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Biographische Anekdoten kreativ gestalten

Aller Anfang ist schwer, besonders beim Verfassen von Texten und ganz besonders beim Erzählen von eigenen Erlebnissen.

Während wir in Gesprächen ganz leicht den Einstieg in unsere Geschichten finden, müssen wir uns beim Schreiben genau überlegen, wovon wir eigentlich erzählen wollen und warum. Das ist der schwierigste Teil des gesamten Prozesses.

Wovon wir erzählen wollen, ergibt sich aus den Bildern und Filmen, die vor unserem inneren Auge immer wieder hochsteigen.

Die wenigsten Menschen wollen immer wieder ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen oder eine ausführliche Autobiografie schreiben.

Meist sind es Anekdoten, zeittypische und auch familientypische Szenarien, prägende Erlebnisse und Erfahrungen und dergleichen mehr, die uns immer wieder in den Sinn kommen, wenn wir mit der Familie oder mit Freunden zusammensitzen und uns unterhalten.

Eine klassische Erinnerung, die viele Menschen aus christlich geprägten Ländern in sich tragen, ist beispielsweise die Erinnerung an die Weihnachten der Kindheit.

Aber es gibt natürlich viel mehr: die Schulzeit, die Rituale und ehernen Gesetze im Elternhaus, der Lebensstil, Entstehung, Verlauf und Ende von Freundschaften, Erfahrungen und Erlebnisse auf Reisen, beim Berufsstart, im Berufsleben…., Krankheiten, Lebenskrisen…, Lebensmuster, die sich immer wiederholen…

All diese persönlichen Erinnerungen bergen auch Informationen über die jeweilige Zeit und den damaligen Zeitgeist. Und auch das gilt es herauszuarbeiten.

Also welche Erinnerungen erzählenswert sind, haben wir längst entschieden. Es sind meist die Geschichten, die wir oftmals bei jeder passenden Gelegenheit von uns geben. Aber es können auch Erinnerungen sein, die häufig in uns hochsteigen, die wir aber mit niemandem teilen. Warum auch immer.

Eine weitere Frage ist, warum wir uns ausgerechnet an diese Erlebnisse und Erfahrungen immer wieder erinnern und uns gemüßigt fühlen, davon zu erzählen oder davon emotional betroffen sind und ins Nachdenken kommen.

Vielleicht staunen wir über die Entwicklung der Welt oder wir lachen über unser Selbst in einer anderen Zeit.

Vielleicht werfen diese Erinnerungen aber auch ein Schlaglicht auf individuelle prägende Erfahrungen, deren Bedeutung für unser Leben noch nicht ganz geklärt ist. Es ist so eine Ahnung im Hintergrund, dass dieses singuläre oder auch sich ständig wiederholende Ritual oder Muster irgendwie wichtig war für uns.

Oft sind unsere Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnisse ein Kontrast zur gegenwärtigen Welt. Manchmal besser, manchmal schlechter. Aber darauf kommt es nicht an. Die Andersartigkeit ist das Interessante, ist die Information, die weitergegeben werden soll.

Auch das Gegenteil ist spannend. Nach dem Motto, „Manche Dinge ändern sich nie!“, können Erinnerungen Muster bewusst machen und uns in Erstaunen oder auch Resignation versetzen.

Aber biografische Geschichten sollen natürlich in erster Linie einen Unterhaltungswert haben, allerdings auch einen analytischen und einen informativen Aspekt.

Schritt 1: Welche Erinnerung trägt eine Geschichte in sich?

Eigentlich trägt jede Erinnerung eine biografische Geschichte in sich. Das ist eine Behauptung, die ich anhand von Beispielen erläutern möchte.

Ein Beispiel:

Ich habe eine wie ich 1953 geborene amerikanische Freundin, die immer wieder davon erzählt, dass sie als Kind bei Wind, Wetter und Kälte im See schwimmen lernen musste. Täglich im Sommer! Jedes der vier Geschwister! Nur nicht bei Gewitter! Sie erzählt, wie sehr sie es gehasst hat, aber auch wie gut sie es im Nachhinein findet. Sie erzählt von den Erlebnissen, malt ein Bild von bibbernden Kindern und dem strengen Regiment des gut bürgerlichen, traditionsbewussten Elternhauses. Sie geht über zu den täglichen Fahrten zur Schule, zum Schulbetrieb, zu den häuslichen Pflichten der Kinder… Führt im Grunde zum Erziehungsstil der Mittelschicht im Amerika der 50er Jahre.

