top of page

Kindheit in der Nachkriegszeit auf der Schwanthalerhöhe

  • titanja1504
  • 11. Apr. 2024
  • 17 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. März

-München 1945 bis 1953-


(DE) „Um Gotteswillen! Das kann doch nicht sein! Sie ist weg! Einfach weg!“ Ich, ein gerade mal sechsjähriger Knirps, stand an einem eiskalten Wintertag 1946 auf der Guldeinstraße im Münchner Stadtteil Schwanthalerhöhe und war furchtbar erschrocken. Die Lebensmittelmarke, die mir meine Oma gegeben hatte, damit ich im Konsum in der Astallerstraße ein viertel Pfund Zucker dafür bekommen sollte, war unterwegs verschwunden. Fassungslos starrte ich auf meine klammen Finger, die diese wertvolle Marke so fest gehalten hatten, wie es nur ging, und jetzt war sie verschwunden. Was für eine Katastrophe! 

So ein winziger Abschnitt konnte leicht verloren gehen.
So ein winziger Abschnitt konnte leicht verloren gehen.

Verzweifelt suchten meine Oma und ich die Schnee bedeckte Straße nach der winzigen Marke ab. Unsere Chancen sie zu finden, standen nicht gut. Aber wir hatten Glück, wir fanden sie im Schneematsch. Erleichtert trugen wir den kleinen, völlig aufgeweichten, aber wertvollen Papierfetzen nach Hause. Meine Oma bügelt ihn glatt und trocken, so dass wir uns erneut auf den Weg machen konnten, um etwas Zucker zu ergattern.  

Diese Anekdote ist typisch für die Nachkriegszeit ab 1945. Die Versorgungslage, besonders für die Bewohner der Städte, war katastrophal. Es gab kaum Produktion in Deutschland und Transportwege wie Eisenbahnschienen, Straßen und Brücken, waren größtenteils durch gezielte Bombardierungen zerstört worden. Auch innerstädtische Straßen konnte man unter all dem Schutt oft kaum mehr erkennen. 

Erdnussbutter vom Schwarzmarkt - der pure Wahnsinn!

Als Ende 1946 auch alle Vorräte aufgebraucht waren, wurde der tägliche Bedarf eines normalen Erwachsenen auf spärliche 1550 Kilokalorien rationiert, 1947 waren es oft sogar nur noch 800 bis 1000 Kilokalorien. Wo nichts mehr war, konnte auch nichts verteilt werden. Diesem Maß entsprach dann auch die Zuteilung der Lebensmittelmarken. Zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig, wie man so schön sagt. 


Mit der Einführung der Kriegswirtschaft durch die Nationalsozialisten waren ab 1939 Lebensmittel rationiert und daher Lebensmittelmarken ausgegeben worden. Auch nach dem Krieg behielten die Besatzungsmächte und die regionalen deutschen Verwaltungen dieses Versorgungssystem bei. Es wurde erst 1953 endgültig abgeschafft. Bis dahin gab es auch nach der Währungsreform 1948 parallel zur DM immer noch Lebensmittelmarken. 


Wie für die meisten anderen Familien in unserem Viertel war auch für uns die Inflation ein schier unüberwindliches Problem. Mein Vater gehörte nicht zu den 25 Prozent Arbeitslosen dieser ersten Nachkriegsjahre. Er hatte sofort eine Stelle bei der Post bekommen. Aber sein Lohn war eigentlich fast wertlos. Ein Pfund Butter kostete 360 Reichsmark, ein Pfund Brot 190 RM und für ein Kilo Kaffee konnten schon zwischen 500 und 1100 RM verlangt werden. Wer hatte schon so viel Geld?! Diese Preise, aufgerufen auf dem strengstens verbotenen Schwarzmarkt, konnten die wenigsten bezahlen. Laut offiziellen Statistiken betrug das Durchschnittsgehalt 1947 etwa 1.833 RM pro Monat. Die Arbeitslosen hatten natürlich noch weniger zur Verfügung. 


Daher mussten andere Möglichkeiten an Lebensmittel zu kommen gefunden werden, nämlich die so genannten Hamsterfahrten. Dabei machte sich die städtische Bevölkerung auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um bei den Bauern Entbehrliches wie Schmuck, Silberbesteck, Gemälde usw. gegen Kartoffeln oder Eier oder andere Lebensmittel einzutauschen. Wer nichts Wertvolles hatte, musste sich aufs Betteln verlegen.


Ob meine Eltern auch solche Fahrten, beispielsweise zur Stauchbäuerin nach Warngau, unternahmen, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass mein Vater und ich einmal gemeinsam ein Schwarzmarktgeschäft durchgezogen haben. 


