Das Phänomen
- anon
- 20. Nov. 2022
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Juni 2023
(DE) Wenn man Mitte der 60er Jahre von Deutschland nach Italien fuhr, dann gab es da keine breit angelegte Autobahn. Nein, man fuhr mehr oder weniger gemütlich auf ganz normalen Straßen, durch pittoreske Ortschaften der Poebene und zwischen Feldern und Wiesen.
Ab und zu hinderte eine Bahnschranke die Reisenden am Weiterfahren. Und es war Italien erfahrenen Autofahrern bekannt, dass italienische Bahnwärter ein hohes Sicherheitsbedürfnis hatten, denn sie ließen die Schranken bereits herunter, als der Zug noch mindestens eine halbe Stunde entfernt war.
Zuerst ließen wir Deutschen den Motor noch laufen, dann schlossen wir uns den Einheimischen an und schalteten ihn ab, schwitzten jedoch im Auto weiter. Schließlich nahmen wir uns auch hinsichtlich der allgemein an den Tag gelegten Gelassenheit ein Beispiel an den Italienern und stiegen aus, mischten uns unter die Leute und kamen ins Gespräch, naja, mehr ins Kauderwelschen. Man tauschte Lächeln, Gesten und manchmal auch Leckereien aus. Also meist bekamen wir etwas von der Brotzeit ab, die italienische Autofahrer wohl genau zu dem Zweck des Stops am Bahnübergang, der ewig dauern konnte, mit sich führten.
Wenn dann gefühlte Stunden später endlich der Zug durchrauschte, schlenderten wir auch lässig (das ist das alte Wort für cool) zu unserem Auto, setzten uns hinein und unseren Weg nach Rimini fort. Selbstverständlich wartete der Bahnwärter auch nach der Durchfahrt des Zuges noch einige längere Minuten ab, bis er die Bahnschranke öffnete. Womöglich kommen Züge in Italien übermütig wieder zurück und defilieren nochmals an den Autos vorbei. Durchaus denkbar.
Immer wieder kam es jedoch vor, dass selbst der Bahnwärter die Geduld verlor und mitten in der Warterei sein Klingelspiel in Gang setzte, die Schranke hoch kurbelte und die Wartenden mit Gesten und einem etwas schelmischen Grinsen zur Bahngleisüberquerung animierte. Dann war aber Schluss mit lässig und alle Nationalitäten spurteten schnell zu ihren Autos und machten sich vom Acker.
Und bei so einer Gelegenheit wurde ich, ca. 10 Jahre alt, vorübergehend unsichtbar.
Wir waren ins Auto gesprungen und abgedüst. Nach etlichen Kilometern stieß meine Mutter, die auf dem Beifahrersitz saß, einen markerschütternden Schrei aus. „Kehr um! Sofort! Wir haben Tanja vergessen!“ Mein Vater stieg auf die Bremse und fuhr an den Straßenrand. Entsetzen breitete sich im Auto aus. Auch ich war fassungslos, obwohl ich brav auf meinem Platz auf der Rückbank saß. „Ja wo gibt’s denn sowas! Eltern vergessen ihr Kind irgendwo in der Fremde! Dabei bin ich ein Einzelkind und da sollten Erwachsene schon den Überblick behalten können!“ Es dauerte eine Weile, bis ich diesen Schock überwunden hatte und schließlich zur Aufklärung beitragen konnte. „Ich bin doch da.“ Erstaunt wandten sich meine Eltern um und fragten allen Ernstes, wo ich denn nun herkäme. Diese Frage konnte und wollte ich nicht wirklich beantworten.
Das war meine erste bewusste Begegnung mit dem Phänomen meiner zeitweiligen Unsichtbarkeit.

Unzählige Male in meinem Leben haben Kellnerinnen und Kellner meine Bestellung vergessen. Oft haben Gruppen, mit denen ich verabredet war, übersehen, dass ich fehlte und sind losgegangen oder -gefahren. Und ich bin immer pünktlich. Ich werde deshalb niemals zornig, beklage mich niemals lauthals, tobe innerlich und überlege, was ich falsch gemacht habe.
Wieviel darf ich sein?
Manchmal war ich auch sichtbar, aber als eine ganz andere als die, für die ich mich hielt. Eine recht absurde Anekdote ereignete sich zur Faschingszeit irgendwann Mitte der 80er Jahre. Zu dieser Zeit war ich eine in einer bayerischen Kleinstadt mit dem dazugehörigen Landkreis relativ bekannte Redakteurin eines wöchentlich erscheinenden Anzeigenblattes. Über einige Wochen hinweg hatte ich mit meinen Artikeln eine Großveranstaltung beworben, die erstmals in der Region den Weiberfasching am Faschingsdonnerstag so richtig institutionalisieren sollte. Es galt, gemeinsam mit dem örtlichen Sportverband, eine neue Tradition zu gründen.
