Mädchen, Mädchen – Nesthäkchen
- lisaluger
- 20. Nov. 2022
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juli 2023
(DE) Eines Tages im Sommer, ich war noch ein Kindergartenkind, beschloss ich, meine Heimkehr vom Kindergarten nicht durch das Klingeln an der Haustür anzukündigen, sondern meine Mutter zu überraschen. Ich kletterte über den Gartenzaun hinter dem Haus und schlich über die Terrasse. Ich wollte ans Esszimmerfenster klopfen, wo ich meine Mutter beim Bügeln vermutete, und triumphierend grinsen, wenn sie von ihrer Arbeit aufschauen und staunen würde. Aber mein Blick durchs Fenster gab ein ganz anderes Szenario frei. Meine Mutter saß allein am Tisch und weinte. Betroffen trat ich leise den Rückzug an, ging zur vorderen Haustür und klingelte wie immer. Mir war ein wenig bang, denn ich erwartete eine Tränen überströmte Mutter. Aber weit gefehlt! Mir öffnete eine lächelnde Mutter, die wie immer war. Von Tränen und Trauer, Ärger oder Verzweiflung keine Spur.
Ich war erschüttert, denn ich fühlte mich getäuscht. Aber instinktiv wusste ich auch, dass es nicht erwünscht gewesen wäre, die heimliche Beobachtung anzusprechen. Offensichtlich verbarg sie etwas vor mir. Warum? Ich konnte es nicht verstehen und irgendwie tat es weh.
Aber ich frage mich heute natürlich auch, warum ich so betroffen und gleichzeitig scheu reagiert habe. Kleine Kinder trösten eigentlich gern, wenn man sie lässt. War es, weil ich die Jüngste in der Familie war, der man nichts zutraute und die man beschützen wollte? Hätte meine große Schwester oder meine zwei großen Brüder anders reagiert? Ich weiß es nicht, weil es auch zwischen uns vier Kindern Themen gab, die niemals angesprochen wurden, besonders was unsere Eltern betraf.
Eine von Vieren
Andererseits hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel, bildeten eine kleine kämpferische Front, wenn es um die Durchsetzung von Wünschen und die Aufhebung von Verboten ging, petzten niemals, selbst bei üblen Streichen nicht.

Ich bin die Jüngste von vier Geschwistern (zwei Brüder und eine Schwester). Ich kann nicht sagen, ob es gut ist oder nicht, Geschwister zu haben, denn ich kenne es nicht anders. Klassenkameradinnen, die als Einzelkinder aufgewachsen sind, haben mich oft um meine Geschwister beneidet. Ich war meine Geschwister manches Mal leid und hätte sie gern stundenweise verliehen, um zu sehen, wie es sich als Einzelkind lebt, denn es war nicht immer einfach so als Eine von Vieren seinen Platz zu behaupten.

Einer der Nachteile, Geschwister zu haben, war, dass wir immer alles durch vier teilen mussten. Da blieb oft für den Einzelnen nicht viel übrig, zumal die zu teilende Menge nicht allzu groß war.
Mein Vater hatte als Buchhalter ein nicht gerade üppiges Einkommen und meine Mutter tat als Hausfrau ihr Bestes, um mit relativ wenig Geld die große Familie ordentlich zu versorgen. In so einer Situation ist einteilen eine hohe Kunst, die auch uns Kindern anerzogen wurde. Was nicht heißt, dass nicht jeder von uns Träume vom Schlaraffenland ganz für sich allein gehabt hätte.
Ich kann mich gut erinnern, dass ich mir mit 15 Jahren von meinem ersten Lohn als Bankangestellte eine Tafel Schokolade kaufte. Ganz für mich alleine, das erste Mal – und ich hab sie auch ganz alleine aufgegessen. Das war ein Genuss! Aber, meine Güte, war mir hinterher übel! Das war offensichtlich zu viel des Guten. Ich war es nicht gewohnt so große Mengen Schokolade zu essen, da wir ja immer alles geteilt hatten.