Ein Fotoapparat schien meinem Vater wohl eines Tages angesichts des täglichen Mangels entbehrlich und so machten wir beide uns auf den Weg zur Hackerbrücke. Dort hielten sich in einigen abgestellten Wagons der Reichsbahn Amerikaner auf, mit denen die Münchner Tauschgeschäfte machen konnten. Ähnliche Schwarzmärkte gab es in München überall beispielsweise am Viktualienmarkt oder am Sendlinger Tor. 

Mit Sicherheit hofften viele, über die GIs bei der Hackerbrücke an Zigaretten wie Lucky Strike oder Chesterfield zu kommen. Denn die Zigarettenwährung war ein sehr gut funktionierendes Zahlungsmittel in der Nachkriegszeit. Hatte man Zigaretten, konnte man fast alles dagegen eintauschen. Zigaretten waren definitiv besser als Geld oder andere Waren. 


Ob mein Vater auch Zigaretten für seinen Fotoapparat erhalten hat, kann ich nicht sagen, denn das hat mich natürlich als kleinen Jungen von sechs Jahren nicht interessiert. Das Milchpulver, das wir einpackten, und die Lebensmitteldosen waren da schon verheißungsvoller. Und wenn ich gewusst hätte, wie gut mir Erdnussbutter schmeckt, wäre meine Vorfreude auf dem Heimweg noch viel größer gewesen. 

Aber diese Delikatesse, namens „peanut butter“ laut Etikett, war uns ja völlig unbekannt. Etwas misstrauisch probierte die ganze Familie diesen fremdartigen Aufstrich. Aber, was soll ich sagen, es war ein himmlischer Genuss! Alle schlemmten, ganz verzückt ob dieses herrlichen Geschmacks.


Noch heute, wenn ich von meiner Tochter Erdnussbutter geschenkt bekomme, verspeise ich sie mit Vergnügen und hänge meinen Kindheitserinnerungen nach. 

Hunger ist der beste Koch!

Mein Leben hatte sich im Sommer 1945 grundlegend geändert. Warum mich meine Eltern zu dieser Zeit für einige Monate bei meiner Oma in der Guldeinstraße 41 unterbrachten, weiß ich nicht mit Bestimmtheit.

Meine Oma wohnte in der Guldeinstraße 41 im Erdgeschoss. (Foto 2011)
Meine Oma wohnte in der Guldeinstraße 41 im Erdgeschoss. (Foto 2011)
Meine Eltern, meine kleine Schwester und ich lebten später in der Gollierstraße 36 im 3. Stock. (Foto 2011)
Meine Eltern, meine kleine Schwester und ich lebten später in der Gollierstraße 36 im 3. Stock. (Foto 2011)

Beide Wohnblöcke sind typische Mehrfamilienhäuser auf der Schwanthalerhöhe.


Aber ich vermute, dass zumindest meine Mutter mit meiner zweijährigen Schwester noch so lange auf dem Stauchhof blieb, bis mein Vater unsere Wohnung in der Gollierstraße 36 im dritten Stock wieder bewohnbar gemacht hatte. 


Ich jedoch war ja 1945 bei Kriegsende sechs Jahre alt geworden und sollte im September in die Schule gehen. Und da meine Eltern wieder nach München zurückzukehren gedachten, war es schon sinnvoll, mich gleich in unserem Viertel einzuschulen. Ich kam in die Ridlerschule, obwohl die Bergmannschule näher gewesen wäre. Aber diese Schule war im Krieg so stark zerstört worden, dass sie vorerst den Schulbetrieb nicht aufnehmen konnte. 


An meinen ersten Schultag kann ich mich zwar nicht erinnern und auch nicht an den Unterricht, die Lehrer und meine Klasse, aber die blauen Kübel und Behälter, in denen die Schulspeisung angeliefert wurde, habe ich noch sehr deutlich vor Augen. Wir löffelten Erbswurstsuppe oder

zähen Haferflockenbrei mit Schokogeschmack. Unvergesslich! Ich hab beides gemocht. Hunger ist halt doch der beste Koch. 


Aber meine Oma war definitiv eine Zauberin in der Nachkriegsküche. Aus den wenigen Zutaten, die ihr aufgrund der Lebensmittelmarken zur Verfügung standen, machte sie selbst herrliche „odrahde Wichspfeiferl“ (heute sagt man dazu Schupfnudeln) mit selbst eingemachtem Sauerkraut und auch selbst gemachte breite Nudeln standen auf dem Speiseplan. Das waren eindeutig meine Lieblingsgerichte. Ich brauchte nicht zu hungern. Zu dieser Zeit war das ein großes Glück. 


