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Nymphenburger Spaziergänge in dunklen Zeiten

  • titanja1504
  • 8. Dez. 2022
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Mai 2023

(DE) Nach meinem Herzinfarkt gewöhnte ich mich daran, täglich einen mindestens einstündigen Spaziergang zu machen. Ich nannte das meine "Nymphenburger Spaziergänge". Von meiner Wohnung in München aus kann ich nämlich den Nymphenburger Kanal bzw. den Nymphenburger Schlosspark gut erreichen und obwohl mich ewig gleiche Perspektiven langweilen, stapfte ich jeden Nachmittag verdrossen dorthin, bis ich eines Tages das Entenfüttern entdeckte.

Ich begann das Völkchen der Wasservögel genauer zu beobachten. Bei meinen Tierbeobachtungen stellte ich fest, dass das Verhalten Einzelner in so einer Entenschar mich doch sehr an die unterschiedlichen Charaktere einer Unterstufenklasse erinnerte.


So was von Adel!

Es gibt das etwas dusselige Träumerle, das so langsam ist, dass es nicht einmal das Brot erwischt, das auf seinem Köpfchen landet. Dann sind da natürlich die Betriebsamen, die sich strategisch günstig postieren und das pausenlos woanders. Die erwischen schon eher etwas.

Nicht so ganz erfolgreich sind die Aggressiven, die vor lauter In-Schach-halten der Konkurrenten selbst zu nichts kommen.

Ruhig und souverän, leicht desinteressiert zeigen sich die Enten, die unaufgeregt ihren Teil einheimsen und dann ihrer Wege ziehn.

Solche Schüler gibt es auch und sie sind im Reich der Enten wie auch der Schule die Erfolgreichsten.


Bei diesen meinen Studien während der Nymphenburger Spaziergänge fielen mir zwei unscheinbare schwarze Wasservögel mit einer weißen Blässe über dem Schnabel auf. Wie bescheidene und sehr höfliche Leute näherten sie sich dem Getümmel und sprachen die ungestüme Entenschar mit einer gewissen Zurückhaltung an:

Blässhühner - sehr eigenwillige Wasserwesen
Blässhühner - sehr eigenwillige Wasserwesen

„Würden die Damen und Herren Enten eventuell in Erwägung ziehen, meiner Gattin und mir etwas von den kulinarischen Köstlichkeiten zu überlassen? – Nein? – Gut, Sie werden Ihre Gründe haben und wir können uns ja wirklich auch etwas abseits an den Gaben der Natur gütlich tun. Wir wünschen wohl zu speisen an diesem wunderschönen Nachmittag.“ Gelassen und erhobenen Hauptes entfernten sich die beiden Blässhühner.


Ich war fasziniert und gelangte zu der Erkenntnis, dass es sich bei diesen beiden um sehr vornehme Wesen der Wasservogelwelt handeln müsse, nämlich um Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg nebst Gattin Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg. Ehrfürchtig verfolgte ich den weiteren Lebensweg des illustren Paares.


Ein Ritter der Wasserwelt

Im Frühling entdeckte ich ihren schaukelnden Palast aus Zweiglein und Schilf an einem Ast im kleinen See vor der Pagodenburg. Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg, groß gewachsen und füllig, saß und brütete.

Ihr zierlicher Gatte patrouillierte mit stolz geschwellter Brust und entschlossen, wozu auch immer, um sie herum. Plötzlich stürzt sich Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg mit vorgerecktem Kopf wie ein Torpedo auf jede einzelne Ente, die offensichtlich die unsichtbare Bannmeile um den Palast überschwommen hatte. „Ja schau dass`d weida kummst du hirnlose Antn du! I ziag da sonst die Hammelbeine lang, dass`d moanst du bist a Storch!“ So oder ähnlich unflätig echauffierte sich Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg und die Enten, überrascht, konsterniert und ratlos, schwammen dem zornigen kleinen Herrn lieber hektisch aus dem Weg.


Nicht so eine ganz unheimliche, fast unsichtbare schwarze Wasserbewohnerin – die Schlange. Sie schlängelte zielstrebig und geräuschlos auf die Burg der Bläss von Huhn zu Nymphenburg zu, ganz offensichtlich in Erwartung einer Eiermahlzeit.


Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg, sichtlich erschrocken, erkennt augenblicklich die Gefahr, stürmt der Schlange entgegen und hackt entschlossen auf sie ein. Sie ist unbeeindruckt, sie ist unverletzt, sie ist unbesiegbar! Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg schwimmt verzweifelt ob der Wirkungslosigkeit seiner Attacken nun tatenlos neben ihr her, als könne er sie allein durch seine Anwesenheit von ihrem Vorhaben abhalten. Als die Schlange aus dem Wasser auftaucht und die Mauer aus Zweiglein hinauf schlängelt, erhebt sich Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg und starrt paralysiert auf den Eindringling. In der höchsten Not nimmt Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg erneut den Kampf auf und lässt seinen Schnabel immer und immer wieder auf den glitschigen Leib niederfahren. Und siehe da, diesmal tut es wohl weh und die Schlange zieht sich schleunigst unverrichteter Dinge ins gegenüberliegende Schilf zurück. Verfolgt vom wütenden Sieger Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg, der bei dieser Gelegenheit und im Überschwang gleich noch ein paar Enten nur so zum Spaß in alle möglichen Richtungen scheucht.


Welch edler und mutiger Ritter, Gatte und Vater in spe! Beeindruckt ziehe ich mich zurück und fühle mich nun, da ich diesen Überlebenskampf miterlebt habe, den Blässens von Huhn zu Nymphenburg wirklich in Freundschaft verbunden.

Ganz große Oper!

Als die Tage wärmer wurden, waren auf dem Wasser immer öfter kleine Enten- und Schwanfamilien zu beobachten, die mit ihrer Kükenschar oder auch einem Einzelkind Ausflüge machten. Auch bei Blässens war der Nachwuchs geschlüpft.

NNachwuchs bei den Bläss von Huhn zu Nymphenburg
Nachwuchs bei den Bläss von Huhn zu Nymphenburg

Vier kleine Küken mit roten feinen Federn auf den Köpfchen wuselten zwischen Berta und Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg umher. Nach ein paar Tagen waren es nur noch drei. Ich habe ja die Krähen im Verdacht, aber beweisen kann man natürlich wieder nix.


Etwas ängstlich ging ich daher in den nächsten Tagen zum Blässschen Seeschloss, da ich stets fürchtete, ein kinderloses Elternpaar vorzufinden. Der Verlust dieser drei quirligen Rotköpfchen namens Clara, Tristan und Rüdiger Bläss von Huhn zu Nymphenburg, würde mich doch sehr schmerzen.

Und tatsächlich, eines Tages war weit und breit kein Blässsches Familienmitglied zu sehen.

Traurig stand ich vor dem leeren Nestpalast, der sanft im Wasser schaukelte. Da bewegt sich das Schilf ganz offensichtlich gegen den Wind und noch bevor ich dieses Phänomen so richtig erfassen kann, stürzt Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg zwischen den Halmen hervor. Im Schnabel hat sie für ihre Körpergröße riesige Zweige und Schilfhalme, einen ganzen Packen. All dieses Baumaterial schleppt sie zum Nest, legt es ab, zupft hier etwas heraus, legt dort etwas ab, hievt das größte Teil mühsam nach oben, eilt wieder zurück zum Schilf und ist ganz offensichtlich mit gründlichem Hausputz beschäftigt.


Mir bricht fast das Herz! Sie hat offensichtlich alle Kinder verloren, da kein einziges Küken weit und breit zu sehen ist. Ihr Mann, der tapfere und fürsorgliche Bodo, hat sie verlassen, denn auch er ist verschwunden. Und nun putzt und putzt sie hektisch das leere Heim. Sogar die Enten halten freiwillig Abstand und scheinen mitfühlend auf Berta zu blicken.


Nach einer Weile kann ich den Anblick der offensichtlich schwer Traumatisierten nicht mehr ertragen und gehe mit hängendem Kopf ein Stück weiter am See entlang, biege zur kleinen Brücke ab, die über einen Bach führt, und was sehe ich – Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg mit dem Nachwuchs.

In allen Himmelsrichtungen wuseln Clara, Rüdiger und Tristan um ihren Vater herum, der gelangweilt vor sich hin dümpelt. Kinderhüten scheint nicht seine Lieblingsbeschäftigung zu sein. Und ich verstehe, was los ist.


Mama putzt das Haus und kann weder Mann noch Kinder gebrauchen. Deswegen muss Papa mit den Sprösslingen auf den Spielplatz gehen und so ein Vater-Söhne-Tochter-Ding machen. Kommt einem doch bekannt vor!


