Abschied vom Zeitgeist der Jugend – Begrüßung des Ichs
- lisaluger
- 20. Nov. 2022
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juli 2023
(DE/UK)
Leitbilder der Jugend die Entscheidungen im erwachsenen Leben beeinflussen
Ein Teenager zu werden, ist schwierig. Mit 13 passt man nirgendwo hinein. Man ist noch kein Erwachsener, noch nicht einmal ein junger Erwachsener, schon gar kein Kind mehr. Alles ist entweder wunderbar oder seltsam und nervig zugleich. Man hat mit gemischten Gefühlen zu kämpfen, weiß nicht, wie man sich verhalten oder welche Entscheidungen man treffen soll, was das Selbstwertgefühl nicht gerade fördert. Die Hormone laufen Amok und mit ihnen die Emotionen und Stimmungsschwankungen. Dies ist eine Zeit, in der Teenager sehr empfänglich für die Einflüsse um sie herum sind.
Musik schafft Wünsche und Träume
Meine Freundinnen und ich hörten laute Musik und ich trieb meine Eltern in den Wahnsinn, wenn ich Lieder wie “Twist and shout“ von den Beatles oder den Hit der Rolling Stones “Get off of my Cloud“ lauthals mitsang, besser gesagt inbrünstig brüllte. Verständnislos blickten sie auch auf ihre Tochter, wenn diese wild zu den Klängen von Wooly Bully tanzte. Bei der Erweiterung unseres Musikrepertoires scheuten wir auch nicht vor deutschen Schlagern zurück. Drafi Deutscher prägte mit seinem vielversprechenden Song „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“ unser Bild von Liebe und Glück. In die gleiche Kerbe schlug Semino Rosso mit “Dich gibt`s nur einmal für mich“ und auch “Du allein kannst mich verstehen“, gesungen von Peter Maffay, um nur einige zu nennen.
Diese Lieder vermittelten eine Botschaft, die wir verstanden und nur zu gern hören wollten:
Botschaft: Liebe und Glück für immer erwarten uns in der Zukunft.
Egal, dass diese Botschaft erheblich von der uns umgebenden Realität abwich, wir wollten daran glauben. Wenn wir erlebten, dass Eltern sich stritten oder sich sogar scheiden ließen, Beziehungen also häufig nicht im siebten Himmel verweilten, sondern sogar zerbrachen, wurde das als Versagen gewisser einzelner Erwachsener gesehen und nicht als Normalität.
Die Botschaft der Musik blieb haften und schuf Bilder, Vorstellungen, Träume und Wünsche. Wir waren auf dem Weg ins Leben, auf der Suche nach nie endender Liebe und ewigem Glück und, speziell wir Mädchen, nach Mister Perfect.
Konfrontation mit der Realität
Ich suchte lange und intensiv. Der erste Kuss, der zu tiefer Liebe führen sollte, verging wie die Liebe. Als die erste Beziehung endete, war ich am Boden zerstört und dachte, das Leben könne nicht weitergehen. Natürlich lernt man schnell: Das Leben geht weiter, man steht auf, klopft den Staub ab und macht weiter mit der Suche nach Liebe und Glück. Allerdings wurden die Liebe und Glück verheißenden Lieder mit der Zeit etwas schal.
Ab einem bestimmten Punkt hörte ich lieber die bitteren, ironischen Lieder von Hildegard Knef, die ein realistischeres Bild vom Leben zeichneten. Sie schilderten die Liebe als sehr kompliziert, nicht leicht zu erreichen und sehr zerbrechlich. Sie sang vom ständigen Ver- und Entlieben. Sei darauf gefasst, dass Menschen möglicherweise lügen und betrügen, warnte sie. Und sie erzählte davon, dass Menschen weiterlieben, obwohl sie wissen, dass ihre Liebe nicht erwidert wird oder sie betrogen werden. Eines ihrer Lieder kommt mir in den Sinn: „Eins und eins das macht zwei, ein Herz ist immer dabei und wenn du Glück hast, dann sind es zwei…“, in einem anderen Lied heisst es „ … Und das Schloss, von dem er sprach, war ein Vorhängeschloss von dem Keller in dem er sich erschoss.“
Wau. Hier gab`s eine tiefere Geschichte. Leid, Enttäuschung, Sarkasmus waren offenbar auch eine Ausprägung des Lebens, und zeigten ein dunkles Bild statt dem üblichen Rosa. Ich war fasziniert. Dennoch dachte ich immer noch, dass mir das nicht passieren würde. Ich würde es schaffen, die wahre Liebe zu finden.
