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Der Mann und die Schwäne

  • titanja1504
  • 8. Dez. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Juni 2023



(DE) Es war ein heißer Sommer und ich fuhr fast jeden Tag zum Baden an den Baggersee.

Der See liegt versteckt in einem Waldstück und ist doch leicht erreichbar. Das Auto parkt man am besten gleich am Rand der viel befahrenen Hauptstraße. Nachdem man sie überquert hat, biegt man rechts in einen Waldweg ein. Sofort wird man vom Schatten der hochgewachsenen Fichten und Tannen in wohltuende Stille eingehüllt. Der frische Duft der Bäume und das heitere Vogelgezwitscher lässt mich tief durchatmen. Jedes Mal wenn ich hierher komme, erfüllt mich tiefe Dankbarkeit.

Schon nach wenigen hundert Metern sieht man rechterhand das tiefe Blau des Wassers glitzern. Das Kieswerk, das sich früher an dieser Stelle befand, ist längst unrentabel geworden. Die eisernen Fördertürme waren längst abmontiert und die Kiesberge im Laufe der Zeit abgetragen worden. Zurück blieb ein großflächiger, grober Sandstrand, den sich die Natur nach und nach zurückeroberte.

Vor dem weitläufigen Platz, der von der Sonne aufgeheizt wird, breitet sich der See in seiner vollen Länge und Schönheit aus. Hier lassen sich vor allem Familien und Rentnerehepaare, die mit Liegen, Sonnenschirmen und gefüllten Picknickkörben ausgerüstet sind, nieder.

Ich jedoch strebte dem bewaldeten Nordufer zu, vorbei an kleinen Buchten, wo Angler ihre bunten Holzboote festgemacht hatten, vorbei an rosa blühenden Seerosenteppichen und mit dichtem Schilf bewachsenen Stellen, in denen sich Frösche verstecken, sich jedoch durch ihr ohrenbetäubendes Quaken verraten.

Ein schmaler Pfad führt durch den Wald am Ufer entlang. Manchmal blieb ich stehen, um die Schönheit dieses Fleckchens Erde auf mich wirken zu lassen.

In der Mitte des Sees zog ein Schwanenpaar stolz und majestätisch seine Kreise. In das Gewirr von unterschiedlichen Vogelstimmen und dem Summen von Insekten mischte sich das warnende Fiepen eines Haubentauchers. In der Ferne hörte ich den Ruf eines Kuckucks. Große blau schillernde Libellen tanzten in der Sonne und tauchten immer wieder hinab zum Wasser. Trockenes Laub raschelte unter meinen Schritten und obwohl ich diesen Weg schon unzählige Male gegangen war, entdeckte ich immer wieder Neues. Es schien, als würde jemand, der über allem schwebt, täglich überlegen, wie er mich überraschen und erfreuen könnte. Verschiedenste Blüten, Gräser, Farne, Pilze, Früchte und Düfte lösten in jedem Augenblick ein fast kindliches Erstaunen aus.

Nach ungefähr einer Viertelstunde bog ich rechts in einen von Gebüsch und Gestrüpp umsäumten noch schmäleren Pfad ein, der auf eine kleine Halbinsel führt. Meistens ließ ich mich hier nieder.

Dieser Platz war vor vielen Jahren der Geheimtipp für Nacktbader gewesen. Inzwischen haben ihn viele Naturliebhaber für sich entdeckt und im Verlauf der Jahre hat sich ein buntes Völkchen eingefunden, das regelmäßig hierher kommt. Man kennt sich, zumindest gesichtsweise. Mit manchen hatten sich Freundschaften entwickelt und man wusste um Schicksalsschläge und Lebensgeschichten. Man hatte sich gemeinsam altern sehen und wusste um die Vorlieben und Verletzlichkeiten.

Man begegnet sich freundlich und respektvoll. Man grüßt sich und lässt sich ansonsten in Ruhe. Man findet jederzeit Unterhaltung, wenn einem danach ist. Auch das machte den Zauber dieses Ortes aus.

An einem dieser Nachmittag fiel mir ein Mann auf, den ich noch nie hier gesehen hatte. Er schob sein Fahrrad durchs Gebüsch, schloss es sorgfältig ab und rollte eine schmale Matte daneben aus. Er war mittelgroß und ziemlich schlank. Sein Alter konnte ich schwer einschätzen, weil er einen großen Schlapphut trug, der sein Gesicht fast ganz verdeckte. Selbstverständlich und ohne Scheu legte er seine Kleidung ab und packte sie in die Satteltaschen. Irgendwie wirkte er in sich gekehrt und unnahbar. Ich nahm weiter keine Notiz von ihm und wandte mich wieder meinem Buch zu.