Und ich lausche und stelle erstaunt fest, dass wir zwar zum selben Jahrgang gehören, aber eine völlig andere Kindheit erlebt haben. Das Credo ihrer Kindheit war Pflichtbewusstsein, das Credo meiner Kindheit war Sportlichkeit und Konsum. Ich finde das sehr spannend.

Diese Erinnerung ans Schwimmenlernen ist eigentlich ein loser roter Faden. Wenn man daran zieht, kommt eine biografische Geschichte heraus, die über eine Kindheit im Amerika der 50er Jahre etwas erzählt.

Ein anderes Beispiel:

Eine Freundin, die 1952 in der DDR geboren wurde, erzählt immer wieder davon, wie sie zu ihrer Narbe an der Augenbraue kam. Sie ist als ungefähr fünfjähriges Kind in eine Schaukel gelaufen.

Jahrelang habe ich die dahinterliegende Geschichte nicht gekannt. Sie lief in die Schaukel, weil sie in wilder Panik vor etwas wegrannte. Der Anlass war, dass sie von einer Betreuerin in das Gebäude einer Wochenkrippe hereingebeten wurde. Sie begleitete aber lediglich ihre Mutter, um den kleinen Bruder abzuholen, der als jüngstes Kind nun, wie sie zuvor, Woche für Woche seine ersten drei Jahre in dieser Kinderbetreuung der DDR verbringen musste. Wie mag sie diese Zeit in der Wochenkrippe erlebt haben, dass sie so panisch reagierte? Was hat es mit den Wochenkrippen und überhaupt der Erziehung in der DDR auf sich?

Erkennen Sie die Geschichte hinter dieser Erinnerung?

Das Beispiel-Szenario:

Für diesen Leitfaden zum Schreiben biografischer Geschichten habe ich ein Thema gewählt, das wohl vielen vertraut ist: Weihnachten

Immer wieder erzähle ich davon, dass das Fest des Friedens und der Liebe in meiner Kindheit nicht sehr friedlich gewesen sei. Hauptsächlich meine Mutter sorgte für Stress und Weihnachtsstimmung gleichermaßen.

Meine Erinnerungen sind Heilige Abende, an denen das Christkind dreimal Geschenke bringt, an denen ich höllisch aufpasse, dass niemand beleidigt ist, weil ich das Geschenk nicht gewürdigt habe, an denen meine Mutter heult, weil ihr alles zu viel wird…

Meine Weihnachtserinnerungen bergen ganz eindeutig eine oder sogar mehrere biografische Geschichten.

Schritt 2: Wie fange ich an?

Es gibt unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten und unterschiedliche Fragestellungen.

-Ich könnte einen Ausschnitt aus einer besonders schönen, lustigen oder grässlichen Erinnerung an ein Weihnachtsfest in der Vergangenheit schildern: Als mein Sohn drei Jahre alt war, warteten wir auf das Christkind und sangen dabei, „….dann stell ich den Teller raus, Niklaus legt bestimmt was drauf…“. An dieser Stelle kreischte mein Sohn los: „Nicht den Teller rausstellen! Nicht den Teller rausstellen!“ „Ja wieso denn nicht?“, fragte ich ihn verblüfft. „Da passt das Piratenschiff nicht drauf!“, heulte er ziemlich verzweifelt….

-Ich könnte mich fragen, worin eigentlich für uns Erwachsene die Magie von Weihnachten besteht, obwohl wir ja nicht an den Weihnachtsmann oder das Christkind glauben.

Meine Schwiegertochter ist Thailänderin und feiert 2021 seit sechs Jahren mit unserer Familie Weihnachten. Sie fragte in diesem Jahr erstmals, was Weihnachten für uns eigentlich so wichtig mache. Wir erzählten ihr vom religiösen Ursprung des Festes, was aber für uns alle keine Bedeutung mehr hat. Ja was ist es dann, das ihren Ehemann damals in Thailand am 24. Dezember immer so traurig und heimwehkrank werden ließ? Wir kamen zu dem Schluss, dass es die Kindheitserinnerungen an wundersame mystische Weihnachtsfeste sind, die wir immer wieder aufleben lassen wollen. …