Filme produzieren Wunschwelten
Hildegard Knef war auch eine bekannte Schauspielerin, berühmt geworden durch einen recht umstrittenen Film aus dem Jahr 1951 mit dem Titel „Die Sünderin“. Sie spielt darin eine Prostituierte, die ihrem schwer kranken Freund, einem Maler, helfen will. Nach einer kurzen glücklichen Zeit, kehrt die Krankheit zurück und sie unterstützt ihn beim Suizid. Danach begeht auch sie Selbstmord. Wie in ganz Deutschland, so auch in Bayern, löste der Film einen Sturm von Protesten aus. Dies lag nicht nur daran, dass Hildegard Knef kurz ihre Brüste zeigte, sondern vielmehr daran, dass Tabuthemen wie Prostitution, Selbstmord und Sterbehilfe aufgegriffen wurden. In Heimatfilmen kam so etwas nicht vor. In vielen Städten und Gemeinden wurde der Film verboten.
Einige Kinos widersetzten sich dem Verbot und zeigten den Film. So auch in meiner Heimatstadt Regensburg. An einem kalten Februarabend des Jahres 1951 geschah das in der Nachkriegszeit Unglaubliche. Mehrere tausend Menschen kamen, einige hundert, um gegen den Film zu protestieren, die meisten aber, um gegen das Verbot und für die im nagelneuen Grundgesetz verbürgte Freiheit der Kunst zu protestieren. Regensburg geriet fast in einen Bürgerkrieg. Die Menschen warfen Stinkbomben und beleidigten Bischof und Klerus. Gut gemacht, Regensburger! Aber das war noch vor meiner Zeit und dennoch bin ich stolz auf die damaligen „Freiheitskämpfer“ in der ansonsten erzkonservativen Stadt.
Der Film „Die Sünderin“ war für einige ein willkommener Kontrast zu den lieblichen, Schmalz triefenden, anspruchslosen und romantisierenden Heimatfilmen wie beispielsweise „Im weißen Rössl am Wolfgangsee“ oder die Sissi-Trilogie .
In den 50er und 60er Jahren liebten die Menschen in Deutschland sogenannte Heimatfilme. Die Filmindustrie produzierte massenhaft solche Filme. Man nehme eine herrliche Landschaft, die in Deutschland ja reichlich vorhanden ist. Dort siedle man idyllische Dörfer und Städtchen an. Es gibt ganz klar gute und böse Menschen, Grantige, mit dem guten Herzen, einen üblen Intriganten, treuherzige Kinder oder wahlweise Hunde oder beides. Über einen Konflikt siegt am Ende die wahre Liebe.
Die Menschen strömten in die Kinos, um sich von der Vergangenheit, von der Nachkriegsrealität zerstörter Familien und Städte abzulenken. Eine alternative Welt der Harmonie, der unpolitischen Liebe zum Land und der Träume vom kleinen Glück, verdrängte die Erinnerung an die schändliche Geschichte des Krieges und des Nationalsozialismus. Es gab nur wenig Filme, die diese Verdrängungsmechanismen, Schuld und Straffreiheit der faschistischen Täter sowie gesellschaftliche Doppelmoral thematisierten. Die Masse der Deutschen wollte träumen und an Wunder glauben und nicht über wirtschaftliche, politische, militärische und gesellschaftliche Probleme, die es zuhauf gab, nachdenken.
Widersprüchliche Botschaften an die Jugend
Bei all diesen widersprüchlichen Botschaften ist es kein Wunder, dass die Suche nach Glück im Leben und in der Liebe so kompliziert und mühsam für die Nachkriegsgeneration wurde. Es gab die Vorstellungen aus einer anderen Zeit, es gab rigide Moralvorstellungen und es gab den Traum von Liebe, Glück und Geborgenheit in Ehe und Familie. Und es gab die Realität, die diese Vorstellungen durchkreuzte.