Freud und Leid des Nesthäkchens
Meine Geschwister sagen, dass ich das verwöhnte Nesthäkchen sei. Okay, in mancher Hinsicht kann das zutreffen. Meine älteren Geschwister hatten bereits vor mir viele „Freiheitskämpfe“ mit meinen Eltern geführt und mir damit Wege geebnet. Wie alt muss man sein, um mit Freunden bis 22 Uhr und dann bis 24 Uhr ausgehen zu dürfen? Das sind für Jugendliche Fragen von ungeheuerer Bedeutung. Als ich an der Reihe war, waren diese Dinge schon mehrmals geklärt worden. Meine Eltern wollten nicht noch ein weiteres Mal die gleichen Diskussionen führen, sie waren bereits ermattet und an vieles gewöhnt reagierten sie gelassener. Aber natürlich hatten sich mittlerweile auch die Zeiten geändert. 1969, als ich mich in der Hochphase meiner Pubertät befand, wehte in der Gesellschaft ein anderer Wind. Ich wollte mehr Freiheiten und mich unterstützte der Zeitgeist weitaus mehr, als er das bei meinen älteren Geschwistern getan hatte.

Andererseits war es für mich als Nesthäkchen schwierig, meine Fähigkeiten zu entdecken und meinen eigenen Weg zu finden. Dass man als jüngstes Kind immer die abgelegten Kleider und Schuhe der Geschwister auftragen musste, ist ja im Nachhinein noch zu verschmerzen. Aber dass man eigentlich immer die Dumme war, weil die Großen schneller liefen, besser lasen und schrieben und überhaupt viel mehr wussten und das auch noch viel besser, als man selbst es jemals hätte lernen können, war entmutigend. Sie hatten Erfahrung. Ihnen wurde zu ihrem Leidwesen Verantwortung übertragen, wie beispielsweise auf mich aufzupassen. Dieses Niveau konnte ich niemals aufholen und nicht ausgleichen. Drei intelligente und schulisch erfolgreiche Geschwister können einen ganz schön einschüchtern. Und irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass meinen Eltern die Ideen ausgingen, als es um meine spezielle Erziehung ging. Ich lief irgendwie so mit.
Die Kleine ganz groß
Aber ich hatte meine Momente. Als ich einmal mit meinem zwei Jahre älteren Bruder von der Pfarrbücherei auf dem Weg nach Hause war, stellten sich uns ein paar seiner Klassenkameraden in den Weg. Die Stimmung war feindlich aufgeladen, denn mein Bruder war als Klassenbester dem Unmut seiner weniger erfolgreichen Mitschüler ausgesetzt. Offensichtlich wollten sie ihm mit aller Gewalt, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Lektion erteilen. Mein achtjähriger Bruder stand mit seiner sechsjährigen Schwester an der Hand wie gelähmt da und wusste sich nicht zu helfen. Er stand unter Schock und schien unfähig, sich und mich zu verteidigen. Ich hingegen, die Kleine, mit der niemand rechnete, nicht mein Bruder und auch nicht die anderen Jungs, war total aufgebracht ob dieser unsäglichen Gemeinheit gegenüber meinem Bruder. Mit geballten Fäustchen stellte ich mich vor ihn und schrie die Angreifer an, sie sollten auf der Stelle verschwinden, sonst…. Die überraschten Kerle waren so aus dem Konzept gebracht, dass sie sich unentschlossen anschauten, schließlich mit den Achseln zuckten und sich unverrichteter Dinge trollten. Meine Güte, ich war vielleicht erleichtert, denn eigentlich war ich selbst über meine Aktion genauso überrascht wie mein Bruder. Einträchtig gingen auch wir unseres Weges und haben nie darüber gesprochen.