Als ich erneut aufblickte, sah ich ein Schwanenpaar ans Ufer watscheln. Offenbar hatten sie ihre Jungen verloren. Noch vor ein paar Wochen hatten sie drei davon immer im Schlepptau gehabt. Es war ein Vergnügen gewesen zu beobachten, wie ein Pfiff der besorgten Eltern genügte, um sie zur Ordnung zu rufen. Trotz aller Bemühungen waren sie vielleicht einem Fuchs zum Opfer gefallen.

Man kam ihnen jedenfalls besser nicht zu nah. Ich hatte einmal beobachtet, wie sie fauchend und mit weit ausgebreiteten Flügeln schlagend einen Jungen bedrohten, der offenbar in ihr Revier eingedrungen war.

Im seichten Wasser begannen sie sich ausgiebig zu putzen. Danach machten sie sich, ungeachtet der Badegäste, auf der Futtersuche über die Grasbüschel entlang des Ufers her.


Es waren prächtige Tiere, die, wenn sie ihren Hals empor reckten, fast meine Größe erreichten. Auch im Wasser mochte ich ihnen lieber nicht begegnen und schwamm zügig ans Ufer, wenn sie sich näherten. Jedenfalls wusste jeder hier, dass es klüger war, ihnen aus dem Weg zu gehen und Abstand zu halten. In der Regel verzogen sie sich nach einer Weile von selber wieder – nicht ohne vorher einen beachtlichen grünen Haufen in den Sand zu setzen. Meist standen sie auf ihren hohen, kräftigen Beinen noch eine Weile im seichten Uferwasser und blickten um sich. Es schien, als verabredeten sie sich mit einem seltsamen Pfeifen, in welche Richtung ihre Reise nun gehen sollte.


An diesem Nachmittag sah ich nun den fremden Mann, wie er auf das Schwanenpaar zuging. Seinen Schlapphut hatte er abgenommen und sein langes silbrig glänzendes Haar zu einem Pferdeschwanz am Oberkopf zusammengebunden. Seine Nase war mit einer dicken weißen Schicht Sunblocker bedeckt. Von hinten wirkte sein Körper grazil wie der einer Frau.


Es war ein absurder Anblick von unglaublicher Schönheit, der sich in mein Gedächtnis einprägte, wie das Gemälde eines surrealistischen Malers.

Auch die anderen Badegäste beobachteten nun, wie sich der Fremde den Schwänen näherte. Schritt für Schritt. Langsam und bedächtig. „Ist der verrückt – was macht er da?“, rief eine Frau kopfschüttelnd. Ein Raunen wurde hörbar und alle schauten nun gespannt auf ihn – abwartend, was gleich passieren würde. Er befand sich nun bereits zwischen den Schwänen. Die Luft stand still und es passierte - nichts. Nichts Bedrohliches jedenfalls. Das Schwanenpaar wandte ihm - etwas erstaunt so schien es - ihre Köpfe zu. Als er noch ein paar Schritte zwischen ihnen ins tiefere Wasser ging und zu schwimmen begann, flankierten sie ihn wie vorher ihre Jungen und schwammen neben ihm her. Einer links, einer rechts.


Die Sonne stand inzwischen hoch und warf einen gleißenden Streifen quer über den See. Wie gebannt sah ich zu, wie sich Mann und Schwäne im glitzernden Wasser auf diesen Streifen zubewegten, um sich dann im grellen Licht der Sonne aufzulösen. Geblendet musste ich die Augen schließen. Ich ließ mich auf meine blaue Decke zurücksinken, um diesen fast magischen Moment in mein Gedächtnis sickern zu lassen, streckte mich ausgiebig und genoss die Wärme auf meiner Haut. Ich fühlte mich leicht und glücklich.

Nach einer ganzen Weile sah ich den Mann tief atmend und mit einem vollkommen gelösten Gesichtsausdruck zurück ans Ufer waten. Er zog seine Matte ein Stück weiter in die Sonne und ließ sich darauf nieder. Er wandte mir seinen Rücken zu. Er hatte seinen Kopf auf den angewinkelten Arm gestützt und schaute versonnen aufs Wasser hinaus. Wassertropfen glitzerten wie Perlen aus Glas auf Schulter und Hüfte, bevor sie in kleinen Rinnsalen über seine Haut liefen.


Es fiel mir schwer, meinen Blick von ihm zu lösen.

Am liebsten wäre ich zu ihm hinübergegangen und hätte meinen sonnenwarmen Körper an seinen Rücken geschmiegt. Stattdessen stand ich auf und ging ins Wasser. In langen Zügen schwamm ich bis zur Mitte des Sees. Die Schwäne waren verschwunden. Ich ließ mich eine Weile an der Wasseroberfläche treiben, bevor ich ans Ufer zurück schwamm.


Der Mann war verschwunden. Im Gras waren ein paar weiße Schwanenfedern hängen geblieben, ganz flaumig und weich. Ich bückte mich und sammelte sie auf. (ML)

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