Patientenverfügung – nur eine Option?!
- anon
- 20. Nov. 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juli 2023
(DE) Es ist wieder einmal soweit. Ich sitze auf der Intensivstation an Inges Bett und halte ihre Hand. Sie atmet schwer, hat ihre Augen geschlossen und schläft. Wie so oft in letzter Zeit hatte sie der Notarzt wieder ins Krankenhaus gebracht. Ihr Herz, das nach einem Herzinfarkt geschädigt war, machte ihr immer häufiger zu schaffen. Sie bekam dann keine Luft mehr und musste in ärztliche Obhut. In den letzten Monaten waren die Abstände ihrer Krankenhausaufenthalte immer kürzer geworden. Ich bin dann immer an ihrer Seite und bleibe auch dieses Mal bei ihr und warte darauf, dass sie wach wird.
Ein gutes Leben und die Bereitschaft zu gehen
Ich kenne Inge schon jahrzehntelang. Als ich in den 60er Jahren als junge Frau nach München gekommen war, hatten sie und ihr Mann Martin sich um mich wie um ihre eigene Tochter gekümmert. Ihr einziger Sohn Andrew, der nur ein Jahr älter war als ich, hatte als Koch in Spitzenrestaurants gearbeitet, bis er eine junge Kunststudentin aus den Vereinigten Staaten kennenlernte, heiratete und nach der Geburt des ersten Kindes in die USA auswanderte. Beruflich war er auch dort erfolgreich, aber die Ehe zerbrach. Seine zweite Ehe in Amerika mit einer Lehrerin fand ebenfalls ein frühes Ende. Im Alter von 42 Jahren erlitt er einen Herzinfarkt und starb. Er hinterließ zwei Söhne aus erster und drei Söhne aus zweiter Ehe.
Es lebten aber nicht nur die fünf Enkelkinder meiner Freundin in Amerika, sondern auch ihre beiden Schwestern. Trotz häufiger Besuche in den Vereinigten Staaten bei den Familienmitgliedern in Denver, Colorado, und Florida, waren die beiden froh, ihre langjährige Freundschaft mit mir zu pflegen. Ein bisschen Familienersatz vielleicht!

Aber das Alter machte mit all seinen Schwierigkeiten auch vor meinen Freunden nicht halt. Inges Mann Martin starb 2009 an Krebs und ihr geschädigtes Herz wurde immer schwächer und damit auch meine Freundin. Ich kümmerte mich immer um sie, denn sie hatte sonst niemanden mehr in Deutschland und wir waren nun mal trotz des Altersunterschieds enge Freundinnen.
Als Freundinnen, die den Mut hatten, den Tatsachen nicht nur ins Auge zu schauen, sondern auch darüber zu reden, sprachen wir in den letzten Monaten oft übers Sterben. Inge war illusionslos und pragmatisch. „Ich bin 86 Jahre alt. Ich hab ein tolles Leben gehabt. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei!“, waren immer wieder ihre Worte. Ohne Bedauern und ohne Bitterkeit und bei klarem Verstand sprach sie sich immer wieder gegen lebensverlängernde Maßnahmen aus, wollte nicht leiden und dahinsiechen. Selbstverständlich hatte sie ihren Wunsch auch in einer rechtsgültigen Patientenverfügung festgehalten.
Sie war gefasst und bereit zum Sterben, wenn es denn soweit sein sollte.
Die Patientenverfügung wird vielfach ignoriert
Eines Tages war es dann tatsächlich so weit, dass ich an ihrem Bett saß und sie nicht mehr aufwachte. Sie lag über eine Woche auf der Intensivstation im Koma und wurde künstlich beatmet. Genau das hatte sie niemals gewollt.
Und es oblag mir, für sie und ihren Willen einzutreten, was sich als extrem schwierig herausstellen sollte.
Inges Patientenverfügung legte ich bei jeder Notfalleinweisung vor, musste jedes Mal eine Kopie anfertigen, da man die früher eingereichten Kopien nicht finden konnte oder erst gar nicht suchte.
Jeden Tag ging ich in die Klinik, um nach ihr zu sehen und sie zu begleiten. Jeden Tag sprach ich die Ärzte an und versuchte ihnen klarzumachen, dass meine Freundin keine sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen in irgendeiner Form mehr haben wollte. Mindestens fünf Kopien ihrer Patientenverfügung mussten irgendwo in den Aktenschränken des Krankenhauses herumgeistern, aber keiner der Assistenzärzte, mit denen ich es zu tun hatte, wusste davon – an keinem dieser zehn Tage auf der Intensivstation.
