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Der „innere Schweinehund“ und andere Überzeugungen in der Kindererziehung

  • Autorenbild: anon
    anon
  • 20. Nov. 2022
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 2. Juni 2023

(DE) Ein eigentlich unbedeutendes Erlebnis aus meiner Kindheit ist mir heute, über 60 Jahre später, immer noch in Erinnerung, wahrscheinlich weil es die Position eines Kindes in der damaligen Zeit in allen Facetten widerspiegelt.

Eigentlich putzte mich meine Mutter zu meinem Leidwesen immer heraus, aber...

„Ich weiß doch besser als du, was in der Sandkiste los ist. Wenn ich da mit dem Faschings-Ballerina-Röckchen, das jetzt plötzlich ein Sommerröckchen sein soll, auftauche, dann lachen mich alle aus!“, dachte und äußerte ich sinngemäß, als mich meine Mutter zwang, zu Beginn des Sommers im Faschingskostüm der vergangenen Saison in die Sandkiste im Hof zum Spielen zu gehen. Es hatte noch niemand Zeit gehabt, mit mir ein Sommerkleid zu kaufen und daher enthielt mein Schrank noch keine passenden Anziehsachen für einen heißen Sommertag. Ich hätte lieber in warmen Anziehsachen geschwitzt oder aufs Spielen verzichtet, als ins Faschingstütü gewandet mitten im Sommer in die Sandkiste zu stapfen. Ich war vielleicht fünf Jahre alt und hatte durchaus Sandkasten- und Hinterhof-Erfahrung.

„Dich lacht keiner aus! Sei nicht so zwider! Du ziehst das jetzt an! Fertig! Keine Widerrede!“ Der resolute Monolog meiner Mutter ließ mir keinerlei Spielraum für eine Flucht vor der Blamage.

Behauptung, Beschuldigung, Befehl – dieser Kombination hatte ich natürlich nichts mehr entgegenzusetzen. Ich schlurfte langsam, beobachtet von meiner Mutter am Fenster im zweiten Stock, zur Sandkiste.

Ihre Intention war nicht, mich vor etwaigen Angriffen in Schutz zu nehmen, sondern zu kontrollieren, ob ich mich mit meinem Eimerchen und Schäufelchen vielleicht in eine kinderfreie Zone im Hof verdrückte. Das hätte sie nicht geduldet, denn ich sollte unbedingt an einem schönen Sommertag in der Sandkiste mit anderen Kindern spielen und Spaß haben. Man weiß schließlich als Mutter besser, was ein Kind mag und was ihm gut tut, so ihre Überzeugung.

Als ich mich dann zögerlich in meinem Tütü der Sandkiste voller spielender Kinder näherte, schallte mir natürlich wie erwartet die hämische Frage entgegen: „Ham mia jetz Fasching?!“. An diesem Tag hatte ich keinen guten Stand in der Sandkiste und auch recht wenig Spaß. Ich hatte recht gehabt, aber das interessierte vorher und nachher absolut niemanden.

Was Kinder mochten, wollten und konnten, war in den 50er und 60er Jahren erst in zweiter Linie von Belang. Das Mögen, Wollen und Können wurde von den Eltern bestimmt und gesteuert. Und wenn Kinder etwas nicht mochten, wollten oder konnten, dann mussten sie es halt lernen, wenn nötig auch auf die harte Tour.

In den Augen der Erwachsenen waren Kinder kleine unfertige Wesen, noch keine richtigen Menschen, die man daher mit aller Gewalt nach einem Bild formen und gestalten musste, wenn man seine Pflicht als Vater oder Mutter ernst nahm. Die Vorstellung, wie das Kind zu sein hatte und wie es werden sollte, war natürlich wie zu jeder Zeit vom familiären Hintergrund, dem sozialen Status und dem Zeitgeist geprägt.

Wie war’s bei mir?