-Ich könnte davon erzählen, dass meine Familie und ich heute, obwohl wir nur aus Erwachsenen bestehen, die Rituale unserer Kindheit Jahr für Jahr nachspielen. Wir sind fünf Erwachsene, davon drei von fast 70 Jahren und zwei 40-Jährige, aber vier von uns sitzen jedes Jahr an Heilig Abend in der Küche und warten darauf, dass das Christkindl-Glöckchen im Weihnachtszimmer klingelt und wir hineingehen dürfen…

-Ich könnte darüber nachdenken, was die Menschen heutzutage eigentlich an Weihnachten feiern. Die meisten erinnern sich nur noch vage an den religiösen Hintergrund des Festes.

Als im Dezember 2020 und 2021 die Corona-Pandemie wütete, mahnten die Politiker und Virologen dringend zu Kontaktbeschränkungen, damit man das Weihnachtsfest wie gewohnt im größeren Kreis der Familie feiern könne. So wichtig ist den christlich geprägten Menschen offensichtlich Weihnachten. Aber wieso? Aktive Christen oder gar wirklich Gläubige sind wohl die wenigsten. Daher hat ja auch der Weihnachtsmann das Christkind abgelöst. Der Weihnachtsmann steht für Geschenke und ist eine Erfindung von CocaCola, das Christkind steht für das Jesuskind in der Krippe. Geht überhaupt noch jemand in die Christmette, ursprünglich der Höhepunkt des Weihnachtsfestes? Ich denke, was heute gefeiert wird, sind die Erinnerungen…

-Ich könnte von einem lustigen oder traurigen oder verkorksten Weihnachtsfest in der jüngeren Vergangenheit erzählen. Es war das Weihnachten des fluchenden Christkinds. Wir, die zwei Seniorinnen der Familie und der erwachsene Sohn, ja sogar der Hund, warteten vor der Tür darauf, dass der Senior der Familie die Kerzen am Baum entzündete und das Glöckchen läutete und wir eintreten durften. Dieses Ritual wurde Jahr für Jahr wiederholt und wir spielten unser Weihnachtsschauspiel. Aber statt Glockenklängen ertönte mehrmals aus dem Weihnachtszimmer: „Leck mich am Arsch! Ja so ein Scheiß!“ Wir schauten uns verständnislos an! ….. Als wir dann eintreten durften, ertönte zwar „Stille Nacht…“, aber es brannten nur ganze drei Kerzen am recht üppigen Baum. Niemand hatte daran gedacht, Kerzenhalter zu kaufen. Unser schallendes Gelächter war bestimmt bis zum Christkind oder dem Weihnachtsmann am Nordpol zu hören.

-Ich könnte schildern, was ich beim Singen von „Stille Nacht…“ heute empfinde, im Gegensatz zu meiner Kinderzeit, nämlich nichts, außer dass ich den Ton nicht treffe.

Die Lichter in der Kirche gehen aus. Nur noch die Kerzen des Weihnachtsbaumes strahlen. Es ist still, die Menschen bereiten sich mental vor auf das, was jetzt kommt. Die Orgel setzt ein und die Menschen beginnen: „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht…..“. Auch ich, damals noch ein Kind, singe voll Inbrunst alle Strophen auswendig mit. Sechzig Jahre später findet ein ähnliches Szenario im Wohnzimmer statt und die Familie singt „Stille Nacht…“ und auch ich beteilige mich an der Singerei. Von Inbrunst ist allerdings nicht mehr die Rede. Vergeblich versuche ich den Ton zu treffen und hoffe, dass es bald vorbei ist. Dieses Lied hat für mich seinen Zauber verloren….

-Ich könnte jemanden zitieren, der etwas Witziges, Weises… zu oder über Weihnachten gesagt hat. „Ich werde Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr hindurch darin aufzubewahren“ (Zitat Charles Dickens). Es kommt mir so vor, als würde jeder Mensch, der in seiner Kindheit Weihnachten erlebt hat, diese Erinnerung nicht nur ein Jahr, sondern ein Leben lang in seinem Herzen aufbewahren. …

Wie Sie sehen, gibt es unzählige Einstiegsmöglichkeiten in ein Thema, in eine Geschichte aus Ihrem Leben.

-Ich habe mich für das Beschreiben eines Szenarios entschieden, das heute stattfindet, mit einem Kind des Jahres 2021.