Tatsächlich war die Veranstaltung gänzlich ausverkauft, das Programm stand, die Honoratioren kamen in Scharen und überhaupt war die Stimmung faschingsmäßig ausgelassen und der Weiberfasching in aller Munde.
Ich bin eigentlich ein Faschingsmuffel, aber da ich durch meine Öffentlichkeitsarbeit wesentlich am Erfolg dieses Events beteiligt war, verunstaltete ich mich faschingsmäßig und machte mich mit meinem Sohn, der eine Art Verlagsmaskottchen war, auf den Weg in die Redaktion. Als wir ankamen, waren die Büroräume leer. Die Vögel waren ausgeflogen, um sich in der nicht weit entfernten Festhalle niederzulassen. Na gut, eigentlich hatten wir vereinbart, dass sie auf uns warten sollten, dass wir gemeinsam losziehen und an einem Tisch sitzen würden, eben als Gruppe der Mitveranstalter und überhaupt als mein Freundeskreis, mit dem ich auch sonst oft etwas unternahm.
Enttäuscht, aber arglos stapften mein Cowboy-Sohn und ich mit den übrigen Besuchermassen zum Eingang. Dort wurde kontrolliert und siehe da, man verweigerte mir den Zutritt. Selbst als ich mich als Redakteurin der beteiligten Zeitung zu erkennen gab, beeindruckte das die Vertreter des Sportverbandes nicht. Ich ließ meinen Chef im Saal über das Problem informieren, was weder ihn noch die Kontrolleure in irgendeiner Form beunruhigte oder beeindruckte. Man bot mir an, mich in Gottes Namen halt einzulassen, aber meinen ca. 7-jährigen Sohn könne man nicht akzeptieren. Schließlich habe man beschlossen, keine Kinder zu dulden. Im selben Moment spurtete die Kinderturngruppe an mir vorbei in den Festsaal.
Da wurde mir klar, dass ich nicht die lokale Prominente war, für die ich mich gehalten hatte, sondern einfach nur eine unbotmäßige x-beliebige Teilnehmerin, die ein Recht auf Sonderbehandlung einforderte, das sie ganz offensichtlich nicht hatte. Auch hatte ich mich wohl in meiner Bedeutung für meinen Chef und meine befreundeten Kolleginnen und Kollegen getäuscht. Niemand rührte auch nur einen Finger, um mich und meinen Sohn, wie vereinbart, in den Saal zu holen.
Mein Sohn und ich trotteten also in unserer Verkleidung unverrichteter Dinge nach Hause. Ich war wütend über diese Ernüchterung und auch beschämt über meine Selbstüberschätzung.
Selbstverständlich wurde ich am nächsten Tag gefragt, wo ich denn gewesen sei und warum ich nicht erschienen wäre. Schließlich sollte mir der Faschingsorden verliehen werden, den nun ersatzweise eine Kollegin vom Sekretariat erhalten habe. Als ich meine Geschichte erzählte, war nur allgemeines Schulterzucken zu erkennen nach dem Motto: Ja wenn du dich so blöd anstellst!
Und es funktionierte. Ich war nicht mehr wütend auf die anderen, sondern auf mich. Ich war niemand Besonderes, nicht einmal in diesem kleinen Umfeld. Peinlich, denn ich hatte mich heimlich für wichtig und bedeutender gehalten. Wie konnte ich nur!
Jahrzehnte später lud man mich zur Abschiedsfeier meines ehemaligen Chefs ein und die Redakteurinnen, die ich noch nie gesehen hatte, begrüßten mich neugierig und mit dem Satz: Du bist eine Legende bei uns. An dir wird man gemessen.
Dieses Erlebnis ist kein großes Ereignis, keine Katastrophe oder Ähnliches, aber es zeigt ganz deutlich, dass meine Selbstwahrnehmung manchmal hakt.
Licht unter den Scheffel stellen
Es zeigt aber auch, dass ich mich nicht berechtigt fühle, menschliche Enttäuschungen auszudrücken, zum eigenen Status zu stehen und den entsprechenden Respekt einzufordern.
Demut und Bescheidenheit sind Werte, selbstbewusst forderndes Auftreten steht im Verdacht egoistischen Ursprungs zu sein. Das habe ich internalisiert, vielleicht auch falsch verstanden im Laufe meines Erziehungsprozesses.