Mein familiärer Hintergrund ist eigentlich recht typisch für die Wiederaufbauphase der 50er und 60er Jahre. Die Ursprungsfamilien meiner sehr jungen Eltern waren unvollständig, denn bei meinem Vater war der Vater schwer kriegsversehrt und bei meiner Mutter fehlte er ganz. Beide Familien gehörten „stammbaummäßig“ zur Arbeiterschicht. Während die Kriegsrente meiner Großeltern jedoch für die damalige Zeit recht gut war, war meine Großmutter mütterlicherseits wegen ihrer winzigen Rente auf Sozialhilfe und Unterstützung durch die Kinder angewiesen. Aus diesem Grund blieb meine Großmutter, von der ich aufgezogen wurde, vom Zeitgeist des Wirtschaftswunders, der Statussymbole, der Reisen, Sportlichkeit und Freizeitgestaltung völlig unberührt.

Meine Eltern hingegen waren diesbezüglich wahre Kinder ihrer Zeit. Sie legten all ihr Herzblut ins Erringen von Radln, dann einem Roller, schließlich einem Auto, eleganter Kleidung usw., eben die Segnungen der Wirtschaftswunderzeit. Das Materielle war die Basis zum Glück für die ganze Familie. Später hieß es von Seiten meines Vaters immer: „Du hast doch alles gehabt, obwohl ich nur ein Arbeiter bin. Ich hab viele Überstunden gemacht, sodass wir uns den Luxus leisten konnten.“

Und noch zwei Faktoren scheinen mir erwähnenswert, wenn man die Erziehungsbemühungen meiner Familie verstehen will.

Heute würde man meine Familie als bildungsfern bezeichnen. Höhere Schule, Akademiker, Literatur jenseits der Trivialliteratur von Arztromanen und Krimis, Theater, Oper, Konzert, Musik jenseits der Schlagerwelt usw. spielten keine Rolle, gehörten zu einer anderen Welt, der man relativ verständnislos gegenüber stand. Meine Oma mit ihrer Liebe zu Operetten und „Wunschkonzert“ war geradezu ein kultureller Ausrutscher.

Der andere zu berücksichtigende Faktor ist, dass meine Eltern, Jahrgang 1933, in der Nazizeit groß geworden waren. Obwohl schon bei meiner Urgroßmutter die Sozialdemokratie die politische Orientierung der Wahl gewesen war, hatten meine Eltern dennoch gewisse Einstellungen zum Leben und Überzeugungen internalisiert.

Glaubenssätze, über die keiner mehr nachdenkt

Es gibt in jeder Zeit Ideale, das sind Selbstverständlichkeiten, die man sozusagen mit der Muttermilch aufsaugt, die von der vorangegangenen Generation automatisch übernommen werden.

In den 50er Jahren wirkte natürlich noch nach, dass Körperertüchtigung – „zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie Windhunde“ (NS-Propaganda) — in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein hoher Wert gewesen war.

Wohingegen der nationalistische Gedanke der Volksgemeinschaft, zunehmend vom Individualismus der kapitalistischen Marktwirtschaft abgelöst wurde.

Einzig bei meiner Mutter war ein gewisser Widerwille bezüglich allzu ausgeprägter Eigenwilligkeit spürbar. Sie achtete zwar sehr darauf, dass die tollen Kleider, die sie trug, nicht auch von Nachbarinnen und Freundinnen getragen wurden, andererseits hasste sie es, wenn jemand frei heraus sagte: „Ich will.“ „Immer nur ich, ich, ich!“, schimpfte sie dann zornig vor sich hin.

Ein Überbleibsel nicht erst der Nazi-Erziehung war die Existenz eines inneren Schweinehundes in jedem Menschen, den es zu überwinden galt.

Dieser innere Schweinehund ist ein zusammenfassendes Synonym für Bequemlichkeit, Trägheit, Faulheit. Nur durch Selbstüberwindung hart Erkämpftes, ähnlich wie das ursprüngliche Verständnis vom Dschihad, hat einen Wert. Je härter umso glorreicher! Redewendungen wie „Du machst es dir leicht!“ oder „Du gehst den Weg des geringsten Widerstandes!“, sind auch heute noch negativ konnotiert.

Sportkleidung ja, aber Sport lieber nicht!
Neue Keilhosen okay! Aber Schifahren?!
Den inneren Schweinehund überwinden!

Ausgerechnet dieser innere Schweinehund im Hinblick auf Körperertüchtigung war mir persönlich lieb und teuer und ich sah keinen Grund, warum ich ihn hätte überwinden sollen.