Rückblickend hat sich an dieser Stelle wohl bereits meine Abneigung gegen Unrecht und Ungerechtigkeit gezeigt und auch die Kraft und Präsenz, die ich im Kampf dagegen entwickeln kann.
Wie mein späterer Berufsweg zeigt, wurde dies zu meiner Bestimmung.
Ich habe in all den Jahren nur selten die Fäuste geschüttelt, aber ich habe auch andere gangbare und Erfolg versprechende Wege gefunden, um Recht und Gerechtigkeit Bahn zu brechen.
Mädchen und Jungs – natürlich niemals gleich
Aber dass die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungs in der Gesellschaft und auch in unserer Familie ein Unrecht darstellte, habe ich damals noch lange nicht so wahrgenommen. Im Gegenteil! Meine Schwester und ich haben das nie in Frage gestellt.
Meine beiden Brüder waren die Intelligenten in der Familie. Sie wurden auf ein Gymnasium geschickt, dasselbe humanistische Bischöfliche Knabenseminar in dem auch mein Vater gewesen war.

Mädchen wurden zu der damaligen Zeit allgemein als nicht so intelligent eingestuft. Nur der Volksschullehrer meiner Schwester erkannte, dass sie sehr gescheit war und empfahl meinem Vater, sie aufs Gymnasium zu schicken. Sie war die Klassenbeste. Aber ein Nachbar, ein Gymnasiallehrer und daher eine fachliche Autorität, verunsicherte meinen Vater, indem er argumentierte, Mädchen bräuchten keinen höheren Schulabschluss, da sie ohnehin bald heiraten würden. Da nahm mein Vater meine Schwester nach der 3. Klasse (heute 7. Klasse) vom Gymnasium und steckte sie in eine Lehre bei einem Steuerberater. Meine Schwester tat wie ihr geheißen und schluckte die bittere Pille. Aber ich denke, innerlich hat sie meinem Vater nie verziehen.
Ich wurde gleich gar nicht auf das Gymnasium geschickt, sondern in eine Klosterschule für Mädchen, um die mittlere Reife zu machen. Dort erhielten wir eine gute Allgemeinbildung und wurden dazu erzogen, gute Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen zu werden, die ihre Männer in jeder Form unterstützen können. Man stachelte unseren Ehrgeiz mit der Erklärung an, dass hinter jedem großen Mann eine große Frau stecke. Was für eine Perspektive!
Meine Mutter war nie auf einer höheren Schule gewesen und sie war damit im Reinen. Sie tröstete uns Mädchen auf eine etwas fragwürdige Art und Weise, indem sie immer betonte, wenn auch die Jungs die intelligenten seien, so seien wir Mädchen dafür praktisch veranlagt.

Aus dieser Einstellung heraus und weil man uns weibliche Wesen ja auf die Haushaltsführung vorbereiten musste, waren unsere Aufgaben im Haushalt wesentlich mehr als die unserer Brüder.
Das hat mich durchaus gestört und ich argumentierte, dass man die sporadischen und saisonabhängigen Pflichten meiner Brüder nicht mit den immer währenden Hausarbeiten von uns Mädchen vergleichen könne. Schneeschippen oder Kohlen aus dem Keller holen fielen schließlich nur im Winter an.
Wir Mädchen dagegen waren das ganze Jahr über dran. Unsere Aufgaben waren: wöchentlich das Bad und Klo sauber machen, täglich beim Kochen helfen, Abwaschen und Abtrocknen, Mülleimer raustragen, Abstauben etc.. Meine Schwester und ich versüßten uns die Putzstunden, indem wir dabei immer lauthals und zweistimmig sangen.
Am meisten habe ich mich jedoch aufgeregt, wenn ich samstags am Nachmittag die Schuhe von allen putzen musste. Das hörte aber dann auf, als meine Brüder ins Seminar kamen. Dort lernten sie, ihre Schuhe zu putzen und wenn sie nach Hause kamen, behielten sie diese Gepflogenheit zum Glück bei. Worüber ich aber immer dankbar war: wenn mein Fahrrad kaputt war oder einen Platten hatte, war immer einer meiner Brüder bereit, es zu flicken oder zu reparieren ....