Diese Nachkriegsjahre bis zur Währungsreform 1948 sind als Kälte- und Hungerjahre in Deutschland, besonders in den Städten, in die Annalen eingegangen. Meine Familie hat es aber offensichtlich geschafft, dass ich als Kind den allgemeinen Versorgungsmangel nicht so sehr zu spüren bekam. Meine Erinnerung an diese Zeit ist nicht von der Erinnerung an Hunger überschattet. Vielleicht liegt es aber auch an meinem Naturell, dass für mich das Glas immer eher halbvoll als halbleer ist. 


Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es in meiner Kindheit Wärmestuben im Viertel gab, weil nicht genügend Brennstoff für die Holz- und Kohleöfen vorhanden war. 

Wir gehörten ja wenigstens zu den Glücklichen, die in einer intakten Wohnung lebten. Es konnte da zwar auch ungemütlich kalt werden, aber besser geschützt waren wir allemal. Aber was konnten die Menschen tun, die keine Wohnung hatten, die sich in den Trümmern lediglich notdürftig eingerichtet hatten?! Sie konnten sich nur in den Wärmestuben vor dem Erfrieren schützen.

Auch für öffentliche Einrichtungen wie Schulen gab es kaum Brennmaterial, weswegen die Schüler gebeten wurden, wenn möglich, doch ein paar Kohlen mit in die Schule zu bringen.


Hinzu kam, dass der Winter 1946/47 der längste und kälteste des 20. Jahrhunderts war. Von November 1946 bis März 1947 fror Deutschland regelrecht ein. Sogar Schifffahrtswege wurden unpassierbar und sogar die gelagerten Kartoffeln, das wichtigste Grundnahrungsmittel in Deutschland, erfroren in den Kisten. 


Die Nachkriegszeit in Deutschland und besonders in Großstädten wie München war eine schlimme Zeit und viele haben Hunger und Kälte nicht überlebt. 


Ich durfte mich aber glücklich schätzen, dass meine Familie vollständig und gesund und auch nicht ausgebombt war. Lediglich mein Opa war im KZ Dachau misshandelt und 1943 nur noch zum Sterben entlassen worden und mein Onkel mütterlicherseits fiel in den letzten Kriegstagen. Mein Vater, dessen Kriegsverletzung keine langfristigen Schäden hinterlassen hatte und der auch nicht in Kriegsgefangenschaft musste, sowie meine Mutter hatten schon bald einen Arbeitsplatz in gefunden. Er als Paketzusteller bei der Post und sie als Verwaltungsangestellte bei einem Einzelhandelsunternehmen. Meine Eltern hatten keine großen Gehälter, aber sie hatten Arbeit und damit eine gewisse Sicherheit. 

Kindheit in den Trümmern 

Wieso mein Vater an diesem Nachmittag in der Guldeinstraße war und nicht in der Arbeit, vermag ich nicht mehr zu sagen. Aber ich erinnere mich noch gut, dass ich beim Fangermandlspiel stolperte und mit dem Kopf auf einem Kanaldeckel aufschlug. Die Platzwunde knapp über dem Auge in der rechten Augenbraue blutete heftig und die Aufregung war natürlich groß. Weder hatten die Leute damals Medikamente und Verbandszeug zu Hause, noch gab es die Möglichkeit eines telefonischen Notrufs, mit dem man Sanitäter oder einen Notarzt hätte rufen können. Abgesehen davon gab es keinen Rettungsdienst wie wir das heute kennen. Daher trug mich mein Vater auf seinen Schultern den ganzen Weg, immerhin mehr als drei Kilometer, von der Guldeinstraße bis zur Klinik an der Nussbaumstraße, wo meine Wunde genäht und verbunden wurde. Die Narbe ist heute noch sichtbar. 


Die kleine, ungefähr vier Jahre alte Sabine, die ebenfalls mit den Kindern in unserer Straße herumtobte und spielte, hatte weniger Glück als ich. Sie wurde vor unseren Augen von einem Lastwagen überfahren und war auf der Stelle tot. Ich habe den Moment des Unfalls nicht gesehen, aber ich sah Sabine unter den hinteren Zwillingsreifen des Sattelschleppers liegen. Sie war tot. Wie es zu dem Unfall gekommen war, konnte sich niemand erklären. Es gab damals wenig Autos auf der Straße. Vielleicht hatte sie deswegen den Sattelschlepper nicht als Gefahr wahrgenommen. Es war ein Mysterium. Alle Bewohner des Viertels, aber besonders die der Guldeinstraße, wo der Unfall passiert war, standen für lange Zeit unter Schock. 


Dass wir Kinder der Nachkriegszeit eigentlich gefährlich lebten, ist mir erst heute im Rückblick so richtig bewusst. Die Spielplätze meiner gesamten Kindheit waren nicht nur Hinterhöfe, sondern auch Straßen, aber vor allem die umliegenden Ruinen. Dort gab es Abenteuer zu erleben. 