Ich hörte oder las immer schon gern Geschichten, schlief gern lang und aß noch viel lieber Leckereien. Ich verspürte keinen brennenden Wunsch nach dem neuesten Roller, Fahrrad, nach Skiern und anderen Sportgeräten. Viel lieber war ich mit Kindern am Spielen, wozu Schlittschuh- und Rollschuhfahren aus Spaß durchaus gehörten, oder saß bei einer meiner Großmütter und hörte Geschichten von früher oder übte mich neben meinem Postkarten abmalenden Großvater ebenfalls in der Malerei.

Dennoch bekam ich all die Neuerscheinungen aus der Welt des Sports, weil das für meinen Vater wichtig war und er davon ausging, dass es mich auch glücklich machen müsse.

Ich wollte aber nur Spaß haben und träumen. Basta! Elendiglich schwitzen und mich körperlich fürchterlich anstrengen war nix für mich.

Trotzdem habe ich schwimmen schon früh gelernt, eigentlich an einem Sonntagnachmittag in dem Flüsschen Regen. Mein Vater hat mir im seichten Wasser stehend durchaus liebevoll gezeigt, wie die Bewegungen gehen, die einen über Wasser halten, und dann warf er mich rein. Ich ging mit weit aufgerissenen Augen erst einmal unter, wurde dankenswerterweise herausgeholt, wieder zu Wasser gelassen und am Ende des Tages konnte ich schwimmen. Der innere Schweinehund, den ich zu Beginn des Lernens meinem Vater zuliebe überwunden hatte, machte mir dann nicht mehr zu schaffen. Mich genüsslich im Wasser zu tummeln, zu tauchen und zu spielen, passte zu mir. Als ich in Wettkämpfen schwimmen sollte, war ich aber nicht mehr dabei. Training und Bahnen schwimmen langweilten mich. Aus!

Es fehlte mir an Ehrgeiz, ich hatte keinen Biss. Es machte meinen Vater wahnsinnig, denn in seinen Augen hätte ich schon gekonnt, wenn ich nur gewollt hätte.

Zeitweise war die Sportbegeisterung meines Vaters für mich und meinen inneren Schweinehund eine gefürchtete Erscheinung.

Bergwandern gehörte nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
Meine Einstellung zum Wandern kann man meinem Gesichtsausdruck entnehmen.

Beispielsweise hatte mein Vater eine zeitlang die fixe Idee, dass das Wandern im Wald mit dem Beobachten von Waldtieren auch eine gute Sache sei und zur Allgemeinbildung sowie zur körperlichen Ertüchtigung beitrage. Also wurden Wanderschuhe, Rucksäcke und Regenjacken sowie zwei Ferngläser angeschafft, ein kleines für mich und ein großes für ihn und meine Mutter. Dieses förstermäßige Engagement bedeutete, dass wir Sonntag morgens vor der Dämmerung, was im Sommer 4 Uhr bedeutete, aufstehen mussten, weil die Waldtiere auch so einen wahnsinnigen Biorhythmus hätten. Wir schlichen durch die Wälder, legten uns auf die Lauer oder saßen auf den Hochsitzen und starrten auf die Lichtungen. Wo ich stand, saß oder lag bestand den ganzen Sonntag über die Gefahr, dass ich einschlief. Was für eine Quälerei!

Oder wir mussten im Winter um 5 Uhr aufstehen, um die Ersten am Schilift in Sankt Englmar zu sein, denn unsere Familie hatte das Schifahren entdeckt. Was beim Schwimmen noch geklappt hatte, konnte beim Schifahren leider nicht wiederholt werden. Ich war an meine sportlichen Grenzen gekommen. Und so pflügte ich mehr oder weniger erfolgreich den Idiotenhügel hinunter. Ich habe das frühe Aufstehen gehasst, war den ganzen Tag müde und musste dann auch noch meine nicht vorhandene Sportlichkeit unter Beweis stellen. „Stell dich nicht so an! Reiß dich zam!“, waren die Aufforderungen, die mich motivieren sollten und außerdem ging es den ganzen Tag um diesen verdammten inneren Schweinehund, den es zu überwinden galt. Ja wieso denn bloß?!

Meine Mutter, die ja durchaus dem Idealbild einer sportlichen Frau nacheifern wollte, konzentrierte sich aber mehr auf das Bild als auf die Perfektionierung des Sports. Sie trug mit großem Selbstbewusstsein ihre schicken Sportklamotten und sah gut darin aus. Das war doch schon mal was.