Fragwürdige Privilegien für die Jungs

Ab ihrem 10. Lebensjahr wurden meine Brüder im Internat, dem Bischöflichen Knabenseminar, untergebracht, um ihre geistige, aber vor allem geistliche Bildung in höchstem Maße voranzutreiben.
Das Seminar war lediglich 40 km von unserem Zuhause entfernt, aber sie durften nur in den Ferien nach Hause kommen. Ob die Beiden darunter gelitten haben, weiß ich nicht, aber ich habe meine Brüder sehr vermisst.
Manches Mal fuhren meine Mutter und ich Sonntags mit dem Zug dorthin, um sie zu besuchen. Wir brachten viel zu essen mit. Auch sandte meine Mutter regelmäßig Pakete, die meine Brüder mit haltbarem Essen, Wäsche und sonstigen nützlichen Dingen versorgten. Ich war so glücklich, wenn ich sie sehen konnte. Sogar als mein ältester Bruder wegen Windpocken nach Hause geschickt wurde, fiel ich ihm vor Freude ungeachtet der Ansteckungsgefahr um den Hals. Ich habe es ihm nicht gewünscht und es tat mir ja auch ehrlich leid, aber ich war trotzdem froh, dass der sich im nächsten Jahr den Arm gebrochen hat, denn auch das führte zu einem längeren Aufenthalt bei uns daheim.
Die Ungleichbehandlung führte in keiner Weise zu Abneigung und Missgunst von uns Schwestern gegenüber den viel mehr geschätzten Brüdern. Die Zimmerzuteilung in unserem Haus beispielsweise wurde vorbehaltlos akzeptiert. Obwohl meine Brüder einige Jahre lang überwiegend im Internat und (außer in den Ferien) nicht zu Hause waren, durften sie das große helle und sonnige Zimmer mit Balkon und Blick über die Stadt behalten. Wir Mädchen dagegen waren in einem kleinen dunklen Raum mit Fenster zur Straße und nach Norden untergebracht. Erst kürzlich fragte mich mein Bruder, ob wir Mädchen uns nicht geärgert hätten, dass wir nicht das schöne Zimmer benutzen durften. Nein, gar nicht. Das war ein Fakt und wir haben das nie in Frage gestellt. Wir haben auch die vermeintliche Bevorzugung unserer Brüder nicht in Frage gestellt. Heute ist mir das unbegreiflich. Aber damals war das halt so. Keiner störte sich daran. – Das kam erst später. Aber ich habe mir auch keine Gedanken darüber gemacht, ob meine Brüder nicht einen zu hohen Preis für diese Bevorzugung – nämlich Internat, Trennung von Familie und Freunden usw. – zahlen mussten. Das war halt auch einfach so. Was die Eltern für am Besten erachteten, das hatte man hinzunehmen, ja sogar dankbar anzunehmen und das Beste draus zu machen.
Unterschiedliche Eltern-Kind-Beziehungen
Natürlich buhlten wir untereinander auch um die Aufmerksamkeit unserer Eltern. Ich denke jeder von uns wird dazu jetzt eine andere Meinung haben. Unsere Mutter ließ sich nicht anmerken, ob sie eines ihrer Kinder mehr mochte als andere. Für sie waren wir alle gleichermaßen ihre Kinder.