Die Absurdität dieses Vorgangs machte mich fassungslos und der massive Druck durch die Ärzte, Inge an den lebenserhaltenden Geräten zu halten, machte mich hilflos. Ich konnte nicht anders, als auch immer wieder Hoffnung zu schöpfen, wenn sie argumentierten, dass durch das neue hoch dosierte Antibiotikum vielleicht das Blatt noch einmal gewendet werden könnte.
Gegen diese Wand aus Verweigerung und Manipulation der Ärzte konnte ich nur schwer ankämpfen. Dabei sah ich deutlich, dass Inge an jedem dieser Tage das erleben und erleiden musste, was sie durch ihre Patientenverfügung eigentlich hatte vermeiden wollen. Ich war hin- und hergerissen.
Doch ab einem bestimmten Punkt wusste ich, was das einzig Richtige war. Ihre Nieren arbeiteten kaum noch. Sie hatte Wassereinlagerungen in den Beinen und im ganzen Körper. Sie konnte nicht mehr alleine atmen und war sowieso seit Tagen nicht mehr bei Bewusstsein.
Ich bestand ohne wenn und aber darauf, dass die Geräte abgeschaltet werden sollten. Ein Arzt erklärte sich schließlich dazu bereit. Aber noch auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn erhielt ich einen Anruf vom Chefarzt der Intensivstation. Er könne sich mit meiner Entscheidung nicht einverstanden erklären.
Fassungslosigkeit und Wut machten sich nun in mir breit.
Wie sollte man diese Intervention verstehen?! Mit welchem Recht ignorierte er den expliziten Willen meiner Freundin?! Es war ihre Entscheidung und nicht seine! Sie konnte sich jetzt nicht äußern, aber sie hatte das Ihre vor langer Zeit verbindlich geäußert! Sie hatte mit ihrer Freundin, nämlich mit mir, immer wieder darüber gesprochen und niemals an ihrer Entscheidung gezweifelt! Wieso glaubte dieser Mediziner, dieser Chefarzt, dass er das alles mit einem Federstrich wegwischen und ignorieren konnte!
Außerdem fand ich es unangemessen, über solch ein schwerwiegendes Thema am Telefon in der U-Bahn, umgeben von Massen von Menschen, zu sprechen. Ich bat um einen persönlichen Gesprächstermin am nächsten Morgen.
Natürlich war ich so aufgebracht, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ich wälzte mich hin und her und überlegte, wie ich am besten argumentieren könnte. Am besten würde es sein, ruhig und rational zu bleiben. Zumindest nahm ich mir das vor.
Meine guten Vorsätze wurden aber am nächsten Tag auf eine harte Probe gestellt, als ich bei meiner Ankunft in der Klinik feststellen musste, dass Inge nun auch noch an das Dialysegerät angeschlossen worden war. Als ich meine Fassungslosigkeit über diese Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber einer Sterbenden zum Ausdruck brachte, gestand einer der Ärzte, dass Inge in der Nacht sogar mehrmals wiederbelebt worden war.
Sie hätte gehen wollen! Sie hätte gehen können! Sie hatte bestimmt, dass man sie gehen lassen sollte! – Aber man ließ sie nicht sterben, obwohl es an der Zeit war.
Gespräche von Mensch zu Mensch
Dann war das Gespräch mit dem Chefarzt. Ich war voller Wut, überlegte dann aber, dass ich mit einer Konfrontation nicht weit kommen würde. Ein Angriff und Vorwürfe, wonach mir eigentlich zumute war, würden nur Gegenwehr hervorrufen.
Der Arzt war jung, so um die 40, aber recht verständnisvoll. Ich erzählte ihm von den Gesprächen über das Sterben, die Inge und ich öfter geführt hatten. Ich versicherte ihm, dass es ihr ein Anliegen gewesen sei, nicht sinnlose lebensverlängernde Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Ich schilderte ihm Inges Bereitschaft nach einem erfüllten Leben friedlich und in Würde zu sterben. Und ich wies ihn nochmals darauf hin, dass zu diesem Zweck und in diesem Sinne ja die Patientenverfügung verfasst worden war.
Dann fragte ich ihn: “Stellen Sie sich vor, Sie sind 86, liegen bereits seit 1 ½ Wochen im Koma. Sie werden vom Krankenhaus in ein Heim abgeschoben. Die Muskulatur wird sich abbauen und Sie sind zu keiner Bewegung mehr fähig. Sie bekommen nicht mehr mit, was um sie herum geschieht, und Sie siechen im Bett dahin, bis Sie irgendwann sterben. Meine Frage an Sie: Wollen Sie so sterben?“ Er schaute mich an und sagte: “Nein, das möchte ich nicht.” Daraufhin bat ich ihn inständig die Geräte abzuschalten.