Bis heute hege ich eine tiefe Abneigung gegen sportliche Herausforderungen, die nicht in erster Linie mit Genuss verbunden sind.

Ich liebe dagegen gemütliches Radfahren in schöner Landschaft mit dem Ziel Biergarten; Schifahren bei schönem Wetter auf einer fast leeren Piste und erst ab dem späten Vormittag, wenn’s wärmer ist; Schwimmen gehen, wo es schön ist und Geselligkeit mit einem Picknick im Vordergrund steht; Bergsteigen von höchstens einer Stunde mit einer bewirtschafteten Hütte als Ziel; Golfen ohne Wettkampf; alle Arten von Ballspielen, bei denen viel gelacht wird und keiner übermäßigen Ehrgeiz entwickelt usw.. All das geht. Quälerei und das Überwinden des inneren Schweinehundes geht gar nicht.

Und noch ein weiterer Glaubenssatz bzw. eine weitere gängige Überzeugung machte mir als Kind zu schaffen.

Man kann alles lernen, wenn man nur will!

Diese Einstellung führte natürlich dazu, dass man eigentlich immer selbst schuld war, wenn man etwas nicht konnte, weil man es ja nicht hatte lernen wollen.

In meiner Familie bezog sich dieses Lernenwollen nicht so sehr auf schulische Leistungen. Meine Eltern erwarteten hier nur Durchschnittliches. Im Fokus ihrer Erziehungsziele stand die Entwicklung lebenspraktischer Fähigkeiten.

Bei mir war es nicht nur die Sportlichkeit, sondern meine ganze Persönlichkeit, die eigentlich hätte verändert werden sollen.

Als harmoniebedürftiges Kind setzte ich mich nicht durch, sondern gab stets nach, teilte gern meine Besitztümer, auch zu meinem Nachteil, mit anderen und stand Schikanen hilflos gegenüber.

Mein Vater redete oft, gern und lange auf mich ein, dass ich lernen müsse, mich durchzusetzen und mich zu wehren. Er wollte mir Verhaltensstrategien beibringen, die mich zu einer wehrhaften Amazone im Hinterhof machen sollten. Fünf Mark wäre es ihm wert gewesen, wenn ich den bösen Jungs eine reingehauen hätte.

Vergeblich! Ich blieb lieb und hilflos und eine Enttäuschung für meinen Vater. Ein unsportliches, gutmütiges, verträumtes, etwas dickliches Kind!

Hatte ich überhaupt ausbaufähige Fähigkeiten in den Augen meiner Eltern?

Das, was ich vielleicht gekonnt und auch gern gemacht hätte, wurde in ihrer Vorstellungswelt nicht als Können verstanden.

Ich erinnere mich noch beispielsweise, dass mein Lehrer in der 5. oder 6. Klasse meine Eltern auf meine Aufsätze aufmerksam machte, die ihm besonders literarisch erschienen oder außergewöhnlich phantasievoll. Schreiben und lesen und mir Geschichten ausdenken, also träumen, waren Lieblingsbeschäftigungen für mich.

Ich habe von meinem Taschengeld immer wieder neue Kladden gekauft, in die ich Gedichte und Texte schrieb, die ich dann wieder verwarf. Da keine Förderung und Würdigung stattfand, verlief sich mein Engagement im Sand. Auch beim Malen blieb ich natürlich auf dilettantischem Niveau stehen, denn kein Kurs oder Ähnliches sorgte dafür, dass ich Handwerkliches hätte erlernen können. In Sachen Sport wäre ich sofort gefördert worden. Und wie!

Schon als Kind stand ich gern auf der Bühne. Als Erwachsene war ich begeisterte Regieassistentin und Bühnenfotografin.

Auch beim Theaterspielen brauchte ich keinen inneren Schweinehund zu überwinden. Proben, ständige Wiederholungen, Lampenfieber, auf der Bühne zu stehen, all das genoss ich. Ich bin ganz eindeutig eine sogenannte Rampensau (jemand der gern im Scheinwerferlicht steht). Als Jugendliche habe ich mir sogar vor lauter Hingabe an meine Rolle das Steißbein ruiniert. Ich ließ mich, um meine Überraschung bühnenmäßig zum Ausdruck zu bringen, vom Stand auf den Hintern plumpsen. Und das mehrmals, bei jeder Probe mit Kissen, bei jeder Vorstellung ohne Kissen.