Mein Vater hatte aber einen eindeutigen Liebling. Das war mein mittlerer Bruder, der dritte im Bunde und 2 Jahre älter als ich. Der Grund war, dass er gerade geboren wurde, als es für meinen Vater finanziell und existenziell wieder aufwärts ging. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit gewann er seinen Prozess vor dem Arbeitsgericht, wurde wegen der unzulässigen Kündigung entschädigt und fand eine neue, bessere Arbeit in einer anderen Stadt. Die Abfindung diente sogar als Grundstock für ein eigenes Haus, in das wir hoffnungsfroh einziehen konnten. Dieses Kind stand also für den Beginn besserer Zeiten nach einer mehrjährigen Durststrecke. Hinzu kam, dass mein Vater auch allen Grund hatte, auf die besonders guten schulischen Leistungen seines Sprösslings stolz zu sein. Er war für ihn einfach das Glückskind.
Meine ältere Schwester dagegen war bockig und ließ sich nichts sagen und auch nichts gefallen. Sie widersprach meinem Vater, wenn es sein musste. Das erforderte durchaus Courage. Obwohl ihm das nicht passte, schien er sie dafür aber zu respektieren.
Mein ältester Bruder und ich waren eher die schüchternen Kinder, die sich nicht gegen den autoritären Vater zu stellen wagten. Wir vermieden, wenn möglich, eine Auseinandersetzung und lernten zu machen, was wir wollten, ohne lang zu fragen. Unsere Strategie war eher zu vermeiden, dass Vater uns auf dem Radar hatte.
Natürlich hätten wir oft lieber die Anerkennung und Aufmerksamkeit unseres Vater bekommen, aber dennoch wurden diese Unterschiede in der väterlichen Zuneigung in jungen Jahren so akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Sie taten unserer Zuneigung untereinander keinen Abbruch. Wir kannten ihn ja. Das war halt so.
Ich kann aber für mich sagen, dass ich ein Leben lang auf die Anerkennung durch meinen Vater gehofft hatte. Aber ich konnte noch so viel erreichen, beispielsweise die Doktorwürde, mein Vater war davon nicht beeindruckt. Verständnislos stellte er die Frage: „Wozu macht die das?“ Es war ihm offensichtlich nicht möglich, an Mädchen das zu bewundern, was er an Jungs anerkennenswert fand.
Meine Mutter hingegen erkannte meine Leistungen sehr wohl an, unterstützte mich, wo und wie sie nur konnte und stand jederzeit hinter mir wie hinter den anderen Geschwistern auch. Sie war aber nicht offensiv dem Vater gegenüber. Von ihr haben mein ältester Bruder und ich vielleicht unsere Strategie gelernt, mit unserem autoritären Vater umzugehen, ihm nicht zu widersprechen und trotzdem zu machen was wir wollten. Interessanterweise war mir die Anerkennung meiner Mutter scheinbar nicht so wichtig wie die meines Vaters. Warum eigentlich? War es, weil ich ihr so ähnlich war oder weil mein Vater sie auch nie wirklich respektiert hatte? Meine Mutter war einfach da – selbstverständlich, natürlich und immer wenn wir sie brauchten. Heute allerdings weiß ich, dass sie durchaus bedeutend war für mich. Es war mir nur nicht bewusst.
Finde deinen Platz – finde deinen Weg!
Inwieweit prägt einen die Rolle, die man innerhalb der Familie inne hat? Die Wissenschaft hat dazu eine Reihe von Modellen entwickelt. Aber jeder muss seine individuellen Erfahrungen realisieren und die daraus entwickelten Ziele und Strategien durchschauen.
Für mich gilt jedenfalls, dass ich trotz meiner Anhänglichkeit an meine Geschwister instinktiv spürte, dass ich mich abgrenzen und meine Nische finden musste, um meinen Weg zu gehen.
Meine beiden Brüder waren anerkanntermaßen die Intelligenten, die Abitur machen und studieren sollten. Die Rolle der Superschülerin war schon besetzt, da auch meine große Schwester eine hervorragende Schülerin war. Außerdem zeigte sie noch großes Talent im Handarbeiten und Basteln, was ja der Sicht unserer Mutter entsprach, dass Mädchen praktisch begabt seien.