Anfang der Geschichte: Das jüngste Mitglied in meinem Freundeskreis, der dreijährige Bobby, platzt fast vor Aufregung beim Warten auf den Weihnachtsmann. Und dann, am Abend des 24. Dezember 2021, kommt die Erlösung in Form von Lichtern am Weihnachtsbaum und darunter liegenden Geschenken. Wünsche gehen in Erfüllung und man bekommt sogar Spielzeug, das man sich gar nicht gewünscht hat. Die ganze Familie ist freudig erregt. Jeder packt etwas aus und ist ehrlich oder theatralisch überrascht. Es gibt gutes Essen und Süßigkeiten und alle scheinen bei weihnachtlichen Klängen glücklich und zufrieden zu sein.

Das wird Bobbys Erinnerung an Weihnachten prägen, Jahr für Jahr.

Überleitung zu meiner Erinnerung: Meine Weihnachtserinnerungen der Kindheit liegen über 60 Jahre zurück, in den 50er und 60er Jahren. Die Aufregung und das Fiebern auf den Heiligen Abend, an dem das Christkindl kommt, war auch in meiner Kindheit ganz wunderbar, aber ansonsten gab es kleine aber feine Unterschiede.

Schritt 3: Vom Allgemeinen bzw. Allgemeingültigen der damaligen Zeit...

Welche Rituale, welche Legenden, welche Gefühle, welche Stimmung, welche Gedanken, Vorstellungen, Lebensverhältnisse, Einstellungen, Traditionen, Bräuche … herrschten in meiner Kindheit in Bezug auf dieses Thema vor?

In diesem Schritt geht es darum, die Zeit und den Zeitgeist zu beschreiben und zu schildern, das, was jedem und jeder Gleichaltrigen vertraut ist, worin die eigenen Erlebnisse eingebettet sind. Und eventuell erkennt man einen äußeren oder inneren Wandel, einen kleinen oder großen Unterschied zur Gegenwart.

Weihnachten war mystisch für mich, denn zu uns Kindern der 50er Jahre kam das Christkindl. Wer das war und wie es aussah, wusste niemand so recht. Eine Mischung aus Jesuskind und Engel? Es ging die Mär, dass es angeflogen käme, praktischerweise durchs Fenster, und die Geschenke geschwind unter den Weihnachtsbaum lege. Wenn neugierige Kinder vor der Tür des Weihnachtszimmers, was ja meist das Wohnzimmer oder in unserem Fall die Wohnküche war, durch das Schlüsselloch schauten, um einen Blick aufs Christkindl zu erhaschen, nahm es die Geschenke wieder mit. Eine ganz üble Drohung. Ich hab beim Warten aufs Christkindl daher die Augen sogar ganz fest zugezwickt, damit ich ja nicht aus Versehen das Christkindl erblickte.

Dabei hatte man zumindest als Kindergartenkind das Christkindl längst schon gesehen. Beim Krippenspiel nämlich, das jeder Kindergarten, der auf sich hielt, veranstaltete. Da lag das neugeborene Christkindl in Gestalt einer Babypuppe oder Wachsfigur in der Krippe und hieß Jesuskind. Weihnachten war in den 50er Jahren in Bayern ein christliches Fest. Die Herbergssuche von Maria und Josef sowie die Geburt Jesu im Stall und die Anbetung durch die Hirten, das Auftauchen des Sterns von Bethlehem und der Besuch der heiligen Drei Könige aus dem Morgenland Kaspar, Melchior und Balthasar wurde als alljährliches Theaterstück für Eltern und Kinder im Kindergarten, in der Schule und in der Kirche inszeniert. Fast jedes Kind konnte eine Rolle ergattern. Wenn das schauspielerische Talent für Maria und Josef nicht reichte, dann wenigstens für Ochs und Esel. Die mussten wenigstens keinen Text lernen.

Der Sinn des Festes wurde einem Kind so bewusst. Es war halt der Geburtstag vom Jesuskind und an Geburtstagen bekommt man Geschenke, in dem Fall sozusagen stellvertretend für Jesus.

