit Freude und fühlten sich bis in den frühen Morgen wohl bei mir. Was hat mir am meisten gefallen? Ich ging als Gastgeberin von einer Gruppe zur anderen und freute mich, dass sich alle wohl fühlten, gut versorgt waren und sich glänzend unterhielten. Ich saß wieder zufrieden am Rand der Sandkiste und schaute den anderen beglückt beim Spielen mit meinen Sachen zu. Wenn ich selbst Gast bin, fühle ich mich niemals so entspannt wie als Gastgeberin, denn dann teile nicht ich meins mit jemandem.
Und wie war’s bei euch?
Das also ist meine Einzelkindgeschichte, die ich in den 50er und 60er Jahren erlebt habe, die mich geprägt hat und die bis heute in meinem Leben Wirkung zeigt. Heute mehr positiv als negativ.
Ich weiß, dass es in den 50er Jahren häufig vorkam, dass Teenager ungewollt Eltern wurden. Mich würde es schon sehr interessieren, wie andere Einzelkinder meiner Generation vielleicht unter anderen Umständen Ähnliches oder ganz Anderes erlebt haben.
Das Erinnern an und Schreiben über meinen Start ins Leben war eine echte Herausforderung. Aber mir ist auch klar geworden, wie stark meine jugendlichen Eltern von ihrer Zeit geprägt waren und ich habe mich entschlossen, auch ihre Geschichte aufzuschreiben. (TA)
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