Daher bekomme ich Schnappatmung und Herzrasen, wenn wieder einmal meine durchaus selbstbewusst kommunizierten Ideen, Konzepte, Arbeitsunterlagen und Kontakte wieder anderen Kolleginnen oder Kollegen zugeschrieben werden. Ich würge an dem Satz herum, „Das hab doch ich geschrieben, gesagt, vorgestellt geknüpft!“, als ginge es um Denunziation. Und wenn ich es dann doch über mich bringe und meine Urheberschaft beanspruche, dann heißt es oft genug: „Ach ja? Ist ja jetzt auch egal.“ Dem habe ich dann nichts entgegenzusetzen.
Es macht mich auch zu einer schlechten Chefin, denn ich kann Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weder Anweisungen erteilen, noch nicht erbrachte Leistungen anmahnen. Also bitte ich um die Ausführung von Aufgaben und wenn dies nicht erledigt wird, mache ich es selbst.
Im Kleinen wie im Großen fällt es mir schwer, für mich und meine Bedürfnisse einzustehen. So einem Verhalten haftet immer der Geruch des Egoismus, der unberechtigten Forderung an. Und das war und ist leider Gottes in meiner Psyche verpönt. Christliche Erziehung? Zeitgeist? Frauenbild?
Eigenlob stinkt!
Ein weiterer denkwürdiger Tag, an dem meine besondere Fähigkeit zur Unsichtbarkeit wieder so richtig zur Geltung kam, war im Februar gut 40 Jahre nach meinem Verschwinden am Bahnübergang.
Wieder einmal war ich dabei Job und Wohnort zu wechseln und weil ich das alle paar Jahre veranstaltete, war ich organisationsmäßig super erfahren. Dem Umzugsunternehmen teilte ich exakt alle Daten mit, um ihm die Wahl des Transportmittels zu erleichtern. Als der Umzugsunternehmer mir nach der Besichtigung einen Kleintransporter vorschlug, meldete ich begründete Zweifel an seiner Einschätzung an. Selbstverständlich erntete ich ein müdes Lächeln des Profis und das brachte er nicht einmal mir entgegen, sondern ließ meinen ebenfalls anwesenden Vater an seiner Überlegenheit teilhaben. Dieser ergriff sofort Partei für den Profi, meinte, ich solle ihn nur machen lassen, er wisse sicherlich, was wie zu tun sei. Mein Vater und der Umzugsunternehmer gaben sich im weiteren Gespräch nicht mehr mit der besserwisserischen Lehrerin, also mit mir, ab. Nebenbei gesagt, mein Beruf wurde bei solchen Gelegenheiten sehr gern zu meinem Nachteil benutzt. Die beiden Männer blieben kommunikationstechnisch unter sich.
Es kam, wie es kommen musste. Als am Umzugstag der Umzugswagen voll war, stand ein gutes Drittel meiner Sachen noch auf dem Bürgersteig vor dem Haus.
Die Herren haben geflucht wie die berühmt berüchtigten Fuhrknechte. Mein Vater wollte mit unerwünschten Ratschlägen die Situation retten, war aber nun nicht mehr der Kumpel mit dem unausgesprochenen Einvernehmen unter richtigen Männern, und ich stand unsichtbar und stumm dabei.
Eigentlich hätte ich gern gesagt, dass ich ja nun wohl recht gehabt hätte, dass ich halt nun mal viel Erfahrung mit dem Transport meiner Sachen hätte, dass ich die Zeitverzögerung ganz bestimmt nicht bezahlen würde usw..
Aber dazu wäre eine andere Erziehung notwendig gewesen. Keiner mag Besserwisser! Keiner mag diejenigen, die nachtarocken! Keiner mag diejenigen, die recht haben und auch noch darauf bestehen recht gehabt zu haben! Und sowieso gilt: Eigenlob stinkt! Noch schlimmer, wenn Frauen besser wissen, nachtarocken, recht haben, darauf bestehen recht gehabt zu haben und sich selbst loben vor Männern!
Ich konnte nur unsichtbar bleiben und meiner inneren Genugtuung frönen.
Dieses Prinzip sitzt tief und schlägt sich oft im Berufsleben ziemlich verunsichernd nieder. Ich denke, ich habe oft auf andere so gewirkt, als sei ich mir meiner Kompetenz nicht sicher. Dabei hatte ich nur Hemmungen, mich selbst als gut zu präsentieren. Meine Arbeit und meine Kompetenz zu loben, das sollten andere übernehmen. Das war dann viel sympathischer.
Hilf mir bloß nicht!