Einen Weihnachtsmann, der völlig grundlos Geschenke verteilt und nicht einmal fragt, ob man sie sich durch Bravsein verdient hat, gab es nicht. Besonders der Heilige Nikolaus, der mit seinem Knecht Rupprecht am Abend des 05. Dezember durch die Straßen zog, legte großen Wert auf die Versicherung, dass man das Jahr über brav gewesen sei und seinen Schwächen wie exzessiven Schnullergebrauch oder Essensmäkeleien nicht nachgegeben habe. Es kam sogar zu Zeugenbefragungen im Familienkreis, denn Knecht Rupprecht schickte sich immer wieder an, Kinder in seinen mitgebrachten Sack zu stecken. Wohingegen der Nikolaus bereit war, jede Menge Süßigkeiten rauszurücken, wenn man ihn überzeugt hatte. Dieser bärtige Mann mit einer Bischofsmütze war der Vorbote des Christkindls. Ihn konnte man sehen und anfassen, fürchten und lieben und manchmal hatte er eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Onkel oder einem Freund der Familie. Meist legte er seine Gaben jedoch vor die Tür und klingelte Sturm, ausgerechnet dann, wenn Papa gerade in den Keller gegangen war, um ein Bier zu holen.

Ja, das waren die faszinierenden mysteriösen Weihnachtslegenden meiner Kindheit. Gibt es eine schlüssige Legende zum Weihnachtsmann vom Nordpol? Ich weiß es nicht.

Schritt 4 ... zum Besonderen (Kern der Erzählung) bzw. Individuellen in der damaligen Zeit.

Blick auf das konkrete, typische, individuelle Erlebnis in der eigenen Kindheit aus der naiven Perspektive des Kindes

Aber damals wie heute war und ist der kleinste gemeinsame Nenner von Weihnachten: Familienfest!

Auch meine ziemlich streitlustige Familie gab sich alle Mühe, so etwas wie Weihnachtsfrieden zu halten, was zu teilweise merkwürdigen Ritualen führte.

In meinen ersten Lebensjahren erinnere ich mich daran, dass das Christkindl insgesamt dreimal am Heiligen Abend kam. Es war praktisch hauptsächlich mit mir und meinen Gaben beschäftigt.

Wenn es gerade dunkel geworden war, wurde ich von der versammelten Familie aus der Wohnküche meiner Oma mütterlicherseits ins eiskalte Schlafzimmer geschickt, denn die Erwachsenen hatten vor dem Fenster das leise Klingeln der Englein, die das Christkindl begleiten, gehört. Und siehe da, das Glöckchen ertönte kurz darauf, aus dem Radio erklang „Stille Nacht, heilige Nacht…“, die Kerzen am wunderbar geschmückten Christbaum leuchteten, die heutzutage verbotenen Wunderkerzen sprühten Funken, es roch nach Tannennadeln, Wachs und Wunderkerzen und beinah hätte ich vor Staunen und Ehrfurcht vergessen, dass da Spielzeug für mich unter dem Baum lag.

Wenn ich mich dann von dem Schock erholt hatte und so richtig losspielen wollte, musste alles zusammengepackt werden, denn es galt die nächste Station zwei Haustüren weiter anzusteuern.

Bei meinen Großeltern väterlicherseits war das Christkindl schon vor mir eingetroffen, denn als wir noch auf dem Weg in den ersten Stock zu Oma und Opa waren, klang schon wieder „Stille Nacht, heilige Nacht…“ durch den Hausflur. Und wieder strahlte der Weihnachtsbaum und sprühte Funken in der Wohnküche. Wieder lagen Spielsachen und diesmal auch Kleidungsstücke darunter und es duftete auch hier nach Kerzen und Tannennadeln. Ich staunte wieder angemessen, aber nicht mehr so überrascht, und machte mir Hoffnung auf ein bisschen Spielen-dürfen.

Aber nein! Wie schon vorher wurde alles wieder zusammengepackt und wir fuhren heim in die Wohnung, die meine Eltern und ich gemeinsam mehr oder weniger nur an den Wochenenden bewohnten. Mein Vater war ja in meinen ersten Lebensjahren während der Woche auf Montage und meine Mutter arbeitete als Verkäuferin von morgens bis abends. Daher lebte ich bei meiner Oma. Aber an Weihnachten waren wir dann tatsächlich in unserer Wohnung zusammen und es gab die ultimativ letzte Bescherung. Diesmal waren wir schneller als das Christkind vor Ort. Aber meine Eltern hatten diesen siebten Sinn, dass es wohl gleich kommen müsse. Und siehe da, „Stille Nacht, heilige Nacht…“, Kerzen und Wunderkerzen am Baum, Geschenke unter dem Baum. Alle hinlänglich bekannten Rituale wurden nochmals durchgezogen. Ein drittes Mal konnte ich mich aber nicht mehr dazu überwinden übermäßig zu staunen. Aber es war schön, dass ich nun in Ruhe spielen und Süßigkeiten essen konnte. Meine Mutter hatte die Gabe, wunderschöne üppige Weihnachtsteller herzurichten und sie machte sich auch die Mühe, Plätzchen, bunte Fondant- und Schokosterne in den Baum zu hängen. Das war wie im Schlaraffenland für mich.