Ich war offensichtlich weder das eine noch das andere. Meine Noten waren angeblich eher mittelmäßig, wobei meine schlechteste Note einmal eine 3 war. Wahrscheinlich waren die Maßstäbe sehr hoch angesetzt.
Worin aber wirklich ein himmelschreiender Unterschied bestand, war das Talent für Handarbeit. Ich war darin eine Niete, zum Leidwesen der Handarbeitslehrerin, die missbilligend mein verschwitztes Strickzeug beäugte und die glorreichen Fertigkeiten meiner Schwester pries, die sechs Jahre zuvor in ihrer Handarbeitsklasse gewesen war.
So, wo war also mein Platz in der Familie? Worin war ich gut? Was sollte ich machen? Irgendwie musste ich mich von den anderen absetzen und musste etwas anderes machen. Ich wurde ‘wild’. Mit 16 kaufte ich mir eine Vespa und genoss meine Unabhängigkeit und Freiheit, wegfahren zu können, wann und wohin ich wollte. Ich ging viel aus und hing mit Freunden in Kneipen rum. Später reiste ich viel, so weit weg wie möglich, wollte nicht die mir zugedachte Rolle der Ehefrau und Mutter spielen, fing an zu studieren, arbeitete im Ausland, schrieb meine Doktorarbeit.
War das alles vielleicht, um meine Andersartigkeit oder Unabhängigkeit vom Urteil der Familie unter Beweis zu stellen? Egal, welche Motivation auch immer vorlag, es fühlt sich auch heute noch für mich richtig an.
Die Hierarchie in der Familie besteht über die Kindheit hinaus
Faszinierend ist für mich jedoch, dass trotz meiner Bemühungen anders zu sein und egal wie weit ich es in meiner beruflichen Karriere gebracht habe, ich, sobald ich unser Elternhaus betrat, den Schlüssel in die Haustüre steckte, wieder die kleine Liese war, die Jüngste in der Hierarchie der Geschwister. Alle anderen fielen ebenso auf ihren Platz zurück, den sie die Kindheit hindurch innegehabt haben. Wie kommt das?
Prägung durch die Familie – empirisch
Vor einigen Jahren entwickelte ich an meiner Universität in London einen Fortbildungskurs für Sozialarbeiter und Krankenpflegepersonal in Leitungsfunktionen zum Thema ‘Diversität und Identität’.
Eine der Aufgaben für die Kursteilnehmer war nachzudenken, wie sich ihr Platz in ihrer Familie auf ihre Lebensentscheidungen, Identität und persönliche und berufliche Entwicklung ausgewirkt hatte. Die meisten entdeckten zu ihrer Überraschung bestimmte Verhaltensmuster. Die Beispiele der Teilnehmer offenbarten faszinierende Zusammenhänge.
Diejenigen, die die Ältesten unter den Geschwistern waren, erzählten vor allem von Verantwortung und Pflichten. Sie mussten auf jüngere Geschwister aufpassen, obwohl sie lieber mit ihren gleichaltrigen Freunden gespielt hätten. Sie übernahmen auch mehr Aufgaben im Haushalt oder wurden von den Eltern zu Rate gezogen. Manche von ihnen meinten, dass diese Rolle sie dafür prädestiniert hätte, im Erwachsenenleben Initiative zu ergreifen, Verantwortung zu übernehmen, sich um andere zu kümmern sowie in Gruppen die Führung zu übernehmen. Einige überlegten, ob dies eine Vorbereitung auf die Führungsposition, die sie jetzt inne hatten, gewesen sei.