Wir durchsuchten die Ruinen und Trümmer nach Messing- oder Kupferteilen, für die wir beim Eisenhändler ein paar Zehnerl bekamen, zerrten an den Kabeln und ahnten nicht, was am anderen Ende unter dem Schutt lauern konnte. Womöglich ein Blindgänger! 


Ein richtiger Lausbub von der Schwanthalerhöhe!
Ein richtiger Lausbub von der Schwanthalerhöhe!

Tja und richtig gefährlichen Blödsinn machten wir natürlich auch. Es gab da in unserer Nähe ein Lager aus Brettern zusammengenagelt. Wozu es einmal gedient hatte, wussten wir nicht. Vielleicht war es ein Schießstand gewesen, denn in diesem Lager fanden wir jede Menge Patronen. Hätten wir auch noch eine dazu passende Waffe gefunden, wäre bestimmt ein Unglück passiert. So aber sorgten wir auf andere Weise dafür, dass es so richtig knallte. Wir gruben die gesammelten Patronen ein und zündeten sie an. Von unserer Heldentat waren wir selbst sehr beeindruckt. 


Überfürsorglich waren die Eltern der damaligen Zeit in unserem Viertel nicht. Die Erwachsenen mahnten die Kinder auf dies und jenes zu achten, dies und jenes sein zu lassen, und überließen sie dann notgedrungen der Eigenverantwortung oder der Obhut der älteren Geschwister. 


Meiner Schwester und mir ist nichts passiert. Wir hatten eben Glück und vielleicht waren wir auch zusätzlich geschützt, weil meine berufstätigen Eltern eine Haushaltshilfe engagierten, die meine Schwester und mich vor und nach der Schule bzw. dem Kindergarten betreute. Manchmal schickte sie mich in die Gaststätte Bürgerheim in der Bergmannstraße 33, um eine einzelne „Ami-Zigarette“ für 30 Pfennige zu kaufen. Diesen Luxus gönnte sie sich. 


Die Gaststätte Bürgerheim gibt es heute noch. Damals, in der Nachkriegszeit, war sie ein wichtiger Anlaufpunkt für die Bewohner der Schwanthalerhöhe. Dort war nicht nur eine Wärmestube eingerichtet, sondern es gab auch noch nach der Währungsreform für Bezugsmarken Speisen wie Lungenhaschee mit Kartoffeln. Das ist ein Gemisch aus Innereien wie sauere Lunge und Pansen. 

Währungsreform 1948 
Die Währungsreform brachte neues Geld, aber noch keinen Reichtum.
Die Währungsreform brachte neues Geld, aber noch keinen Reichtum.

Apropos Währungsreform. Mit der Währungsreform am 21. Juni 1948 endete das Wirtschafts- und Alltagschaos aus Inflation, Schwarzmärkten und Mangelwirtschaft. Die Veränderungen waren fast sofort sichtbar und zwar in den Schaufenstern der Ladengeschäfte. Wo vorher nichts war, gab es über Nacht Brot und Wurst und Stoffe und Kleider und dergleichen mehr. 


Die Ladenbesitzer hatten Waren gehortet, um sie ab dem Stichtag für gutes Geld verkaufen zu können. All diejenigen, die keine Sachwerte besaßen, hatten nur die 40 DM Kopfgeld pro Familienmitglied. Sparvermögen wurden 100 RM zu 6,50 DM getauscht. Ein riesiger Verlust. Im Endeffekt zählten die Sparer zu den Verlierern. 


Am Vorabend der Währungsreform konnte man für RM nichts mehr kaufen und allen war klar, dass es sich auch nicht lohnte, das wertlose Geld zu horten. 


Diesem Umstand haben meine Freunde und ich unser ganz spezielles Wunder der Währungsreform zu verdanken.  


Wir waren ca. neun Jahre alt und bekamen schon mit, dass die Erwachsenen in heller Aufregung waren, weil endlich die Währungsreform Wirklichkeit werden sollte. Der Begriff sagte uns herzlich wenig, nur dass es anderes Geld geben würde. 


Die Bedeutung so einer Währungsumstellung für den Alltag war uns natürlich nicht klar und ehrlich gesagt, sie war uns auch egal. Was uns aber an diesem Samstag, den 19. Juni 1948, ganz euphorisch stimmte, war, dass die Leute uns Geld schenkten. Einfach so. Unfassbar! 


An diesem denkwürdigen Tag nannten wir plötzlich 20 Reichsmark unser eigen. Was für ein Reichtum!