Eine Woche vor dem endgültigen Umzug von Regensburg nach München musste ich meinen Dienst an der Münchner Schule antreten und brauchte dazu für eine Woche einen gewissen Vorrat an Kleidung und Bücher. In Ermangelung eines Autos wollte ich diesen Miniumzug mit dem Zug bewerkstelligen. Ich packte also zwei Rollkoffer, die durch die unbedingt notwendige Anzahl von Schulbüchern natürlich recht schwer waren.
Mein lieber Vater und seine Frau besuchten mich noch, um sich von mir zu verabschieden. Freundlicherweise erkundigte sich mein Vater, ob ich noch Hilfe bräuchte. Naja, die Koffer seien schon schwer und mein Zug gehe in einer Stunde und wenn er mich zum Bahnhof…, klopfte ich vorsichtig an, in der Hoffnung, er würde mich zum Bahnhof fahren. „Also gut, wenn du nichts mehr brauchst, dann fahren wir jetzt heim. Mach’s gut! Bis nächste Woche!“, sprach`s und war dahin. Ich konnte das bewusste oder unbewusste Missverständnis nicht aufklären. Irgendwie wäre ich mir unverschämt vorgekommen. Und was, wenn er einfach nicht wollte?!
Also rollte ich durch die Regensburger Altstadt zum Bahnhof und gelangte dank meiner damaligen Fitness bis vor die Tür des Zuges nach München.
Bahnfahrer wissen, dass es bei manchen Zügen Einstiegsmöglichkeiten gibt, die einem Klettergarten alle Ehre machen würden. Vor so einem Zug stand ich mit meinen beiden Rollkoffern. Hinter mir versammelte sich mit der Zeit eine Gruppe von drei oder vier Männern im gestandenen Alter von bestimmt 50 Jahren. Ich mühte mich wie ein Bodybuilder am Gerät ab, meine Koffer die vermaledeiten Stufen hochzuhieven. Mit Schwung, ohne Schwung und Stufe für Stufe. Mal blieb ich auf halben Weg hängen, mal fiel mir das Ding auf die Füße. Da hörte ich die Männer hinter mir sagen: „Gehn mia zur andern Tür, des dauert z`lang.“
Ich hab’s alleine geschafft und war auch noch stolz darauf. Aber warum passiert mir das? Wie sehen mich die anderen eigentlich? Oder bin ich für das Bewusstsein anderer zeitweise einfach nicht sichtbar? Ich muss etwas ausstrahlen, das Menschen daran hindert, mir Hilfe angedeihen zu lassen oder ich strahle eben nichts aus, das wahrgenommen wird.
Hilf dir selbst, dann hilft dir niemand!
Ein weiteres Erlebnis wiederum Jahre später zeigt überspitzt, was ich meine.
Meine gleichaltrige Freundin und ich waren mit dem Zug auf Sizilien unterwegs. Jede von uns hatte, wie es bei Frauen Mitte fünfzig so üblich ist, einen ziemlich großen Koffer bei sich, den wir ganz gut rollen, aber nur schwer heben konnten.
So standen wir mit unseren Ungetümen nebeneinander am Fuße des Treppchens, das zur Zugtür führte und blickten etwas ratlos in die Höhe.
Meine Freundin umkreiste mehrfach ihren Koffer, blickte hier hin und da hin, umklammerte den Henkel des Koffers und ließ wieder los und machte überhaupt einen völlig verstörten Eindruck. Ich hingegen stand stoisch vor mich hin blickend neben meinem Koffer und überlegte, wie wir mit einer Kombination aus Heben und Rollen die Dinger nach oben befördern könnten.
Da stürzte ein kräftiger junger Mann aus der avisierten Zugtür, wandte sich charmant und hilfsbereit an meine Freundin, schnappte sich deren Koffer und schwang ihn nach oben in den Zug. Meine Freundin bedankte sich. Der junge Mann wehrte, wie es sich gehört, den Dank ab. Dies sei doch selbstverständlich und überhaupt. Und verschwand wieder im Zugabteil.
Ich stand immer noch neben meinem Koffer am Bahnsteig. Hatte er mir zeigen wollen, wie es ginge, wenn man könnte? Ich denke nicht. Er hat meine Bedürftigkeit einfach nicht wahrgenommen. Während meine Freundin nonverbale Signale aussandte, dass hilfreiche Geister willkommen wären, habe ich gedanklich an der Problemlösung gebastelt. Ich erwarte keine Unterstützung. Ich bin überrascht, wenn mir jemand Unterstützung angedeihen lassen möchte. Ich bin darauf fixiert, alles alleine lösen zu können und zu müssen. Und die Dinge, die ich nicht alleine bewerkstelligen kann, sind die Dinge, auf die ich halt verzichten muss. Jetzt ernsthaft? (TA)
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