Unter den Jüngsten, den ehemaligen Nesthäkchen, beschwerten sich einige, dass sie in der Familie nicht ernst genommen worden waren, dass die älteren Geschwister mehr zu sagen gehabt hätten, dass Eltern meist die älteren Geschwister in anstehende Probleme eingeweiht und vielleicht um Rat gefragt hätten, während die Jüngsten für zu unerfahren und naiv angesehen worden waren. Man ließ sie im Dunkeln, entweder weil man von ihnen keinen nützlichen Beitrag erwartete oder um sie zu beschützen. ‚Beschützt zu werden‘ wurde ambivalent bewertet in seiner Bedeutung und Wirkung. Viele jedoch gestanden sich auch die Vorteile ein, die das Dasein als Nesthäkchen mit sich brachte. Man wurde von den Eltern, Großeltern und den Geschwistern verwöhnt. Man konnte beobachten und von den Erfahrungen, die die älteren Geschwister gemacht hatten, lernen.
Mittlere Geschwister sagten, sie hätten weniger unter dem Druck von Mitverantwortung wie die Ältesten gestanden, hätten aber auch keine Sonderzuwendungen erwarten dürfen wie die Jüngsten. Die Mehrheit von ihnen hatte das Gefühl, dass sie nicht wirklich wahrgenommen worden waren, was sowohl positive wie auch negative Seiten hatte. Zum einen bot ihnen das die Freiheit, sich zu entwickeln, ohne reglementiert zu werden, ohne ständige Kontrolle. Zum anderen bedeutete das aber auch, nicht ernst genommen zu werden in ihren Bedürfnissen und sie litten eher unter mangelnder Unterstützung.
Diejenigen, die als Einzelkinder aufgewachsen waren, sprachen von dem Gefühl der Einsamkeit. Keine Geschwister zu haben, mit denen sie spielen, sich streiten, sich verbünden oder über Probleme reden konnten, wurde sehr negativ empfunden. Nicht geübt im Streiten oder nicht daran gewöhnt sich auseinander setzen oder durchsetzen, erlebten viele in der Schule und später in Beruf oder Beziehung einen Schock. Andere gaben zu bedenken, dass Einzelkind zu sein, möglicherweise dazu beigetragen hätte, dass sie introvertiert, schüchtern und andern gegenüber scheu seien. Im Gegensatz dazu fanden einige, dass ihre Position als Einzelkind und die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern und Großeltern zu ihrem Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen beigetragen habe, was im Berufsleben sehr vorteilhaft gewesen sei. Es kommt bei Einzelkindern offensichtlich wohl stärker auf die Zuwendung der erwachsenen Familienmitglieder an, als in Familien mit mehreren Kindern.
Die Frage ist nun, was hat diese Prägung hinsichtlich der beruflichen Entwicklung gebracht oder nicht gebracht? Welche Schwierigkeiten mussten sie überwinden oder inwiefern vereinfachte ihre Prägung die Erfüllung einer Führungsaufgabe? Im Gegensatz zu den ältesten Geschwistern, von denen viele in ihrer Position in der Geschwisterhierarchie eine Vorbereitung auf ihre Führungsrolle vermuteten, war dies bei den Nesthäkchen, den Mittelgeschwistern und auch Einzelkindern nicht so einfach festzustellen. Eine Vielfalt von Antworten und Vermutungen wurden ausgesprochen und diskutiert. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, im Einzelnen dazu Stellung zu beziehen. Zusammenfassend kann jedoch gesagt werden, dass die Mehrheit der Teilnehmer durchaus vermutete, dass der Platz in der Geschwisterhierarchie eine wichtige Rolle im Berufsleben spielt. Aber darüber hinaus sei auch prägend gewesen, in welche Familie man hineingeboren worden war, z.B. welche Werte die Familie lebte und vermittelte, die Kommunikation untereinander und die Existenz oder Nichtexistenz eines familiären Unterstützungsnetzwerks. Auch Schule und Jugendgruppen schienen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss zu haben.