Selbstverständlich wollten wir uns damit ein ansonsten unerschwingliches Vergnügen leisten. Wir beschlossen, mit der Straßenbahn zum Tierpark zu fahren. Das allein war ja schon ein Ereignis. Von dort liefen wir zu Fuß zum Hinterbrühler See. 

Wir malten uns aus, wie wir großspurig und angeberisch beim dortigen Bootsverleiher, Herrn Wagner, einen Kahn mieten und großzügig mit unserem eigenen Geld bezahlen würden. Anschließend wollten wir, wie reiche Leute es unserer Ansicht nach zu tun pflegen, über den See schippern und einfach nichts tun. Den ganzen Weg bis zum Bootsverleih sprachen wir darüber, wie das wohl sein werde und wie erstaunt der Bootsverleiher schauen würde.


So ganz kapierten wir dann nicht, warum Herr Wagner unser Geld nicht wollte. Er winkte dankend ab und meinte, dass wir unser wertloses Geld ruhig behalten könnten. Unser Traum vom großspurigen Bezahlen und Herumschippern wie reiche Leute war dahin. 

Aber unsere Enttäuschung hielt sich in Grenzen, denn der gute Mann hatte Mitleid und ließ uns kostenlos mit seinem Holzkahn fahren. In unserer Phantasie waren wir dann halt keine reichen Leute mehr, sondern wilde Piraten auf den sieben Weltmeeren. Das hatte ja auch was! 


Langsam, ganz langsam veränderte sich unser Leben nach 1948. 

Nachkriegskinder und ihr kleines Glück 

Unsere Wünsche waren höchst bescheiden. Wir Kinder aus dem Viertel bzw. der Gollierstraße schätzten uns glücklich, wenn wir 10 Pfennige zusammengespart hatten, um uns auf dem Schulweg eine Stranitze mit getrockneten Apfelschalen im Lebensmittelgeschäft „Decker“, Ecke Kazmair-Ganghoferstraße, zu kaufen. 


Den Begriff „Stranitze“ kennt man heute gar nicht mehr. Das sind Dreieckstüten aus Zeitungspapier. Heute wird diese Tütenform, allerdings nicht mehr aus Zeitungspapier, beispielsweise noch für gebrannte Mandeln verwendet. 


Absoluter Luxus in den späten 40er Anfang der 50er Jahre war Waffelbruch mit Schokoladenresten. Eine Stranitze für 35 Pfennige. Das konnten wir uns nur ganz selten leisten und auch nur, wenn wir zusammenlegten. 


Was für ein glücklicher Zufall, dass im Nachbarhaus die große Bäckerei „Limmer“ war. Die Backstube war im Rückgebäude untergebracht und wir Kinder der Gollierstraße fanden es höchst interessant, wie die großen Mehlsäcke von den Lieferautos abgeladen und mit einem kleinen Kran, der an der Fassade angebracht war, nach oben gezogen wurden. 


Und wir hofften, dass Bäcker Limmer im Hof erschien und uns fragte, ob wir heute schon geschwitzt hätten. Wir bejahten das immer eifrig, denn, wenn wir schon geschwitzt hatten, bekamen wir Brezen geschenkt. Was hinter dieser Frage steckte, haben wir uns nie gefragt. Hauptsache es gab eine Brezn! 

Der „Pfanni-Urknödel“ 

Ab 1947 gab es auf dem Messegelände, im Osten begrenzt von der Theresienwiese, im Westen von der Ganghoferstraße, im Norden von der Heimeranstraße und im Süden von der Pfeufer und Radlkoferstraße, wieder Ausstellungen aller Art. Wir Kinder wären natürlich sehr interessiert daran gewesen, was es da alles zu sehen und zu probieren gab, aber uns fehlte das Geld für den Eintritt. Welche Nahrungsmittelmesse es genau war und in welchem Jahr in den 40ern sie stattfand, vermag ich heute leider nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, aber wir waren wild entschlossen, da hineinzugelangen. Bestimmt gab es da etwas Leckeres zum Probieren. Und wir trafen umfangreiche Vorbereitungen, damit uns das auch gelingen würde. 


Vor der Eröffnung lösten wir an einer geeigneten Stelle in der Heimeranstraße einige Zaunlatten von der Einzäunung und zwar so, dass sie nur noch oben an einem Nagel hingen. Man konnte sie dann bei Bedarf zur Seite schieben und rasch durchschlüpfen. Waren wir erst einmal auf dem Gelände, ging alles ganz einfach. Wir liefen unbemerkt bis zum Leuchtturm vor der Halle 7 und lauerten darauf, dass der Kontrolleur am Eingang seine Runde machte. Ganz selbstverständlich mischten wir uns unter die Besucher, schauten uns die angebotenen Waren an und wurden magisch vom Pfanni-Stand angezogen. Warum? Es gab da etwas zu probieren. 