Die Suche des Lebens

Was mich betrifft, so suchte ich intensiv und ausdauernd, konnte aber den Richtigen, den für mich bestimmten Mr. Perfekt nicht finden. Wie Frauen das immer tun, zweifelte ich an mir selbst. Ich vermutete, ich sei eventuell nicht hübsch genug, zu burschikos, nicht dem Idealbild eines Mädchens entsprechend usw.. Tatsächlich wusste ich nie wirklich, wie ein Mädchen zu sein hatte oder sich verhalten sollte.
Ich verstand mich gut mit Jungen, aber als Freunde, nicht mehr. Sie akzeptierten mich als ebenbürtig, wir hatten gute Gespräche und machten tolle Sachen zusammen, aber wenn es darum ging, eine Liebespartnerin zu finden, wählten sie immer jemand anderen: ein weibliches Wesen, das mädchenhafter war, mit langen Haaren und mit einer Art, die ich offensichtlich nicht drauf hatte, aber auch nicht verstand, so dass ich sie nicht nachahmen und in meine Persönlichkeit integrieren konnte.
Dennoch fuhr ich mit meiner Suche nach meiner einzig großen wahren Liebe fort. Sie glich der Suche nach einem Märchenprinzen, in der Hoffnung, er würde kommen, mich in seinen starken Armen tragen und mein Leben zum Himmel auf Erden machen, alle Probleme für mich lösen, mir helfen, in meiner Karriere voranzukommen usw. usw.
Dieser Traum entsprach dem Frauen- und Männerbild, dem Rollenverständnis der 50er und 60er Jahre, vielleicht auch noch länger.
Dazu fällt mir das Märchen vom Froschkönig ein, in dem ein Frosch die Prinzessin bittet, ihn zu küssen, da nur ihr Kuss den Zauber, der auf ihm liegt, aufheben und ihn wieder in den schönen Prinzen verwandeln kann, der er einst war. Ich könnte sagen, ich habe in meinem Leben viele Frösche geküsst, aber keiner von ihnen verwandelte sich in einen schönen Prinzen. Es wäre allerdings nicht fair, das so generell zu sagen. Im Laufe der Jahre traf ich gute Jungs und gute Männer und wir hatten gute Zeiten zusammen, einige kürzer, einige länger. Nach einer Weile klappte es jedoch einfach nicht mehr und wir trennten uns aus irgendeinem Grund.
Umdenken ist angesagt

Anfang der 80er an der Universität, als wir wieder einmal über das Leben und unsere Bestimmung darin diskutierten, schenkte mir einer meiner Freunde eine Kopie eines Gedichts mit dem Titel
„Der Märchenprinz“.
Es handelt von der Suche einer Frau nach ihrem Märchenprinzen. Sie kann ihn nicht finden und am Ende erkennt sie, dass es ihn nicht gibt. Ihr eröffnet sich eine andere Perspektive. Wenn man glücklich werden will, muss man selbst etwas tun, aktiv werden und sein Leben verändern.
Das Gedicht endet: Vielleicht begreifst du dann, dass du die Märchenprinzessin bist.
Dieses Gedicht hat mich sehr beeindruckt. Wenn dies der Fall war, dann musste ich all das, was ich von einem Mann, Geliebten, Partner usw. erwartete, selbst in die Hand nehmen, Verantwortung übernehmen, Veränderungen und Entscheidungen treffen, um dorthin zu gelangen, wo ich sein wollte.
Doch dabei gab es noch ein anderes Problem. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte und was ich mit meinem Leben anfangen wollte, abgesehen von der Suche nach dem Märchenprinzen.
Ich beschloss, mich auf meine berufliche Entwicklung zu konzentrieren. Aber das Muster war noch nicht durchbrochen: Wenn es doch nur jemanden, möglichst einen blitzgescheiten, lebenserfahrenen, anerkannten männlichen Kollegen oder Vorgesetzten gäbe, der mir sagen könnte, was ich tun, wohin ich gehen und was ich sagen sollte. Jemand, der weiser ist als ich, jemand, der Verbindungen hat, die mir weiterhelfen können.
