Meine ganz persönliche 69er Revolution
- anon
- 20. Nov. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Juni 2023
(DE) Es war genau am 4. August 1969, als meine beste Freundin Luise und ich dem ersten Tag unseres zukünftigen Berufslebens zustrebten. Wir sollten nach dem Abschluss der klösterlichen kaufmännischen Realschule, damals Mittelschule genannt, eine eineinhalbjährige Ausbildung als Bürogehilfinnen bei einem regionalen Energieunternehmen beginnen. Ganz eindeutig ein Hinweis auf den schon wieder beginnenden Ernst des Lebens. 1959 hatte er ja schon einmal begonnen, als wir eingeschult wurden.
Einstieg ins Berufsleben
Das zuständige Personal des Ausbildungsunternehmens empfing uns freundlich, überreichte uns in einer Art Festakt unseren Ausbildungsvertrag und verteilte uns in die diversen Zuständigkeitsbereiche verschiedener Abteilungen. Für uns waren die Unterschiede rein äußerlich natürlich nicht erkennbar. Schreibtische, Aktenschränke, Telefone und elektrische Schreibmaschinen bildeten die Hauptbestandteile unseres Arbeitsplatzes. Wir hatten auch nichts anderes erwartet. In Sachen Stenographie, Schreibmaschine schreiben, Buchführung und Ablage waren wir gedrillt worden. Das konnten wir, keine Frage.
Mittags nahmen uns unsere älteren Kolleginnen und Kollegen mit zum Essen in eine Gastwirtschaft, in der die Belegschaft ihr Mittagsabo abfutterte. Wir saßen dabei, beobachteten die echten Büromenschen aus nächster Nähe, hörten, was sie bewegte und kehrten zurück an den Arbeitsplatz, wo wir jetzt erste Aufgaben zugeordnet bekamen.
Soweit so gut. Aber woher kam das Ziehen in der Magengegend? Wo war die Aufbruchstimmung geblieben? Worauf sollte man neugierig sein und sich freuen? Beunruhigend!
Nach ein paar Tagen hatten wir unsere festen Aufgabenbereiche zugeteilt bekommen. Meine Freundin tippte den ganzen lieben langen Tag Zahlenkolonnen und ich spannte täglich endlos lange Reihen an Überweisungsformularen in die Schreibmaschine ein und tippte. Eine sehr wichtige Arbeit, weil es sich um die Überweisungen für die Bauern handelte, die einen Strommasten auf ihrem Feld stehen hatten und dafür entgolten werden mussten.
Abends trotteten wir beide verzweifelt nebeneinander nach Hause. Das sollte jetzt unser Leben sein?! Die Jugend der Welt rief: Freiheit! Weg mit den Konventionen! Stopp dem Konsumwahn! Die Beatles und Stones suggerierten Lebenslust und Liebe.

Wir saßen am Schreibtisch, tippten, was man uns vorlegte und hatten kein Gefühl mehr für Freiheit und Lebenslust. Der Ernst des Lebens enthielt eindeutig zu viel Ernst und zu wenig Leben.
Trostlosigkeit
Luise und ich fingen nun an, uns mittags nicht mehr mit den anderen ins Restaurant zu begeben, sondern wir aßen im nahe gelegenen Park ein Brot und tauschten uns fassungslos über die Trostlosigkeit unseres gerade erst begonnenen Berufslebens aus. Meine Freundin fasste sich als erste und zog die Konsequenzen. Aber das ist wieder eine andere Lebensgeschichte.
Ich hingegen war immer noch paralysiert und wusste nicht wohin mit meinem unguten Gefühl. Was sollte ich wollen? Meine Eltern konnte ich nicht einweihen, denn meine Vermittlung in diese Lehre war eine Angelegenheit des weiteren Familienkreises.
Beziehungen verschafften mir diese Lehrstelle.
Bei der Suche nach einer Lehrstelle hatte ich mich nämlich als nicht besonders gut vermittelbar erwiesen. Mein Zeugnis war gut, das war nicht das Problem. Aber meine ganze Persönlichkeit, mein Auftreten, meine Selbstdarstellung konnten niemanden überzeugen. Ich war eine 16-Jährige, die keinen blassen Schimmer hatte, wer sie war und wohin mit ihr. Sonst wusste das offensichtlich auch niemand so recht in meinem Umfeld. Ratschläge hatten meine Eltern nicht, aber Beziehungen. Daher bekam ich die Lehrstelle in diesem Unternehmen, obwohl ich mich bei der Vorstellungsrunde nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Mein Großonkel, angesehener Betriebsangehöriger, setzte sich für mich ein. Das verpflichtet natürlich.