Aber nun macht Vater Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg einen entscheidenden Fehler. Er hat jetzt genug vom Babysitten, will wieder Enten scheuchen und Männerdinge tun. Also strebt er zum Palast zurück, ohne sich nach den Kindern umzusehen. Clara und Tristan folgen ihm, nicht aber der kleine Rüdiger. Er hat unter den herabhängenden Ästen eines Baumes etwas Spannendes entdeckt und entfernt sich immer weiter vom Rest der Familie.


Aufgeregt versuche ich Bodo auf Rüdiger aufmerksam zu machen, aber der ist so genervt, dass er nur eines im Kopf hat: Ab nach Hause, Kinder abladen und Enten jagen! Dann sehe auch ich Rüdiger nicht mehr. Ich lausche, versuche im Schatten der Bäume etwas zu erspähen, folge dem Bachlauf... Nichts!


Als ich mich auf den Weg zurück zum Nest machen möchte, sehe ich schon eine zornige Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg herandüsen, die Kinder im Schlepptau und in einigem Abstand von einem betröppelt dreinblickenden Bodo flankiert. „Dieses Mannsbild macht mich noch wahnsinnig! Verliert die Kinder, eins nach dem anderen! So ein Hallodri! Außer schwadronieren und Kinderverlieren kann der nix! Und der Rüdiger kriegt auch ein paar hinter die roten Federn. Immer büxt der aus! .....“

Bodo hingegen murmelt nur vor sich hin: „Omei, omei! Omei, omei!“


Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg durchsucht routiniert das Ufer, folgt dem Bachlauf, blickt in jede kleine Höhle zwischen den Steinen der Uferbefestigung und unter jedes Blatt und entschwindet meinem Blick. Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg bleibt einsam und beschämt auf dem See zurück.


Eine Tragödie! Diesmal habe ich die Schlange im Verdacht. Vielleicht hat sie Rüdiger in ihre Höhle gezogen und ... nicht auszumalen! Bodos und Bertas Ehe wird daran zerbrechen! Ganz große Oper! Ein unvorstellbares Drama! Ich gehe erschüttert nach Hause.

Frustrationen

Das Familienleben der Bläss von Huhn zu Nymphenburg hat sehr gelitten. Offensichtlich ist Vater Bodo immer noch in Ungnade, obwohl die Kinderschar wieder vollzählig ist. Clara, Tristan und Rüdiger Bläss von Huhn zu Nymphenburg suchen gemeinsam mit ihrer Mutter auf einer Wiese am See mitten in einer Horde von Enten nach Futter, während Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg sich immer abseits hält und unsicher in Richtung Familie blickt.

Vorsichtig weichen die Bläss-Kinder den Enten aus und machen große Umwege, um den Anschluss an Mama und die Geschwister wiederzufinden.


Einer natürlich nicht – Rüdiger! Der muss ständig eingesammelt werden. Aber Berta Bläss von Huhn zu Nymphenburg hat einen Trick gefunden, wie sie ihr Sorgenkind am Verschwinden hindern kann. Sie füttert ihn! Das einzige Kind, das aus ihrem Schnabel noch Futter erhält, ist Rüdiger.


Als sie ein Stück Apfel aus dem Schilf zieht, machen sich Clara und Tristan darüber her, nicht aber Rüdiger. Er wartet, bis die Frau Mama ein Stückchen für ihn aufbereitet hat. Naja, den renitenten Kindern wird halt immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als den braven.


Bodo Bläss von Huhn zu Nymphenburg beteiligt sich offensichtlich nicht am Familienleben und schwimmt lustlos am Ufer umher. Irgendwer, vielleicht eine missgünstige Ente, hat ihm aber dennoch gesteckt, dass seine Familie gerade einen kulinarischen Leckerbissen verspeist. Denn plötzlich schießt er auf seine Frau Berta zu, schnappt sich den Rest des Apfels und flüchtet ins Wasser. Was ist nur aus diesem höflichen und vornehmen Bläss von Huhn zu Nymphenburg geworden? Einen Moment lang ist Berta perplex. Aber dann stürzt sie hinter ihm her und die beiden bleiben lang im Wasser. Leider für mich unsichtbar durch das Schilf am Ufer. Nach einer Weile pickt Berta mit ihren Kindern wieder auf der Wiese herum, als wäre nichts geschehen.