Was wir damals nicht wussten, war, dass wir an diesem Stand in den Genuss einer historischen Neuerung in Sachen Nahrungsmittelindustrie und Fertigprodukte kamen - die Pfanniknödel. 


1949 hatte Werner Eckart im Münchner Stadtteil Berg am Laim beim Ostbahnhof die Pfanni-Werke errichtet und den „Urknödel“ ins Sortiment der Trocken-Kartoffelprodukte aufgenommen. Diesen Urknödel stellte Pfanni 1949 auch auf einer Nahrungsmittelmesse oder dem Zentrallandwirtschaftsfest München, das kann ich nicht genau sagen, dem staunenden Publikum vor. Der Jahrzehnte anhaltende Siegeszug dieses Fertigproduktes ist ja hinlänglich bekannt. 


Wir Kinder der Nachkriegszeit jedenfalls wussten es sehr zu schätzen, dass wir diese kleinen Knödel mit Tomatensoße am Messestand probieren durften. Es war ein Hochgenuss! 


Es hat sich für Pfanni bestimmt gelohnt, uns Kinder so großzügig zu bewirten, denn wir waren ja die Kunden der Zukunft.

Ich habe jedenfalls mein Leben lang gern Pfanniknödel gegessen, allerdings zum Schweinebraten und nicht mit Tomatensoße. 


Während meiner Tätigkeit als Paketzusteller habe ich viele Jahre später den Geschäftsführer der Pfanni-Werke, Herrn Dr. Lange, kennengelernt und ihm von unserem damaligen illegalen Messebesuch und dem ergaunerten Knödelschmaus erzählt. Seinem Wunsch, diese Geschichte aufzuschreiben, komme ich nun endlich nach. Ich musste nämlich erst das Tippen auf der Schreibmaschine und dann auf der Tastatur lernen. Aber besser spät als nie! 

„Rasierplätze“ im Kino

Den Eintritt in eines der Kinos der Schwanthalerhöhe konnten wir uns aber nicht wie bei der Messe erschwindeln, dafür mussten wir Kinder unsere Eltern um etwas Geld anbetteln. Regelmäßiges Taschengeld bekam ja keiner von uns. 


Am beliebtesten war das Kino „Merkur“ in der Gollierstraße 24, das schon 1927 eröffnet worden war und 1962 geschlossen wurde. Ich kann mich noch gut an den Stummfilm „Goldrausch“ (1925) mit Charlie Chaplin erinnern und an „Das große Treiben“ (1946). Aber besonders beeindruckt haben uns Buben natürlich die Western mit dem amerikanischen Schauspieler Tom Mix (*1880 bis +1940). 


Tom Mix, der Cowboy mit Stil und großem Herzen, war in den 20er Jahren auch in die deutschen Kinos gekommen und seine Filme erfreuten sich großer Beliebtheit. Die Kinobesucher der 20er, aber auch wir Jungs der 40er Jahre mochten die dramatischen und abenteuerlichen Geschichten des Wildwesthelden, die humorvoll auf der Leinwand in Schwarz-Weiß und größtenteils stumm erzählt wurden. 


Wir Kinder nahmen, wenn wir die 85 Pfennige Eintrittsgeld beieinander hatten, immer die sogenannten „Rasierplätze“ im Lichtspielhaus. Das waren die billigsten Plätze in der ersten Reihe ganz vorne. Wir mussten die Köpfe ganz weit nach hinten biegen wie beim Rasieren, um die ganze Leinwand sehen zu können. Daher die Bezeichnung „Rasierplätze“. 


In dieser Zeit, da noch niemand einen Fernseher besaß, sondern höchstens ein Radiogerät, waren Kinobesuche eine sehr willkommene Unterhaltung. Damals gab es in unserem Viertel mehrere Kinos, die fußläufig für uns Kinder zu erreichen waren. Außer ins „Merkur“ konnten wir noch ins „Westend“, ins „Ganghofer“ und ins „Eden“ gehen, vorausgesetzt wir hatten die 85 Pfennige Eintrittsgeld irgendwie aufgetrieben. 

Zum Schwimmen ins „Dante“ 

Ein Freibad gab es nicht in unserem Viertel. Zum Schwimmen mussten wir Kinder ins „Dantebad“ im Stadtteil Gern gehen. Das waren gut vier Kilometer und ca. eine Stunde Fußmarsch hin und dann, müde vom Schwimmen und Toben, wieder eine Stunde zurück. Es hätte durchaus eine Straßenbahnverbindung gegeben, aber die 20 Pfennig für die Bahn sparten wir uns, weil unser Geld sonst für den Eintritt ins Dante nicht mehr gereicht hätte. 