Auf der Suche nach Karriere und Unabhängigkeit

Auf meinem Berufsweg begegnete ich vielen Menschen. Einige waren hilfreich, die meisten jedoch waren wie ich auf der Suche oder erwarteten von mir, dass ich ihnen helfen würde, und benutzten mich als Unterstützerin ihrer beruflichen Entwicklungen.
Es war ein langer und harter Selbstfindungsprozess, der mich dazu brachte, nach England zu gehen, einen Master in Public Health zu machen, einen Neuanfang in einem anderen Land zu wagen, in einem anderen Bereich zu arbeiten, zum Beispiel in der Forschung und als Dozentin an der Universität. Langsam kam ich aus eigenen Kräften vorwärts, wobei ich auch Phasen der Arbeitslosigkeit und befristeter Beratungsarbeit durchzustehen hatte.
Unverhofft kommt oft
Dann geschah etwas Unerwartetes im Privatleben: Bei einem Salsa-Tanzkurs, den ich mir selbst verschrieben hatte, nur um mich aufzuheitern, wurde ich eines Abends von einem temperamentvoll agierenden Tanzpaar ausgeknockt und ging fast zu Boden. Aber da sprang, wie aus dem Nichts, ein gut aussehender Mann herbei, fing mich auf und bot mir einen Drink an. Wir plauderten und stellten fest, dass wir viele Gemeinsamkeiten hatten, wie zum Beispiel die Liebe zur Musik, zur Fotografie, zum Reisen, um nur einige zu nennen. Dieser so hilfsbereite Mann wurde zu einem festen Bestandteil meines Lebens. Er war so anders als meine anderen Partner. Er war nicht besessen von seiner eigenen Karriere, sondern sehr interessiert an dem, was ich tat. Er unterstützte mich handfest bei jeder noch so seltsamen Idee, die mir einfiel. Als ich damit rang, all mein Selbstvertrauen aufzubieten, um meine Vorstellungen zu verwirklichen und meine Ziele zu erreichen, glaubte er einfach an mich.
Okay, ich musste die Arbeit schon selbst erledigen, die Forschung, das Studium, das Schreiben, aber er war da, im Hintergrund, und unterstützte mich. Wenn ich, wie so oft, spät von einem langen Tag an der Universität nach Hause kam, wartete ein Abendessen auf mich. Als ich mich für die idiotische Idee entschied, neben meinem anspruchsvollen Job an der Universität als Programmdirektorin meine Doktorarbeit zu schreiben, war er an meiner Seite. Er übernahm mehr Aufgaben im Haushalt, so dass ich abends und an den Wochenenden freie Zeit für mein Studium hatte. Als englischer Muttersprachler redigierte er die verschiedenen Versionen meiner umfangreichen Doktorarbeit. Ich schulde ihm immer noch eine Reise nach New York, die ich ihm für die ganze Editionsarbeit versprochen hatte. Wir hatten einfach noch nicht die Zeit dafür. Mittlerweile haben wir geheiratet, im Urlaub in Afrika nach einer Safari, nur wir beide mit unserem Taxifahrer als Zeugen.
Du fragst dich vielleicht, ob er doch der Märchenprinz ist. Nein, das denke ich nicht. Im Endeffekt waren es meine Entscheidungen, meine Fähigkeiten, meine Ideen und mein Engagement sowie mein Arbeitseinsatz und der war hoch. Ich habe es aus eigener Kraft geschafft, dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin. Aber sein Beitrag war wesentlich. Ohne seine Unterstützung wäre alles viel schwieriger gewesen. Ich hätte vielleicht nicht das Selbstvertrauen und die Motivation gefunden anzufangen oder nicht die Kraft gehabt, es zu Ende zu bringen.
Er ist Gott sei Dank kein Märchenprinz, sondern mein ‘soulmate’ oder Seelengefährte. Und das ist mehr als ein Ehemann, mehr als ein Liebhaber, mehr als ich mir in meinen Teenagerjahren je erträumt habe. (LL)
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