Man kann sich nun mit Fug und Recht fragen, wieso dieser Bescherungsmarathon während meiner Kleinkindphase in meiner Familie veranstaltet wurde. Ich kann mir das nur so erklären.

Schritt 5: Erklärung und Hintergründe

In der Welt der Erinnerungen treten Akteure auf, die spezielle Charaktere sind, aber auch Kinder ihrer Zeit mit einer eigenen Geschichte sowie einer eigenen Perspektive auf das Geschehen.

Die Gesellschaft und der historische Hintergrund bilden den Rahmen des Szenarios.

Es ist daher meist notwendig und hilfreich, wenn eine Charakterisierung der wichtigsten Akteure und deren Beziehung stattfindet und der historische Hintergrund als Zeitkolorit geschildert wird.

Man sollte allerdings darauf achten, dass man nicht abschweift und sozusagen eine neue Geschichte anfängt.

In meiner Weihnachtserinnerung spielen meine Mutter und im Hintergrund die Konkurrenz zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter eine Rolle. Das Zeitkolorit spiegelt sich in der Arbeitswelt einer Textilverkäuferin und im Konsumrausch der 50er und 60er Jahre wider. Fotografien unterstützen diese Information anschaulicher als Beschreibungen.

Allwissender Ich-Erzähler aus heutiger Sicht: Meine Mutter war Textilverkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft und musste daher am Heiligen Abend bis 14 Uhr arbeiten. In den vorangegangenen vier Adventswochen waren die Samstage sogenannte „lange Samstage“ gewesen. Das hieß, dass die Läden sechs Tage die Woche bis 18 Uhr geöffnet waren. Üblicherweise mussten in den 50er und 60er Jahren die Geschäfte samstags am Mittag schließen. Nur einmal im Monat durfte bis abends geöffnet sein. Aber an Weihnachten sollten die Leute genügend Zeit haben, einzukaufen, was das Zeug hielt. Oh du fröhliche Konsumwelt! Doch die Verkäufer und Verkäuferinnen mussten den Einkaufswahnsinn der Wirtschaftswunderjahre stemmen. Sie standen bis zum bitteren Ende, in dem Fall bis zum 24. Dezember am frühen Nachmittag, in den Läden und bedienten gestresste Weihnachtsgeschenkeinkäufer auf den letzten Drücker. Heute sind die Öffnungszeiten durch Schichtdienst das ganze Jahr über stark erweitert. Damals gehörte die weihnachtliche Ausnahmesituation einfach zur Berufsausübung.

Während also mein Vater und ich uns die Zeit bei den Großeltern vertrieben und ein weihnachtliches Gefühl bei Plätzchen, Stollen und Geschichtenerzählen entwickelten, verkaufte meine Mutter Hemden, Krawatten und Socken, die schnurstracks unter dem Weihnachtsbaum landen sollten. Wir alle waren folglich ganz entspannt und in froher Erwartung und dann kam meine Mutter! Unruhe und Stress auf zwei Beinen! Sie hätte die Gestaltung des Heiligen Abends einer der Großmütter überlassen können, aber das entsprach nicht ihrem Naturell. Sie wollte nun auf Gedeih und Verderb das ideale Weihnachtsfest mit Frieden und leuchtenden Kinderaugen nach ihren Vorstellungen inszenieren. Alle anderen wollten sich aber nicht nerven lassen und ihr eigenes Ding machen. So kam es, dass ich ein Weihnachts-hopping vom Feinsten zu absolvieren hatte. Das war schon aufregend und das Weihnachten dieser Zeit ist eine zauberhafte Erinnerung. In irgendeiner dieser weihnachtlichen Wohnküchen gab es Würstl mit Sauerkraut und Schwarzer-Kipferl (spezielle Krustenbrötchen von der Bäckerei Schwarzer) und anschließend einen Punsch für die Erwachsenen. Wo das genau war, weiß ich nicht mehr, denn es war mir völlig schnurzegal. Hauptsache Weihnachten!