Nur einmal fuhren wir zum Dantebad per Auto und das war ein Abenteuer und eine Premiere zugleich. Ein Nachbar, Herr Schindlauer, bot uns an, uns auf der Ladefläche seines Ford Lastwagens mit Holzgasantrieb bis zum Freibad mitzunehmen. Wir waren begeistert und saßen aufgeregt auf der Ladefläche. Es war die erste Autofahrt unseres Lebens. 


Eine Autofahrt zum Starnberger See für uns drei als Geschenk zur Kommunion! Ein Erlebnis!
Eine Autofahrt zum Starnberger See für uns drei als Geschenk zur Kommunion! Ein Erlebnis!

1948, zu unserer Kommunion, durften wir dann noch einmal mit einem Auto fahren. Mein Freund Fritzl, der im selben Haus wohnte wie ich, das Annerl vom Nachbarhaus und ich wurden vom Bäcker Limmer zur Feier des Tages eingeladen, mit ihm in seinem englischen „Austin Traveller“, einer Art Kombi, an den Starnberger See zu fahren. Wir saßen staunend auf der hölzernen Ladefläche. So ein Erlebnis! So ein tolles Auto und so schnell! 

Aber das Annerl wurde im Laufe der Fahrt immer stiller und drückte sich in ihre Ecke. Ihr war gottserbärmlich schlecht von der Schaukelei auf der damals recht buckligen Straße nach Starnberg. Von einer Autobahn war ja weit und breit noch nichts zu sehen. Dem Annerl ging es gar nicht gut und sie musste sich übergeben. Naja, so hatte sich Herr Limmer das natürlich nicht vorgestellt. Er trug`s jedoch mit Fassung. Aber wir Buben waren uns einig, dass der Ausflug ganz wunderbar gewesen sei. Annerl hin - Annerl her!

Die erste Wies`n 

Ja, wir Kinder der Schwanthalerhöhe lebten in bescheidenen Verhältnissen, aber ich habe diese Jahre als Schulkind in sehr guter Erinnerung. Alles wurde zu einem Abenteuer. Vieles machte und erlebte man zum ersten Mal. Schließlich waren wir Kriegskinder in einer Zeit Kleinkinder gewesen, als die Welt um uns immer dunkler und ärmer wurde. Nun, in der Nachkriegszeit, öffneten sich neue Türen und Wege. Und Vieles war auch für die Erwachsenen „zum ersten Mal - wieder!“. 


Die erste „Wiesn“ (Oktoberfest auf der Theresienwiese) nach dem Krieg fand im September 1949 statt. Für mich und alle anderen 10-Jährigen war das die erste Wiesn unseres Lebens, denn von 1939 bis 1949 wurde kein Oktoberfest abgehalten. Es war ein ungeheueres Ereignis. 


Geschäftstüchtig wie wir waren, schoben wir für 10 Pfennig die Stunde beim Kinderkarussell Stibor das Karussell an und sprangen dann auf und fuhren ein wenig mit. Dieses Fahrgeschäft lief nämlich noch ohne Motor. Es musste mit unserer Kraft in Schwung gebracht werden. Was für ein Glück für uns! 

Mit dem verdienten Geld konnten wir uns dann die 20 Pfennig Eintritt fürs Teufelsrad leisten. Dort durfte man so lange mitmachen, wie man wollte und das haben wir natürlich ausgenützt. Es war eine Riesengaudi. Dieses Kult-Fahrgeschäft erfreut sich auf dem Oktoberfest heute noch großer Beliebtheit. 

Wenn wir dann hungrig wurden, machten wir uns auf zur Hühnerbraterei und bettelten um die abgehackten Hendlabfälle, die wir zum Abfieseln (Abnagen) geschenkt bekamen. 


Das war unsere Welt und die heute wegen des Oktoberfestes so weltberühmte Theresienwiese gehörte dazu. Ich lernte dort beispielsweise das Radfahren. Eigentlich ein idealer Ort dafür. Ein riesiger Platz, auf dem die meiste Zeit nix los war, außer in den zwei Oktoberfestwochen.  


Mein Vater hatte für mich ein Fahrrad aus Teilen alter Räder zusammengebaut und nun lernte ich auf der Theresienwiese das Fahren. Weit und breit war kein Hindernis in Sicht, nur der weite leere Platz. In einiger Entfernung spazierte ein älteres Ehepaar ahnungslos über die Fläche. Aber ich schaffte es doch tatsächlich im Zuge meiner Radfahrübungen, dem Mann von hinten genau zwischen die Beine zu fahren. Ich war völlig verblüfft, wie das hatte passieren können, und der Mann war verständlicherweise sehr verärgert. Er schimpfte mich einen blöden Deppen und blaffte mich überflüssigerweise an, ob ich nicht aufpassen hätte können. Tja, wenn ich das gekonnt hätte, dann hätte ich das natürlich sofort getan, aber ich war ja abgelenkt durch`s Balancieren und in die Pedale treten! 