Bodo aber ist im Wasser geblieben, sichtlich frustriert. So frustriert, dass er aus Kompensationsgründen einen vorbei schwimmenden Schwan anpöbelt: „Was schaust`n so blöd?!“ Der Schwan zieht ungerührt weiter. Bodo reitet eine zweite Attacke mit vorgerecktem Kopf , lautem Gekreische und wild entschlossenem Blick. Erschrocken über sich selbst, weicht er jedoch sofort ängstlich wieder zurück.

Jetzt wendet der Schwan seinen Kopf in Richtung des Kleinen, der nun augenblicklich ganz still ist und unschuldig dreinschaut. „Ich war`s nicht! Ehrlich!“ Für den Schwan ist die Sache damit geklärt und er gleitet majestätisch von dannen.


Bodo hingegen kann diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen und plustert sich, als der Schwan so zwei Meter entfernt ist, auf, schlägt mit den Flügeln und gibt ihm noch ein „Du langhalsiges Schlachtschiff, du!“ mit. So! Und eine zufällig vorbeiziehende Ente kriegt auch noch ihr Fett ab. Bodo scheint es nach diesem Geplänkel etwas besser zu gehen, denn er schwimmt eilig davon.


Wie so oft im Leben dachte ich die reine Harmonie entdeckt zu haben : das Familienleben der edlen Bläss von Huhn zu Nymphenburg? - Nix da!


Wie`s halt so ist im Leben!

Es ist Sommer und die Bläss von Huhn zu Nymphenburg führen nun ein völlig freies Leben. Ihr Nest ist untergegangen, vielleicht bei einem Gewittersturm oder weil sich die dicken Enten ständig hineingesetzt haben.


Zwei der Kinder, zuerst Clara und dann Tristan, sind verschwunden. Wohin? Ich hoffe in ein eigenes Leben!

Bodo und Berta Bläss von Huhn sind sich wieder näher gekommen, ja sie bilden sogar wieder ein richtiges Team und tricksen die Enten nach Strich und Faden aus.


Wenn die Menschenkinder mit ihren Müttern und Vätern ihre Brotkrumen ins Wasser werfen und sich die Entenschar chaotisch und gierig darauf stürzt, postiert sich Berta strategisch günstig in der Wurflinie und wartet auf den richtigen Moment. Ein Stück Brot landet in ihrer Nähe, sie schnappt es sich, macht kehrt, schwimmt in Windeseile und verfolgt von einigen Enten auf den außerhalb der Massenansammlung wartenden Bodo zu, übergibt das Stückchen wie bei einem Staffellauf und bleibt augenblicklich ruhig und völlig entspannt stehen. Bodo rast noch einige Meter auf den freien See hinaus und wartet auf Berta, die sich dann, als die verdutzten Enten wieder zur Quelle der Brotbröckchen zurückgekehrt sind, zu ihm gesellt. Einträchtig entfernen sie sich vom niederen und etwas bornierten Entenvolk.


Aber natürlich folgt den Beiden doch noch jemand – der laut jammernde und Futter fordernde Rüdiger! Er wird immer noch verwöhnt und will das bequeme Leben bei Mama und Papa wohl nicht so schnell aufgeben. Ein echter Nesthocker!

Antidepressiva, aber nicht von der Pharmaindustrie

Diese Beobachtungen, die tatsächlich so stattfanden, und meine Interpretation des Geschehens sowie das Aufschreiben der Geschichten haben mir sehr geholfen, mit meiner tiefen Depression nach dem Herzinfarkt fertig zu werden.

Es war natürlich hauptsächlich eine lange Therapie notwendig, aber für ein klein wenig Sonnenschein in meinem Leben musste ich schon selbst sorgen. Den Sommer der Blässhühner in Nymphenburg festzuhalten, sorgte dafür, dass ich nicht ganz vergaß, wie sich das Leben und Lebensfreude anfühlt.


Das Schreiben hat mich seither nicht mehr losgelassen. Was ich in meinen dunkelsten und verzweifeltsten Stunden begann, wurde zur großen Freude und zu einem festen Bestandteil in meinem Leben. Ich konnte mir das damals nicht vorstellen. Hinter meiner „Schriftstellerei“ steckte auch keine therapeutische Absicht. Ich hatte nur den Drang zu schauen, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen und zu schreiben. Die Frage nach einem Nutzeffekt stellte sich nicht. Vielleicht sind die Dinge, die so zwanglos und sinnlos um die Ecke kommen, genau die, die wir annehmen und nicht hinterfragen sollten. Wer weiß, was daraus werden kann?! (TA)

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