Fluchtgedanken
In meiner Not in jenem August 1969 strich ich jedoch diese Verpflichtung aus dem Gedächtnis und wandte mich an die Berufsberatung beim Arbeitsamt. Ich sehe die durchaus wohlmeinende Berufsberaterin heute noch vor mir sitzen. Sie fand es nicht für nötig, mir ein „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ um die Ohren zu hauen. Sie forschte gemeinsam mit mir tatsächlich nach meinen offensichtlich sehr versteckten Bedürfnissen. Das hatte vorher noch niemand getan.
Und siehe da, beim letzten Vorschlag, der zusammen mit einem tiefen Seufzer auf den Tisch gelegt wurde, sprangen meine Lebensgeister an. Schule! Wer hätte das gedacht! Nicht einmal ich selbst wäre in hundert kalten Wintern auf die Idee gekommen.
Lichtblick und Chance
Es gab ein mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium, in der Quereinsteiger in einer Übergangsklasse für die Oberstufe qualifiziert wurden, erfuhr ich. Intensiv Französisch, Mathe, Physik, Chemie, Englisch und Deutsch! An diesem Gymnasium lernten insgesamt 3 oder 4 Mädchen. Da wollte ich mich bewähren. Der Schulbeginn war am übernächsten Tag. Die Schulsekretärin nahm meinen Namen telefonisch entgegen, allerdings ohne Gewähr. Wenn ich am nächsten Tag im Klassenraum aufgerufen würde, sei ich angenommen und könne mich endgültig anmelden. Immerhin, eine Chance!
Aber was sollte ich mit meiner Arbeitsstelle tun. Ich konnte ja schlecht auf Verdacht kündigen oder gleichzeitig in der Schule und im Büro sitzen. Also meldete ich mich am nächsten Morgen krank und stapfte mit meiner Kündigung in der Tasche in die Schule. Die bangen Minuten von 07:45 bis 08:15 habe ich irgendwie überstanden und dann geschah es, ich wurde tatsächlich aufgerufen! Mein Leben hatte wieder begonnen!
Reaktionen
Nun würde ich auch die nächsten beiden Schritte hinkriegen. Zuerst ging ich zu meinem Chef ins Büro und legte meine Kündigung vor. Ich erläuterte ihm mein Vorhaben Abitur zu machen und er war begeistert. Er sagte, das hätte ich richtig gemacht und er unterstütze meine Entscheidung und ließ mich mit den besten Wünschen gehen.
Bei meinen Eltern stieß ich auf weniger Verständnis. Mein Vater tobte, meine Mutter weinte. Schließlich gestand mir mein Vater ein etwas höheres Taschengeld zu, von dem ich allerdings alles außer essen, trinken und wohnen bestreiten sollte. Dann machte er zur Bedingung, dass ich, sollte ich dieses Schuljahr nicht erfolgreich abschließen, in die Fabrik zum Arbeiten gehen müsse und nicht einmal mehr eine Lehre machen dürfe. Er sprach dann in diesem Jahr kaum mehr mit mir. Ich bin froh, dass er und auch sonst niemand auf die Idee gekommen ist, dass ich als Minderjährige ja solche Entscheidungen ohne das Einverständnis meiner Erziehungsberechtigten gar nicht hatte treffen können.
Konsequenzen
Ich habe die 10ü knapp geschafft, wechselte dann an ein neu im Aufbau begriffenes wirtschaftswissenschaftliches Gymnasium, wo ich das Abitur machte. Schließlich studierte ich Germanistik und Sozialkunde und wurde nach einigen beruflichen Umwegen Gymnasiallehrerin. Mein Vater konnte sich nie mit dieser meiner beruflichen Entwicklung abfinden. Schließlich hätte ich ja einen Bausparvertrag abschließen können, Chefsekretärin werden können, mit meinem Chef-Mann ein Haus bauen können. Stattdessen führte ich ein unstetes Leben, aber das ist auch wieder eine andere Geschichte. (TA)
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