Endlich stimmte er zu und versprach, sofort alles einzuleiten. Das war letztendlich ein gutes Gespräch. Aber dass es erst zu diesem Zeitpunkt und nur durch enormen Druck meinerseits stattfand, entspricht nicht den Erwartungen, die man beim Ausstellen einer Patientenverfügung hat.
Nach diesem Gespräch stand ich am Bett meiner Freundin und habe mich von ihr verabschiedet. Als der Pfleger kam, um die Geräte abzuschalten, ging ich, traurig, völlig erschöpft, aber auch erleichtert. Zehn Minuten später durfte meine Freundin Inge endlich sterben.
Meinen zähen Kampf um das würdevolle Sterben meiner Freundin hatte wohl auch ein Pfleger beobachtet. Als ich am nächsten Tag nochmals ins Krankenhaus kam, um ihre Sachen zu holen, ging der Pfleger auf mich zu und sagte: „Ich muss Ihnen was sagen. Das haben Sie sehr gut gemacht.” Die Pfleger vergisst man oft, weil man sie nicht als medizinische Autoritäten wahrnimmt, aber sie bekommen sehr genau mit, wie es um die Patienten steht und sie sehen aufgrund ihrer oft jahrelangen Erfahrung, wann nichts mehr zu machen ist. Es scheint ihm imponiert zu haben, dass ich gekämpft und darauf bestanden habe, die Geräte abzuschalten. Das hat mich gefreut und bestätigt, denn man ist in so einer Situation verdammt alleine.
Wehe, wenn Du niemanden hast!
Ich war traurig, aber gleichzeitig fiel mir eine schwere Last vom Herzen. Ich hatte in Inges Sinn gekämpft und ihren Wunsch zu sterben gegen die Ärzteschaft durchgesetzt!
Als ich später dann versucht habe, das Erlebte zu verarbeiten, ist mir ein schrecklicher Gedanke gekommen. Wenn du niemanden hast, der sich um dich kümmert und dafür kämpft, dass du sterben darfst und nicht dahinsiechen musst, dann stehen die Interessen der Ärzte und Krankenhäuser im Vordergrund und nicht dein Wunsch nach einem würdevollen Tod.
Wird man dann zur Einnahmequelle? Werden dann teuere Behandlungen durchgeführt? Dient man dann als Objekt, an dem Eingriffe für die Ärzteausbildung noch vorgenommen werden können? Sollten medizinische Geräte gerade nicht ausgelastet sein, lässt man sie womöglich den Todgeweihten angedeihen? Wenn die Krankenkasse die Krankenhauskosten nicht mehr übernehmen will, wirst du dann entlassen und in ein Heim abgeschoben? Dann siechst du dahin, je nachdem wie lange dein Herz das aushält und wieviel Geld du hast. Inge hatte zusätzlich zu ihrer Pflichtversicherung eine Zusatzkrankenversicherung. Das Geld hätte womöglich noch für eine Weile Siechtum gereicht.
Und noch etwas wurde mir klar beim Nachdenken.
Man darf auch nicht unterschätzen, wie sehr man emotional involviert ist, wenn man eine kranke Freundin im Sterben begleiten will. Zum Glück hat meine Freundin nicht den Tod negiert und das ist mir sehr zugute gekommen. Wir haben oft darüber gesprochen, was sie möchte. Und dies hat mir geholfen, für sie schließlich die Entscheidung zu treffen, die Geräte abzuschalten.Ich kann nur allen raten, redet mit euren Kindern oder anderen nahestehenden Personen und unterschreibt eine Patientenverfügung. Denn es ist ein großer Unterschied, ob der Betroffene selbst unterschrieben hat oder ob jemand anderer vor der Entscheidung steht, lebenserhaltende Geräte abschalten zu lassen oder nicht. Das ist eine sehr emotionale Situation. Wenn die Ärzte argumentieren, dass man doch noch ein neues Antibiotikum ausprobieren könnte, bekommt man wieder Hoffnung und ist im Zwiespalt. Aber wenn alles beredet wurde, dann geht es leichter. Natürlich kann es sein, dass, wie im Falle von Inge, die Patientenverfügung von den Ärzten ignoriert wird. Aber auch dann gibt es demjenigen, der gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen, den notwendigen moralischen und gesetzlichen Rückhalt. (MS)
Information und Anleitung wie eine Patientenverfügung erstellt werden kann gibt es beim Bundesministerium für Gesundheit. Siehe Link https://www.bundesgesundheitsministerium.de/patientenverfuegung.html Auch die Verbraucherzentrale bietet Information und Unterstützung an. Siehe Link https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/aerzte-und-kliniken/patientenverfuegung-so-aeussern-sie-eindeutige-und-wirksame-wuensche-13102
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