Die Anforderung an eine gute Erziehung hieß, dass man dem Kind die richtigen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen beibrachte, einbläute, antrainierte…eben in dieses unfertige Wesen hineinpresste. Manche Kinder passten in die Vorstellungen ihrer Familien und ihrer Zeit und für die war diese Erziehung förderlich. Aber wehe, wenn nicht! Wer andere Träume hatte, wurde belächelt, desillusioniert, verunsichert und blieb sehr einsam.

Ich ging wahnsinnig gern ins Kino, natürlich mit Oma, und vielleicht ein- zweimal gab`s eine Kindervorstellung im Theater. Beeindruckend! Inspirierend! Eine phantastische Welt! Wochenlang spann ich die Geschichten weiter, veränderte sie, versetzte mich in bestimmte Charaktere.

Ein Kind mit zu viel Phantasie halt!

Aber mit diesen meinen Talenten und Interessen konnten meine Eltern nichts anfangen. Es wäre ihnen im Traum nicht eingefallen, dass hier förderungswürdiges Potential vorliegen könnte. Bildungsferne Familie? Zeitgeist?

Wenn ich daran denke, welche Fördermöglichkeiten es in den 80er und 90er Jahren für meinen ebenfalls musisch begabten und interessierten Sohn gab, auf welche niederschwelligen Angebote die Kinder und Jugendlichen heute zugreifen könnten, und wie wenig es davon in meiner Kindheit gab, dann werden die unterschiedlichen Prioritäten in der Erziehung klar. Musisches war für die breite Masse in der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren nicht vorgesehen, das war ein Privileg für gehobenere Schichten. In der DDR war das anders. Aber darüber können andere erzählen.

Die Erwachsenen meines Milieus und generell der 50er, 60er Jahre in meinem Heimatland waren nicht darauf bedacht, sich in Kinder hineinzuversetzen, denn da gab es nichts Bedeutendes und Unveränderbares zu entdecken.

Es muss nicht körperliche Gewalt sein, die einen später blockiert bei der Suche nach den eigenen Fähigkeiten und eigenen Zielen. Wenn man ständig Erwartungen enttäuscht oder Leistungen, Fähigkeiten und Talente nicht gewürdigt oder gar gefördert werden, dann ist das auch nicht gerade hilfreich. Man verliert den Glauben an sich selbst.

Was wurde aus mir?

Tatsächlich kämpfte ich gegen den Willen meiner Familie um eine höhere Schulbildung und studierte Germanistik, Politik und Geschichte. Nicht gerade Fächer, die meine Eltern für besonders beeindruckend hielten. Ich vermittelte aber nicht nur Literatur in Schulen als Lehrerin, sondern verfasste ein Leben lang Texte, entweder nur für mich oder als Zeitungstexte, manchmal als PR-Texte und immer wieder als Erzählungen für meine Schülerinnen und Schüler. Mit all dem habe ich jahrelang meinen Lebensunterhalt verdient.

Und als ich die Gelegenheit dazu bekam, lernte ich Regieassistenz bei einem Regisseur, der mit Laien arbeitete. Natürlich unentgeltlich, aber voller Hingabe und fasziniert von dieser Gestaltungsaufgabe.

Ich habe analytische Fähigkeiten entwickelt, die ständig zu neuen Ideen führen. Und ich liebe Bildhaftigkeit im Ausdruck, ich umgebe mich mit spannenden Fotografien und entdecke in Bilderausstellungen Inspirierendes. Selbst meine jahrzehntelange Beschäftigung mit Astrologie ist auf meine Vorliebe für Bildhaftigkeit, Charaktere und deren Geschichten und Analyse zurückzuführen.

Im Grund habe ich aus meinen Anlagen, die als solche in meiner Kindheit nicht gefördert wurden, durchaus etwas gemacht. Aber das nötige Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, um Ehrgeiz und Biss zu entwickeln, hatte ich nie.

Lange, eigentlich bis heute, suche ich nach meinem Weg, meiner Bestimmung. Ich habe das Gefühl, meine Sicht auf mich selbst ist durch einen Schleier sehr verschwommen.