Aber es gab noch einen weiteren Grund für dieses dreifache Weihnachtsspezial: Eifersucht! Die beiden Pole, die sich abstießen, waren meine Mutter und ihre Schwiegermutter, also meine Oma väterlicherseits. Während meine Mutter sich und ihre eigene Mutter, die eigentlich ganz entspannt nur ihre Ruhe genießen wollte, in den Vordergrund des Weihnachtstheaters zu rücken versuchte, beklagte meine andere Oma sofort und unerbittlich ihre Zurücksetzung. Ihr war es wichtig, dass ihre Geschenke an mich mit ihr in Verbindung gebracht wurden, dass sie exklusiv in den Genuss der strahlenden Kinderaugen kam und dass das Ambiente nach ihren Vorstellungen gestaltet wurde.

Es gab daher nur eine Lösung, um den Weihnachtsfrieden zu erhalten, nämlich getrennte Weihnachten.

Einige Jahre später, als ich so 9 oder 10 Jahre alt war, also zu Beginn der 60er Jahre, war es um den Weihnachtsfrieden oft nicht gut bestellt. Meine Eltern nannten inzwischen eine moderne Drei-Zimmer-Wohnung mit einem Wohnzimmer ihr eigen. Daher trafen sich sämtliche Großeltern am Heiligen Abend bei uns. Kein Weihnachts-hopping mehr! Aber meine Mutter war immer noch im Verkauf tätig und kam abgehetzt und entnervt am Nachmittag nach Hause. Eigentlich hätte sie erst einmal Ruhe gebraucht. Aber es trudelten halt auch die frohgestimmten Großeltern fast gleichzeitig mit ihr ein. Alle erwarteten nun friedliche und harmonische Weihnachtsstimmung und stressten damit meine Mutter noch mehr. Es schwelten da spürbar so gewisse Spannungen! Aber meine Mutter hat es dann doch immer geschafft, das ganze Weihnachtsprogramm abzuspulen. Der Eklat kam meist nach der Bescherung. Offensichtlich hatten sich die eifersüchtigen Damen belauert, ob es irgendwelche Gründe gab, eifersüchtig zu sein. Eifersüchtig auf bessere Geschenke, eifersüchtig auf Freude über ein Geschenk der anderen Oma, eifersüchtig auf irgendwas.

Ich habe gelernt, möglichst die gleiche Freude bei jedem Geschenk zu zeigen, das Strahlen in den Augen anzuknipsen, würdigende Worte zu finden, jedes Geschenk gleich lang zu betrachten und es achtsam zu behandeln. Auch lauschte ich den Erläuterungen meiner Großmutter über Qualität und Kostspieligkeit ihrer Geschenke voller Interesse und beteuerte, dass ich sehr froh sei, dass meiner Aussteuer nun wieder herrliche Bettwäsche hinzugefügt werden könne, deren Wert ich sehr wohl zu schätzen wüsste.

Naja, Frieden vor Aufrichtigkeit!

Schritt 6: Abschluss der biografischen Geschichte

Das Ende einer biografischen Geschichte kann man wieder ganz unterschiedlich gestalten.

-Man könnte gedanklich in die heutige Zeit springen und Unterschiede sowie Ähnlichkeiten beschreiben.

Heute spielen in meiner Familie die Geschenke nur eine nachgeordnete Rolle. Das Wichtigste für uns ist das Zusammensein und das tagelang zelebrierte gute Essen. ….

-Provozieren:

2020 und 2021 war die Vorweihnachtszeit aufgrund der Corona-Pandemie stark eingeschränkt. Es gab keine Weihnachtsmärkte und -konzerte und wenig Weihnachtsfeiern. Die Einstimmung im Advent auf das eigentliche Fest war praktisch nicht vorhanden. Da ist mir erstmals aufgefallen, dass in der Adventszeit schon lange keine Chöre mehr am Sonntag Weihnachtslieder nach der Tagesschau zum Besten geben. Ich hatte das früher geliebt und heute vermisse ich es nicht einmal. Könnte man Weihnachten ganz abschaffen und statt dessen einen längeren Winterschlussverkauf einführen?