In meinem Fall könnte ich sagen, dass ich, obwohl ich in Leitungspositionen gearbeitet habe, keine geborene charismatische Führungsperson mit natürlicher Autorität bin. Ich bin eher Aufgaben orientiert und arbeite hart, um mein gegebenes Ziel zu erreichen, aber auch um mir eine Führungsposition und das Vertrauen meiner Mitarbeiter zu verdienen. Ich übernehme gern Verantwortung, bin eine effiziente Managerin, aber letztendlich würde ich es sehr begrüßen, wenn es im Rahmen einer Organisation Vorgesetzte gäbe, die meine Entscheidungen zusätzlich gut heißen, mich unterstützen und für Anerkennung sorgen würden.
Ob das mit meiner Position als Nesthäkchen zu tun hat oder mit meinem eher autoritären Vater, von dem ich Zeit meines Lebens Anerkennung haben wollte, sei dahingestellt. Wahrscheinlich beides. Die vier Jahre Erziehung in einer Klosterschule bis zur Mittleren Reife mit dem Ziel, aus uns Mädchen gute Frauen, die hinter guten Männern stehen, zu machen, sollte man auch nicht außer Acht lassen.
Kulturelle Unterschiede – unerwartete Entwicklungen
Es ist eine hoch interessante Frage, wie diese Rolle innerhalb der Familienhierarchie zur Identitätsfindung und zum Verhalten als Erwachsener beigetragen hat? Besonders spannend sind aber Lebensläufe, wenn auch noch kulturelle Einflüsse mitwirken.
Der Beitrag einer Kursteilnehmerin ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Eine Sozialarbeiterin, aus einer indischen Familie stammend, stellte sich als die ‘Ehefrau des vierten Sohnes einer indischen Familie‘ vor. Wir konnten erst mit dieser Aussage nichts anfangen, aber auf Nachfrage erklärte sie, dass in indischen Familien eine strenge Hierarchie bestehe. Der erstgeborene Sohn der Familie ist die wichtigste Person nach dem Vater, danach kommt der zweite Sohn usw. Je weiter unten desto weniger Einfluss haben die Söhne. Mädchen sind in der Hierarchie ganz unten. Frauen, die in eine indische Familie heiraten, finden sich demnach in der Position ihres Ehegatten wieder. Die Frau des ersten Sohnes ist die Hauptfrau, nach Vater (und Mutter) und hat das Kommando durch ihren Ehemann. Der vierte Sohn spielt demnach in der Familienhierarchie kaum eine Rolle und seine Ehefrau hat gar nichts zu sagen.
Wir waren durchaus erbost über diese Ungerechtigkeit. Aber unsere indische Teilnehmerin hob die Vorteile hervor, die ihre Position mit sich brachte. Obwohl die Tradition und die damit verbundenen Gebräuche und Gepflogenheiten für die ganze Familie gelten und bestimmte Verhaltensweisen erwartet werden, sind im Endeffekt die weiter unten rangierenden Familienmitglieder weniger Kontrolle ausgesetzt. Nachdem sie ihre Pflicht der Familie gegenüber erfüllt und den Schwiegereltern zwei Enkelkinder beschert hatte, stand es ihr einigermassen frei zu tun, was sie wollte, während die erste und zweite Schwiegertochter ein stark durch die Schwiegereltern reglementiertes Leben zu führen hatten. Sie hingegen konnte zurück zur Universität gehen, wo sie Sozialarbeit studierte. Mittlerweile arbeitet sie als Leiterin einer städtischen sozialen Einrichtung in einer verantwortungsvollen Position.
Wie war’s bei dir?
Die Rolle, die wir in unserer Familie innehaben, scheint in gewisser Weise prägend zu sein und zu unserer Identität beizutragen. Es wäre interessant, mehr darüber von anderen zu erfahren. Da wir alle unterschiedlich sind, werden wir auch unterschiedliche Erlebnisse haben und unsere Familienhierarchie unterschiedlich erlebt haben. Wie war das denn in eurer Familie? An welcher Stelle warst du denn? Hatte das deiner Meinung und Erfahrung nach überhaupt irgendwelche Auswirkungen auf dein Leben? (LL)
Comments