Schwanthalerhöhe oder Westend, ein Arbeiterviertel -
mein Viertel 

Die Schwanthalerhöhe oder auch Westend genannt entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl es ursprünglich als Villenvorort Münchens geplant war, entwickelte es sich als dicht besiedeltes Arbeiterviertel. Der Grund war, dass entlang der Bahnstrecke viele Industriebetriebe entstanden und das bedeutete Arbeit für die Menschen. Die Quartiere, die von privaten Vermietern den Arbeitern und ihren Familien in den Rückgebäuden und Hinterhöfen angeboten wurden, waren dunkel, klein, feucht und ungesund. Das Wasser musste im Hausflur geholt werden und für mehrere Mietparteien gab es eine Toilette im Treppenhaus. 


Als sich die Arbeiter zu Genossenschaften zusammenschlossen und eigene Mehrfamilienhäuser bauten, verbesserten sich die Lebensumstände etwas. Die Standards der Genossenschaftswohungen waren einfach, aber es waren wenigstens keine heruntergekommenen Quartiere mehr.

Soziale Spannungen führten immer wieder zu hoher Kriminalität und so war das Westend bzw. die Schwanthalerhöhe als „Glasscherbenviertel“ und „Räuberviertel“ verrufen. 


Ob unser Viertel auch in den 40er und zu Beginn der 50er Jahre einen schlechten Ruf hatte, weiß ich nicht. Kinder interessieren sich ja nicht für solche Dinge. Dass es keine Villen, sondern etwas heruntergekommene Mietshäuser in unserem Viertel gab, von denen der Putz abblätterte, war uns nicht bewusst. Und im Vergleich zu den Ruinen, die noch eine ganze Weile nach Kriegsende existierten, sah jeder Mietblock richtig schmuck aus. 


Von den möglichen Verbrechen eines „Räuberviertels“ ist mir nur eines in Erinnerung. Ein Mord in unserer Straße, in der Gollierstraße 36! 


Eine Frau, die im Erdgeschoss wohnte, wurde ermordet aufgefunden. Für die Erwachsenen, die diesen Fall heftig diskutierten, hing das damit zusammen, dass diese verheiratete Frau, immer wenn ihr Mann nicht zu Hause war, zu einem anderen Mann ging, der in der Nachbarschaft wohnte. Uns Kindern war absolut schleierhaft, wieso sie ermordet werden sollte, weil sie jemanden besuchte. Sehr mysteriös das Ganze! 


Trotzdem haben wir uns nicht vor einem Mörder in unserer Straße gefürchtet. Instinktiv glaubten wir, dass dieses Verbrechen nichts mit uns Kindern zu tun hatte. 

Bald vergaßen wir diese Angelegenheit. So spannend war das dann auch wieder nicht. 


Unsere Familie löste sich schrittweise von der Schwanthalerhöhe. Ende der 40er Jahre zogen wir mit meiner Oma in eine größere Wohnung in die Maistraße 4 in der angrenzenden Ludwigsvorstadt. Für mich hieß das Schulwechsel in die Tumblingerschule. 1951 erhielt mein Vater dann eine Wohnung im Postblock in der Ruffinistraße 9 in Nymphenburg-Neuhausen, ein Stadtteil auf der anderen Seite der Gleise. Wieder musste ich in eine neue Schule, diesmal in die Renataschule. Aber ich habe immer leicht Anschluss gefunden und in unserem Wohnblock lebten sehr viele Kinder. Da war es kein Problem Freundschaften zu schließen. 


1953, nach der 8. Klasse, begann für mich im Alter von 14 Jahren das Berufsleben. Ich machte eine Schreinerlehre in der Kazmairstraße auf der Schwanthalerhöhe. Also kehrte ich jeden Morgen wieder in mein Viertel zurück. 

Wie es mir dann erging, ist wieder eine andere Geschichte. (HB) 



Quellen zur weiteren Information: 




Buchempfehlung zur Geschichte der Schwanthalerhöhe: 


Kühn, August: „Zeit zum Aufstehen. Eine Familienchronik.“, Erstausgabe 1975, überarbeitete Ausgabe 2010, Verlag Das Freie Buch, München 

Comments


20200429_074336.jpg

Wollen Sie über neue Beiträge informiert werden?

Dann tragen Sie bitte Ihre E-Mail-Adresse unten ein. Danke!

Danke!

bottom of page