-Lehren, die man aus den eigenen Kindheitserfahrungen gezogen hat

Meine Kindheitserlebnisse mit Weihnachten haben dazu geführt, dass es für meinen Sohn nur eine Bescherung in unserem Zuhause gab, dass das Christkind alles gebracht hat…..

-Wünsche für die Zukunft und kritische Anmerkungen

Ich wünschte, der Sinn von Weihnachten wäre nicht verloren gegangen…..(Kein moralischer Zeigefinger!!)

-Spätere und heutige Traditionen: Ich habe inzwischen viele ganz unterschiedliche Weihnachten erlebt. Als ich Studentin war und in einer Wohngemeinschaft lebte, feierten wir ohne Weihnachtsbaum, aber mit einer beim Kartenspielen zusammengezockten Weihnachtsgans. Als mein Sohn noch klein war, lebten die magischen Weihnachtsgeister natürlich wieder auf. Später habe ich manches Weihnachtsfest auch allein verbracht, was mich aber nicht groß störte. Mein inzwischen erwachsener Sohn, der ein paar Jahre in Asien gelebt hat, erinnert sich, dass ihm das Herz an Weihnachten immer schwer wurde und er gern bei seinen Eltern, als da sind Vater, Stiefmutter und Mutter, gewesen wäre. Heute ist das so. Wir haben unsere eigenen Rituale, die recht international sind. Es gibt einen bayerischen Heiligen Abend mit Würstl und Kartoffelsalat sowie Geschenken unter dem Weihnachtsbaum, die das Christkind nach alter Tradition gebracht hat. Am ersten Weihnachtsfeiertag plündern wir in guter alter amerikanischer Tradition im Morgenmantel gemeinsam unsere mit Kleinigkeiten gefüllten Weihnachtsstrümpfe und die amerikanische Stiefmutter und ich kochen den ganzen Tag das amerikanische Truthahn-Menü, das wir dann feierlich abends verzehren. Und schließlich kocht seit sechs Jahren am zweiten Weihnachtsfeiertag unsere thailändische Schwiegertochter etwas Thailändisches.

Wir alle sind riesige Fans unseres internationalen Weihnachtsfestes.

Diese Beispiele sind nur Anregungen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Wichtig ist nur, dass dieser Textteil in Relation zu Schritt 4 und 5 viel kürzer ist, damit nicht eine neue Geschichte entsteht. Sollten die Erinnerungen sprudeln, kann man eine weitere biografische Geschichte konzipieren, eventuell mit einem anderen Schwerpunkt.

Es ist wichtig fürs Schreiben und auch fürs Lesen, dass man nicht alles, jedes Detail, jede Randerscheinung… in eine Geschichte packt. Mut zur Lücke heißt in diesem Fall nicht, dass man etwas weglässt, sondern dass man es eventuell ins Zentrum einer anderen Geschichte stellt.

Hinweis auf Alternativen:

Dieser Aufbau einer biografischen Geschichte in sechs Schritten ist eine Möglichkeit von vielen Arten des Erzählens. Es sind besonders Erinnerungen an Alltag, Bräuche,…, die man so unterhaltsam schreiben kann.

-Man kann auch von einem sich ständig wiederholenden Muster im Leben chronologisch erzählen, indem man nur Episoden schildert, in denen dieses Muster zum Tragen kommt.

-Man kann auch von einer Krise und einem Wendepunkt im Leben erzählen. In so einem Fall könnte

-die Krise am Anfang der Geschichte (1) stehen,

-der Weg dahin (2) würde in Rückblicken geschildert werden und

-der Ausstieg (3) aus der Krise müsste folgen,

-bevor man aus heutiger Sicht das Geschehen beurteilt (4)

.

Alle diese Vorschläge sind Anhaltspunkte, vielleicht ein Gerüst, was der jeweilige Erzähler/die jeweilige Erzählerin an seine/ihre Erinnerung anpassen muss.

Am besten Sie lesen sich einige unserer Geschichten unter den hier genannten Aspekten durch. Vielleicht kommen Sie auf ganz neue Ideen, ihre biografische Geschichte zu erzählen.

Wir würden uns darüber freuen.

Für Rückfragen und Bitten um Feedback zu einem Text stehen wir per E-Mail rememberrelatereflect@gmail.com natürlich immer gern zur Verfügung.

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