Ich persönlich habe spät ein sehr labiles Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten entwickelt. Die Verunsicherung ist immer größer als der Erfolg.

Und selbstverständlich fühle ich mich immer noch schuldig, wenn ich etwas nicht kann, denn es bedeutet ja, dass ich eigentlich bloß nicht will. Logischerweise habe ich dann auch Hemmungen, Hilfe zu suchen und anzunehmen.

Was mich aber im Alter sehr berührt hat, war, dass mein ach so sportbegeisterter Vater als alter Mann seine künstlerische, musische Seite entdeckte und wir sogar gemeinsam kleine Kunstwerke schufen. Sogar der klassischen Musik war er sehr zugetan und manchmal lasen wir dieselben Bücher. Diese Seite hatte in seiner Jugendzeit auch keine Chance gehabt.

Ich fühlte mich durch diese Erfahrung ein wenig rehabilitiert.

Vergleich mit heute

Die Sicht auf das Kind in den 50er Jahren war von der Notwendigkeit des Erziehens beherrscht. Man hat fast den Eindruck, dass die Erwachsenen glaubten, in jedem Kind stecke ein kleiner Teufel, den es auszutreiben gelte. Und selbst wenn man ein kleines Engelchen vor sich hatte, dann musste man dieses Wesen abhärten, um es lebenstüchtig zu machen.

Die Gefahr, dass ein Kind falsche Wege einschlug, war allgegenwärtig. Da musste man prophylaktisch gegensteuern. Keine Frage!

Kinder waren im Grunde faul und zu verspielt. Sie hatten bestenfalls zu viel Phantasie und schlechtestenfalls logen sie das Blaue vom Himmel herunter. Manche tricksten und wieder andere waren zu verträumt, unfreiwillig witzig und tollpatschig bis gänzlich ungeschickt oder talentlos. Diese Unebenheiten mussten durch Erziehung geglättet werden, wenn man wertvolle Mitglieder der Gesellschaft erschaffen wollte. Der Charakter und die spätere Persönlichkeit sollten anerzogen werden mit durchaus recht unterschiedlichen Mitteln. Ziel war es, den sogenannten anpassungswilligen und unkritischen mündigen Bürger zu formen. Der Widersprüchlichkeit war man sich lange nicht bewusst, bis die Jugend Ende der 60er Jahre begann aufzustehen und zu protestieren, bis Reformpädagogen andere Zielsetzungen und Methoden erprobten und für meine Generation „summerhill“ zum Ideal aller Er- und Beziehung wurde.

Heute, in den 2020er Jahren, wird die Erziehungsaufgabe meist komplett anders verstanden. Eltern und Schule sollten sich bemühen, das Potential im Kind zu entdecken und „herauszu(er)ziehen“, also sichtbar zu machen und zu fördern. Soweit die Theorie.

Ob das Prinzip „Nürnberger Trichter“, nämlich Schüler mit Unmengen von Wissen abzufüllen, wirklich überwunden ist, wage ich zu bezweifeln, aber zumindest ist das förderungswürdige Spektrum umfangreicher als in den 50er und 60er Jahren. In den Schulen bemüht man sich durchaus, Fähigkeiten zu fördern und Grenzen zu erkennen und damit konstruktiv umzugehen.

Für Kinder aus bildungsfernen Familien und aus dem Prekariat (Schichten am Rand der Gesellschaft) hat sich aber, so meine Erfahrung, nicht viel geändert. In den meisten Fällen ist die Einstellung und Vorstellung der Familie, was aus dem Kind werden soll und kann, entscheidend.

Während die einen mit dem Stallgeruch der Elite wuchern können, bewegen sich die anderen in der begrenzten Welt eines von Resignation geprägten Milieus. Nach den Sternen greifen nur die einen. Die Schere im Kopf haben die anderen.

Deine Erfahrungen? Deine Sicht?

Dies sind meine Erfahrungen mit den Glaubenssätzen meiner Kindheit, meines Milieus in meinem Heimatland. Aber es wäre natürlich sehr interessant von anderen Erfahrungen zu hören und zu lesen. Auch spätere Generationen sind als Kinder gewissen Selbstverständlichkeiten ausgesetzt gewesen, die vermutlich von dem abweichen, was ich erlebt habe. Oder sollte sich gar nicht so viel geändert haben?! (TA)

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