Kinder der 30er und 40er Jahre erzählen
- titanja1504
- Jun 19, 2023
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Barbara Halstenberg: „Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt“. Die letzten Kriegskinder erzählen, 2021, Osburg Verlag, ISBN 978-3-95510-258-6
(DE) Was war schlimmer? Die Bomben oder der Hunger? Die Angst vor den Tieffliegern oder vor den Vergewaltigern der Mütter und Tanten? Der Anblick der verstümmelten Toten in den Straßen oder des zerstörten Zuhauses? Der Verlust von Familienmitgliedern oder der Verlust jedweder Geborgenheit? Eine grausliche Auswahl an leidvollen Erfahrungen! Aber das Schlimmste, da sind sich alle einig, ist der Krieg an sich.
Die Kindheit dieser Generation war geprägt vom Bombenkrieg, von Flucht und Vertreibung, vom Miterleben der Vergewaltigung ihrer Mütter oder Nachbarinnen, von den Erlebnissen in der Hitlerjugend und als Kindersoldaten im Volkssturm, von der Erziehung durch Nazi-Eltern oder durch Verfolgte, von der Anwesenheit von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, von der Vertreibung, von Kriegsende und Besatzung, von unbekannten Vätern und anderen Kriegstraumata.
In 16 Kapiteln widmet sich die Autorin diesen unterschiedlichen Schwerpunkten.
Einige der 100 Zeitzeugen, die als Kleinkinder, Schulkinder oder Jugendliche die Nazizeit, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Deutschland erlebt haben, ringen in ihren Erinnerungen um eine Art Gewichtung der gemachten Erfahrungen. Die Fülle an schlimmen Erlebnissen, an Gräueln, denen diese Generation in ihrer Kindheit ausgesetzt war, ist oftmals nur in einzelnen Anekdoten zu ertragen, sowohl für den Erzähler oder die Erzählerin wie auch für den Leser.
Barbara Halstenberg lässt in ihrem Buch diese über 80-jährigen Kriegskinder mit eigenen Worten zu Wort kommen. Wiederholungen, Stammeln, angefangene Sätze und Abbruch der Geschichten, Emotionen in Klammern…, all das schafft Bilder und Betroffenheit wie sie die Interviewerin selbst erlebte.
Es ist eine authentische Art des Erzählens, wie ich sie aus meiner Kindheit in den 50er und 60er Jahren kenne. Beim Lesen saß ich wieder bei meinen Großmüttern auf dem Sofa in der Wohnküche und forderte: „Oma, erzähl von früher!“ Ich bin Jahrgang 1953 und meine Großelterngeneration sind die Eltern der Kriegskinder. Meine Eltern, Jahrgang 1933, jedoch waren Kriegskinder.
Ja, die Interviewpartnerinnen und -partner der Autorin haben recht, auch ich habe bei den Erzählungen meiner Eltern nicht nachgefragt. Obwohl ich alles über die Erlebnisse meiner Großeltern wissen wollte, begnügte ich mich mit ein paar dünnen Anekdoten aus dem Erinnerungsfundus meiner Eltern.
Wenn ich jedoch lese, wie schlimm der Hunger für die Kinder zu ertragen war, bekommt der Satz meines Vaters, „Ich hab immer Hunger gehabt, immer Hunger!“, ein ganz anderes Gewicht. Ich kannte dieses Phänomen, dass mein Vater immer Hunger hatte. Das war nichts Besonderes. Nun weiß ich, was dahinter steckt. Nun würde ich gern nachfragen. Aber es ist zu spät.
Aufgewühlt hat mich auch so manche Erzählung, die von ungläubigem Auflachen begleitet wurde, obwohl das Erlebnis grauenhaft war.
In meiner Familie wurde auch über so manche Geschichte gelacht, die eigentlich zum Heulen war. Alle schütteten sich regelmäßig aus vor lachen, weil mein Vater als 10-Jähriger mutterseelenallein verschüttet worden war, aber ausgegraben wurde und meine Großmutter als erstes fragte: „Ist dein Radl kaputt?“
Während ich in den Geschichten des Buches trotz des Lachens das Trauma sofort erkennen kann, konnte ich es aufgrund des Lachens bei meinem Vater nicht.
Letzte Chance für Nachkriegskinder ihre Eltern zu begreifen
Obwohl meine Eltern tot sind, eröffnen mir die Zeitzeugen dieses Buches eine andere Perspektive auf die Erzählungen meiner Großeltern und Eltern. Das ist eine großartige unerwartete Auswirkung, für die ich sehr dankbar bin.
Barbara Halstenbergs Buch ist ein wichtiges Zeitzeugenprojekt. Meine Generation braucht diese Einsichten in die Erlebniswelt unserer Eltern, denen wir zumindest in unserer Jugend äußerst kritisch gegenüber standen. Es ist unsere letzte Chance, zu begreifen, wie sehr unsere Eltern durch ihre spezielle Kindheit geprägt wurden und uns wiederum prägten. Ob wir uns anpassten oder protestierten und genau das Gegenteil anstrebten, spielt keine Rolle. Unser Bezugspunkt ist die vorangegangene Generation mit all ihren Traumata und Verdrängungen.
Und uns sollte klar sein, dass auch unsere Generation, die Nachkriegskinder, als Zeitzeugen eine Aufgabe zu erfüllen hat.
Anleitung für Interviews
Barbara Halstenberg hat im hinteren Teil ihres Buches eine Anleitung für Interviews angefügt, die geeignet ist, den Erinnerungsschatz in Familien zu heben, bevor er für immer verschwindet. Viele dieser Ratschläge eignen sich nicht nur für Kriegskinder sondern auch für „Kinder des Kalten Krieges“. (TA)
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